Ich zucke nur mit den Schultern und merke dass es irgendwie nicht geht. Es geht nicht an, dass ich jemanden anschwärze der gar nichts gemacht hat. Auch wenn es für meine Beziehung dienlich wäre. Diesen letzten Schritt jetzt schaffe ich einfach nicht. Es ist, als hätte ich einen dicken Kloss im Hals und ich fühle, dass es mir nicht gut tun wird wenn ich das jetzt durchziehe. „Reiner, ich kann das nicht…“ stosse ich hervor und schaue ihn eindringlich an. „Das mit Hajo das ist nicht wahr.“ Reiner fällt vor Schreck ein Stück Brötchen aus dem Mund und stellt seinen Teller erst einmal weg. „Hey, hey, hey, mal langsam - jetzt erzählst du mir was Sache ist, ja?“ eifert Reiner mir kauend entgegen. Und so erzähle ich Reiner alles von Hajo und der Männerfreundschaft die er mit ihm hat und dass er später seinen Tod miterlebt und daran zerbricht. Auch unsere Beziehung hat das nicht ausgehalten und mit der Anmach-Lüge jetzt wollte ich die Freundschaft zerstören damit das Ereignis nicht eintritt.
„Du wolltest, dass wir uns nicht mehr sehen, ja? Reicht es nicht aus, den Abend umzugestalten an dem Hajo etwas passiert?“ bellt Reiner mir entgegen. „Nein, es reicht nicht aus. Vielleicht passiert es an einem anderen Tag oder in einer anderen Situation. Das Beste wäre gewesen wenn ihr keinen Kontakt mehr hättet. Minimal-Risiko sozusagen. Aber jetzt ist es ja egal, weil nun die Geschichte jetzt kennst. Und was du nun machst, liegt ganz alleine in deiner Hand“ entgegne ich etwas schuldbewusst.
Reiner steht auf, geht in die Küche, holt sich ein Bier und kommt wieder. Er setzt sich neben mich und fasst mir an die Schulter. „Das Beste ist, wenn wir uns nicht anlügen und über alles reden. Das ist das Beste – sonst nichts. Mach das nicht mehr, bitte. Lass uns reden über die Dinge und mache das nicht alleine aus mit dir, ja? Bei Hedy damals wollte ich es auch nicht, dass du ihr alles von der Zeitreise erzählst. Aber du hast mich ignoriert und hast einfach losgeplappert. Jetzt wolltest du mich auch wieder aussen vor lassen mit der Hajo- Sache. Ab jetzt hört das auf. Aber danke, dass du es nicht durchgezogen hast mit der Lüge. Wir schaffen das alles. Vertrau mir“ sagt er und ich lehne mich seitlich an seine Schulter. „Es tut mir leid Reiner. Ich wusste nicht wie ich es angehen sollte. Möglicherweise dachte ich du glaubst mir nicht oder hälst trotzdem den Kontakt“, murmele ich. Reiner scheint erleichtert einerseits und andererseits sehe ich ihm an, dass diese Situation ihm gezeigt hat, welche Macht ich eigentlich habe. Das generiert neue Ängste. Doch er bleibt still.
„Hmm, was machen wir jetzt mit Hajo und mit dir? Das Risiko ist jetzt ja wieder erhöht“ sage ich leise. „Nein, es ist nicht erhöht. Ich werde die Freundschaft relativ weit auslaufen lassen. Aber ich werde ihn nicht schlagartig absägen als hätte er die Pest. Wir sind gute Kumpels, ja und wir erzählen uns viel. Ich kann das nachvollziehen, dass wir in zwei oder drei Jahren ganz Dicke sind. Aber soweit wird es nicht kommen“ sagt Reiner und behält dabei aber seinen skeptischen Gesichtsausdruck.
Ich werde nachdenklich. Im Moment muss ich zugeben, dass er, ausser meinen eigenen Aussagen, keinen einzigen Beweis von mir hat, dass ich tatsächlich aus der Zukunft komme. Okay, ein paar Suchmaschinen sind auf dem Markt die ich genannt habe, aber so richtig scheint diese Information auch nicht zu reichen. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn die Skepsis immer wieder auftaucht. Ich muss das akzeptieren so wie es jetzt nun einmal ist. Den restlichen Abend reden wir nicht viel miteinander. Jeder für sich macht sich seine Gedanken über das, was wir verändern können in der Historie, aber vor allen Dingen was wir verschlimmern könnten. Und am Ende des Tages bin ich heilfroh, diese Lügengeschichte mit Hajo nicht durchgezogen habe und meine Entscheidung hoffentlich richtig war.
17. September 1995 – Version 1.0
Reiner hat Wort gehalten. Die Freundschaft zu Hajo läuft langsam aus. Eigentlich wollten sie gemeinsam eine Tour nach Frankreich machen, aber Reiner hat dies abgesagt. Ich merke zwar wie es ihm schwerfällt, aber andererseits kennen sich die beiden jetzt noch nicht so lange. Das macht es am Ende doch einfacher als zu einen späterem Zeitpunkt. Tomtom kommt gleich vorbei und wir wollen neue Daten abgleichen. Reiner, leger, in Jeans und Hemd holt sich wieder ein Bier aus dem Kühlschrank. Inzwischen stehen manchmal schon Flaschen statt Dosen darin. Er schaut um den Türrahmen des Wohnzimmers herum und ruft mir zu: „Meinst du wir sollen Tomtom zu „Netscape“ überreden?“, während er zwischen Türrahmen und dem Badezimmer hin- und herspringt um sich zu rasieren. Ich sitze gerade am Computer und durchforste das Netz nach Informationen.
„Ich habe nicht vor jemanden zu überreden. Es läuft anders als ich es kenne. Einiges läuft wie gehabt, anders nicht. Das wissen wir doch schon alles. Was wir nun machen ist wohl teilweise rein spekulativ“ entgegne ich. „Teilweise spekulativ? Ich würde eher sagen hundert Prozent spekulativ“ ruft Reiner zurück und lässt sich kurz blicken mit Rasierschaum im Gesicht.
Schon klingelt es und ich bleibe Reiner die Antwort schuldig. Einige Minuten später steht Tomtom im Türrahmen mit einem Stapel ausgedruckter Unterlagen unter dem Arm. Wir setzen uns an den kleinen Esszimmertisch und breiten unsere Sachen aus. Wir könnten uns theoretisch eine grössere Wohnung jetzt nehmen. Doch Reiner will das noch nicht. Er möchte eine kalkulierbare Stabilität und so passe ich mich einfach dem an. „Was von „Yahoo“ gehört?“ fragt mich Tomtom direkt und starrt mich erwartungsvoll an. „Nein, es gibt nicht wirklich Neues. Wir werden in einige Anbieter investieren die zeitgenau aufgeschlagen sind. Wir erhoffen uns mit denen die grösste Chance auf Erfolg.“ Tomtom kratzt sich am Kopf und versucht sich gerade hinzusetzen. „Allerdings ist die Sachlage ja ein wenig verändert. Jetzt wo andere Suchmaschinen auf den Markt sind, ist der ganze Markt doch beeinflusst. Meint ihr nicht? So kann doch jetzt euer Favorit am Ende auch eine Verlustnummer werden“ entgegnet er. Natürlich hat Tomtom Recht. Alles was anders verläuft kann auch das mir Bekannte beeinflussen. Reiner springt um die Ecke, jetzt fertig rasiert, und begrüsst den Freund per Handschlag.
„Wir ziehen es trotzdem durch“ sage ich und Reiner nickt zustimmend. „Wäre ja auch sonst ein Durchmarsch geworden. Scheinbar will das Universum es uns nicht zu leicht machen“ brummt Tomtom. Er ist richtig friedlich heute, auch wenn die Ergebnisse Abweichungen aufzeigen. Tomtom steht auf und zündet sich eine Zigarette an.
„Dann haben wir jetzt sozusagen Roulette mit einer erhöhten Gewinnchance? Kann man das so sagen?“ fragt Tomtom. Reiner und schenkt uns allen Kaffee nach. „Ja, so ist es. Wir denken dennoch, dass die Unternehmen die bekanntermassen erfolgreich waren in Anjas Ebene, es auch in dieser sind. Es ist zwar nur eine Annahme aber wir gehen das Risiko ein“ erklärt Reiner. „Ok, let´s go“ ist Tomtoms Kommentar. Reiner und ich schauen uns an. Bei alledem sind wir doch froh, dass Tomtom es relativ gefasst aufnimmt und vor allem nicht mehr sauer auf uns ist. „Netscape“ ist im August an die Börse gegangen und wir ziehen jetzt erst mal mit.
11. November 1995 – Version 1.0
Ich treffe mich mit Silvi im Internetcafe. Wir haben eine schöne Freundschaft geschlossen. Diese ist fast so ist, wie ich sie kenne. Silvi ist etwas anders, zugänglicher für Neues, aufgeschlossener für Veränderungen. Aber das liegt vielleicht daran dass sie zwanzig Jahre jünger ist. Jenny ist immer noch als Aushilfe bei uns tätig und wirklich eine ganz Nette. Schade, dass es nicht mit ihr und Tomtom funktioniert hat, denke ich mir. Silvi und ich stossen auf den Erfolg des Internetcafes an. „Und wie läuft es so zwischen dir und Reiner, alles in Ordnung?“ fragt sie. „Ja, es läuft gut und bald wohl werde ich an Familienplanung denken, wenn alles so weiter läuft.“ Silvi freut sich für mich und lächelt dann leicht. „Ja, ich habe auch jemanden kennengelernt. Er ist total nett und charmant. Du musst ihn unbedingt auch mal kennenlernen. Hier, schau mal, ich habe ein Bild dabei“ sagt sie und kramt ein kleines Passfoto aus ihrer Tasche hervor. Fast hätte ich mich an meinem Piccolo verschluckt. Das ist Dirk! Mein Ex aus Ebene 12´! Was hat der denn hier verloren? Also diese Zeitreisenummer hier wird langsam zur Arbeit und auch anstrengend, wenn ich über all das nachdenke. Nun, ist es jetzt zumindest für mich Fakt, dass ich mit ihm in dieser Ebene 93´ nicht zusammen komme. Die Wahrscheinlichkeit ist von meiner Seite aus zumindest auf hundert Prozent. Weiss dass das Universum etwa schon? Es ist wahrscheinlich, denn ich hätte nie einen abgelegten Freund von einer Freundin genommen. Und ausserdem weiss ich ja Dinge über diesen Dirk, die mich davon abhalten mit ihm in eine Beziehung zu gehen.
Doch bei aller Vernunft kann ich mich nicht bremsen. „Den kenn ich!“ rufe ich ihr entgegen. „Das ist ein Trinker, Alkoholiker. Einen ganz schlechten Griff macht man mit dem. Gratulation!“ platzt es aus mir heraus. Silvi starrt mich mit grossen Augen an. „Was? Du kennst den? Woher denn?“ fragt sie schnell. Ich erkläre ihr, dass eine Kollegin aus meinem ehemaligen Büro mit ihm letztes Jahr zusammen war. Im gleichen Moment fällt mir ein, dass es in dieser Ebene 93´doch gar nicht so sein muss. Vielleicht ist er hier gar kein Alkoholiker und Schläger und ich unterstelle ihm etwas. Doch Silvi gibt mir indirekt schon eine Antwort auf meine Frage. „Ja, der trinkt ganz schön viel. Das habe ich auch schon beobachtet aber nicht wirklich als ernstes Problem gesehen bis jetzt. Wir kennen uns noch nicht lange weisst du… Aber es ist seltsam, dass du eine Kollegin hattest die ihn kennt. Dirk habe ich nämlich in Frankfurt kennengelernt und nicht hier…“ fügt sie hinzu und schaut mich immer noch perplex an. In diesem Moment bereue ich es schon direkt, dass ich die Information herausgegeben habe.
Silvi schaut mich durchdringend an. Das war mir klar, dass ich selbst nun das Risiko der Ungereimtheit eingegangen bin. Die spontane Aktion eine Warnung auszuplaudern war einfach nicht durchdacht. Aber ich ignoriere diesen Schnitzer und antworte nicht auf diese indirekte Frage, sondern rede einfach weiter. Ich rate ihr an die Finger von ihm lassen. Jetzt habe ich Fahrt bekommen, nachdem ich erfahren habe dass er viel trinkt. Das bekannte Potential ist also wohl vorhanden. Silvi ist zwar noch leicht skeptisch aber mindestens doppelt so unversichert. Doch sie fragt nicht erneut nach wie sich meine Kollegin und er kennengelernt haben. Es schadet nicht wenn sie auf das Thema nun sensibilisiert ist. Ich fühle mich gut, so wie jemand der eine gute Tat getan hat. Dieses Mal hat die Zeitreise sogar sinnvolles vollbracht. Zufrieden mit mir selbst gönne ich mir einen Sherry. Silvi stellt keine weiteren Fragen mehr. In ihrem Kopf rattert es. Das sehe ich ihr an. Um weiteren peinlichen Fragen zu entgehen, lenke ich nun ab und bespreche nur noch geschäftliche Dinge mit ihr für den Rest des Abends. Zu Hause wieder angekommen, sehe ich Reiner in der Küche hantieren. Er macht sich was zu Essen. „Na, wie lange bist du schon hier? Gute Fahrt gehabt?“ Er ist auch erst seit ein paar Stunden aus Heidelberg zurück. „Ja, und bei dir?“ Ich erzähle die Geschichte mit Silvi und dabei staunt er nicht schlecht. „Ein Bad-Boy kann man wohl sagen, hmmm… Und dieser Dirk ist sozusagen mein Nachfolger, ja?“ fragt er interessiert. „Nein, nicht direkt, dazwischen gibt’s eine Lücke und dann später erst kommt Dirk.“ Es behagt mir gar nicht das Kapitel detailliert zu erzählen, zumal ich nicht zu viele Infos aus meiner Ebene 12´preisgeben will.
Zwischen Reiner und Dirk gab es noch Hans-Peter, aber den lasse ich jetzt mal unter den Tisch fallen, zumal die Liaison recht kurz gewesen war. „Ist schon der Hammer, wenn man so nachdenkt. Für mich ist es positiv zu wissen, dass du diesen Dirk nicht nochmal haben willst. Aber andererseits läuft alles doch anders als wir es uns gedacht haben. Tust du da was Gutes wenn du Silvi warnst? Ich bin mir bei alledem inzwischen nicht mehr so sicher wie am Anfang“ sagt Reiner. Ich gehe rüber ins Wohnzimmer und lasse mich in die Couch fallen. Reiner kommt mir mit dem gefüllten Essensteller nach und setzt sich auf die Couch. „Ich doch auch nicht. Dennoch habe ich für mich beschlossen nach meinem Gefühl zu handeln. Keiner hat eine To-do-Liste; niemand kennt die Regeln. Jeder sagt was anderes oder gibt es mehrere Möglichkeiten“ sage ich langatmig. Er schaut zu mir rüber während ich schlaff in dem Polster hänge.
„Meinst du, dass du nochmal zurückkommst in deine Ebene?“ fragt er mich. „Hmm, Reiner ich weiss nicht ob ich das überhaupt noch will, ehrlich gesagt. Wir können die Maya-Karten gerne tief in die unterste Schublade stecken. Das gibt vor dem Jahr 2012 ja sicher sowieso nichts. Für mich ist das hier die Chance! Und genaugenommen will ich dich nicht verlassen und wieder zurück. Wie oft habe ich verflucht, dass dieser Hajo aufgekreuzt ist und dass das alles passiert ist. Mindestens ebenso oft habe ich mir vorgestellt was aus uns geworden wäre ohne Hajo. Und nun habe ich Gelegenheit dazu. Und diese nutze ich“ erwidere ich. Darauf fällt Reiner nichts mehr ein was er noch sagen könnte. Ich behalte für mich, dass ich mittelfristig eine Familie plane die ich nie mit Reiner haben konnte.
10. April 1996 – Version 1.0
Wir haben es richtig gemacht. Wir sind unserem Gefühl gefolgt und haben in die Firmen investiert die zur richtigen Zeit auf den Markt gekommen sind. Es ist zwar noch etwas früh um eine runde Aussage zu machen, aber trotzdem sind wir zuversichtlich. Die Zahlen sehen gut aus. Sogar Mutter konnte ich ihre fünftausend Mark wieder zurückgeben. Sie lehnte zuerst ab, aber am Ende nahm sie es dann doch. Dadurch, dass wir nicht in alle mir bekannten Firmen investieren konnten, blieb der zu erwartende Gewinn überschaubar. Wir haben uns aber alle inzwischen damit angefreundet, dass die Dinge nicht so kommen wie ich sie in Erinnerung habe. Rechtzeitig vor der grossen Dotcom-Blase zum Millennium 2000/2001 ziehen wir sowieso alle vorher uns zurück – vorsichtshalber. In diesem Zeitstrang stürzen viele Internetfirmen ins bodenlose und es gibt einen kleinen Crash an der Börse. Doch soweit ist es noch nicht. Und wir drei jedenfalls sind dann mit den wichtigsten Dingen ausgestiegen und können den Verlust für uns vermeiden. Unser Internetcafe bekommt immer mehr Zulauf und rechne mir schon im Hintergrund aus wie lange das noch gut laufen wird.
Wir sitzen heute wieder bei Tomtom im „Bunker“ zur Lagebesprechung. „Wann willst du das Internetcafe schliessen?“ fragt Tomtom. „Sobald genug Schotter zusammen ist für eine Boutique. Und das dürfte nicht mehr lange dauern. In jedem Falle vor der Dotcom-Blase. Das wird jetzt noch eine gute Zeit laufen aber dann kommen auch die anderen Internetcafes hoch. Wir werden Konkurrenz kriegen und die Zahl derer, die sich privat einen Computer zulegen, steigt enorm. Die Sache ist in ein bis zwei Jahren ausgelutscht. Die Kunden, die wir bis jetzt für Webdesign und Programmierung generiert haben, die kannst du ja übernehmen“ sage ich und schaue zu Tomtom. Tomtom denkt nach und gibt erst einmal keine Antwort. Doch Reiner schaut mich fragend an. Das mit der Boutique hört er heute zum ersten Mal. „Ich dachte du willst in Internet machen“ brummt Reiner leicht säuerlich. „Nun, ich kann ja auch nur das machen wovon ich Ahnung habe. Also Büro oder Boutique. Trotz Zeitreise bin ich ja nun kein Informatiker oder Nobelpreisträger geworden“ sage ich und zucke mit den Schultern. Reiner gibt einen Seufzer ab. „Mit dem Vermarkten von meinem Wissen können wir ja nur auf Zufallstreffer hoffen. Und in der Zeit, bis wir genug Treffer gelandet haben um ein Vermögen zu anzusammeln, muss ich ja auch von etwas leben“ füge ich noch weiter hinzu. Reiner geht nachdenklich auf und ab, zündet sich bereits die zweite Zigarette an.
Irgendetwas scheint ihm an meinen Plan zu stören, doch er sagt nichts weiter dazu. Tomtom hingegen hat von sich aus diverse Programmierkurse belegt und steht inzwischen gut im Internetgeschäft. Er hat eine eigene kleine Agentur gegründet und eine Webseite auf der seine Dienste anpreist. Das alles ergänzt er mit einem Onlineshop in dem er Hard- und Software verkauft. Das habe ich ihm empfohlen und er fährt gut damit. Es fühlt sich so an als wäre es genau das was er gerne machen möchte. Er meldet sich aber nun auch endlich zu Wort und findet meine Idee gut. „Lass uns das Internetcafe schliessen, wenn du meinst dass die Zeit reif dafür wäre. Es ist klar, dass es, wenn die Entwicklung so läuft wie du gesagt hast, nicht mehr lange Big Money bringen wird. Auch Reiner sieht dies endlich ein. Vielleicht dachte er ich mache das Internetcafe und dann fahre ich wieder brav in die Nichtverändern- Spur zurück. Aber da hat er sich getäuscht. An diesen Tag jedoch reden Reiner und ich nicht mehr weiter über das Thema.
2. Mai 1996 – Version 1.0
Silvi hat mich angerufen und möchte mich unbedingt dringend zu einer Krisensitzung treffen im Internetcafe. Ich sehe sie durch das Fenster aus dem Wagen steigen. Sie kommt herbei gestürmt mit einem wirklich bissigen Gesichtsausdruck. Ihre Wangen sind schon rot angelaufen vor Erregung und ihr Gang erinnert mehr an Nordic- Walking als normales Gehen. Etwas Nettes will sie mir auf jeden Fall nicht sagen. Ich bin für alles gewappnet und bereite mich innerlich vor. Ohne Begrüssung packt Silvi mich am Arm und schaut mich gar nicht so freundlich an. „Du erzählst mir jetzt von Dirk und was du über ihn weisst. Dieses Mal erwarte ich die Wahrheit Madame!“ knurrt sie mich leise an damit die User an den Rechnern nicht alles mitbekommen. „Komm“, sage ich und lotse sie unauffällig in das das Hinterzimmer. Dort angekommen geht es auch schon weiter. „Und fang bloss nicht wieder mit dieser vermeintlichen Kollegin oder Freundin an!“ Mein Kopf brummt schon so von der ganzen Technomusik aus dem Internetcafe und jetzt kommt diese Geschichte noch obenauf. Ich kann gar nicht spontan antworten, mein Gehirn rattert und sucht eine Lösung. Mein Gewissen! Mein Bauchgefühl! Ich wollte dass alles positiv in dieser Ebene 93´endet. Das waren meine Worte gegenüber Reiner. Und jetzt: stehe ich da und stricke immer mehr Lügengerüste um mich herum. Auch auf die Gefahr hin, dass sie mich anschliessend nur noch verachtet und nicht mehr mit mir befreundet sein will, entschliesse ich mich spontan für die Wahrheit. Dabei denke ich jetzt weder an Reiner noch an Tomtom oder überhaupt daran Rücksprache mit beiden zu halten. „Pass auf Silvi, das hört sich jetzt abgefahren an, aber ich will dir die Wahrheit sagen. Ich komme nicht aus dieser Dimension. Es ist etwas kompliziert. Sagen wir es so: ich komme aus einer anderen Dimension, die ähnlich ist wie das Leben hier“ sage ich ihr leicht zerknittert ohne sie dabei anzuschauen.
Ich warte auf das Geschrei, diverse Schimpfworte und die Androhung, dass unsere Freundschaft nun endgültig erledigt sei. Doch Silvi schaut mich nur mit den suchenden Augen an. So als ob sie in meinem Gesicht lesen will. Sie hält noch immer meinen Arm fest, damit ich wohl nicht weglaufe. „Hmm, das ist alles verrückt… ich hoffe, dass nun keine Märchen aufgetischt werden. Abgefahrene Geschichten kannst du ja ganz gut. So, dann erkläre mir das mal näher mit diesen Dimensionen und so“ befiehlt sie und lässt dabei auch meinen Arm wieder los. Sie setzt sich mit dem Stuhl mir gegenüber, so dass jede Fluchtmöglichkeit verbaut ist. Etwas irritiert über ihre Reaktion folge ich der Anweisung. Und so erzähle ich ihr alles von meinem Zeit- und Dimensionsriss und warum ich von Dirk weiss. „Warum glaubst du mir?“ frage ich sie ungläubig. „Ich glaube dir nicht. Denk dir das bloss nicht. Ich habe nur ein irritierendes Gefühl in der Sache. Und es ist Wahnsinn. Seit vielen Wochen habe ich ein und denselben Traum. Ich habe davon geträumt, dass du aus der Zukunft gekommen bist und ich habe dort dein Leben gesehen. Von deinem Leben in Lörrach und alles. Und auch den Tag 21.12.2012 und was da passiert ist. Von dir und dieser Geschichte die du mir jetzt erzählt hast. Doch ich habe das ignoriert und jetzt erzählst du mir das hier. Total gruselig ist das“ sagt Silvi und schaut mich noch sehr unversichert mich an. „Das kann doch kein Zufall sein so was“ fügt sie noch hinzu. Ich biete ihr an mit Reiner, Tomtom und Tante Hedy zu reden, die von der Sache wissen. Gleichzeitig fühle ich dabei schlagartig unwohl. Die drei wissen ja von nichts. Ich hoffe nur, das Silvi nicht wirklich mit ihnen reden will. „Und der Dirk, ja Dirk mit dem war ich zusammen und nicht irgendeine Kollegin“ sage ich.
Silvi nickt nur. Scheinbar weiss sie das sowieso aus ihren Träumen bereits. „Woher wusstest du dass meine Geschichte mit Dirk nicht stimmt?“ frage ich nach. „Wir hatten einen Mörderstreit und dabei habe ich ihm deine Geschichte auf den Kopf zugesagt. Dirk war in den letzten Jahren in den USA gewesen und konnte somit hier gar keine Kontakte gepflegt haben. Ausserdem hatte ich sowieso ein ungutes Gefühl bei deiner Erzählung und dann die Träume natürlich“ entgegnet sie. Silvi ist nun still und sie starrt mich distanziert an. „Ich bin kein Alien; schau mich nicht so an als sei ich irre! Das stimmt alles. Wir können es alle nicht erklären aber es ist nun mal so“ antworte ich müde. Denn ich bin dessen wirklich müde geworden. Davon, es immer wieder zu erzählen: von der Geschichte, die so unglaubwürdig ist und dann die Reaktion abzuwarten. Immer muss ich in Vorleistung gehen, dass man mir Vertrauen schenkt und das Gesagte glaubt. Aber ich kann nie ganz sicher sein ob es wirklich so ist. Und jetzt wieder dasselbe Spiel mit Silvi. „Hast du deshalb deinen Bürojob gekündigt und das Internetcafe aufgemacht?“ fragt Silvi mich etwas unverhofft. Ich antworte nicht schnell genug denn Silvi fährt fort. „Du hast es gewusst was kommt. Niemand, niemand hier bei uns wirft den sicheren Job weg und versucht so etwas Unsicheres. Schon gar nicht mit den paar Pfennig Startkapital.“ Ich fühle mich jetzt in eine Ecke gedrängt in die ich gar nicht wollte. Es ging doch zuerst nur um Dirk und das ich sie schützen will. Und nun deckt sie meine ganze Zeitreise auf und erkennt auch noch das Potential was dahinter steckt. Ich versuche alles zu entkräften.
„Es ist nicht so wie du denkst. Denn es ist ja ein Paralleluniversum und nicht meine exakte Vergangenheit. Nur eine ähnliche. Wir haben auch schon viel Geld verbrannt in Börsengeschichten, weil einfach andere Dinge passiert sind als die, die ich kannte. Die Anomalien, wie Tomtom zu sagen pflegt. Die können wir nicht berechnen. Sonst wären wir alle schon Millionäre. Aber der Lebensplan sieht das wohl nicht vor.“ Nun will sie wohl mehr wissen, denke ich mir und innerlich graust es mir schon davor Einzelheiten erzählen zu müssen. Doch Silvi sitzt immer noch angespannt mir gegenüber wie ein Lehrer der mir eine Strafaufgabe aufgeben will. Ich ergreife die Gelegenheit bevor sie antworten kann. „Silvi, lass stecken. Für heute reicht es mir. Ich habe keinen Bock mehr mich zu erklären. Glaube es oder lasse es sein. Ist deine Sache. Ich war mit Dirk zusammen und das ist die Info die du ja haben wolltest. Punkt, Schluss und Aus. Und über dieses Thema oder die Zeitreise und das alles möchte ich auch nicht mehr reden“ sage ich ihr und stehe dabei auf. Ich lasse sie einfach da sitzen und gehe nach vorne ins Internetcafe. Mir reicht es wirklich und jetzt genehmige ich mir erst mal ein Glas Prosecco auf diesen Schreck in der Abendstunde.
Ja, ich weiss wie abgefahren sich das alles anhören würde wenn mir jemand eine solche Geschichte erzählt. Aber das ist nun mal die Wahrheit. Was soll ich denn noch tun? Was denn? So nun hat sie die Geschichte, die Wahrheit und kann nun damit machen was sie möchte. Aber wohl fühle ich mich jetzt nicht mehr. Wieder ein Mitwisser! Ich war unvorsichtig und irgendwann muss ich das den beiden Jungs beichten. Ich hoffe nun, dass sie mir vielleicht doch nicht glaubt. Verrückt! Zuerst soll sie es glauben und dann wieder nicht. Gedrückt und nicht wirklich entspannt mache ich mich auf den Weg nach Hause.
1. Mai 1996 – Version 1.0
Reiner und Tomtom habe ich nichts von der Begegnung mit Silvi erzählt. In der Nachschau habe ich ein schlechtes Gewissen was immer noch sehr präsent ist. Jetzt bin ich gerade im Internetcafe und überprüfe unser Getränkesortiment gedankenversunken. „Palim-Pa-
lim-pa-lim“ ruft eine Stimme um die Türglocke zu simulieren. Ich schaue auf. Silvi steht im Raum und kommt langsam auf mich zu. Aha, jetzt kommt sie angekrochen. Mal sehen was sie zu sagen hat. Sie setzt sich in eine Sitzgruppe und wartet auf mich. Ich gehe zu ihr.
„Na, wie geht’s?“ fragt sie mich unverbindlich. „Na, komm was willst du noch von mir? Raus mit der Sprache“ fordere ich. „Ich möchte gerne was von Dirk wissen oder besser gesagt von dir über Dirk wissen“ sagt sie. Ich grinse leicht. „Ist das ein Test ob ich ihn wirklich kenne oder eine Zeitreise-Echtheitsprüfung?“ entgegne ich etwas ironisch. „Ich kann es dir nicht sagen. Aber möglicherweise stimmt das was du über Dirk gesagt hast. Und das lässt mich glauben dass du ihn kennst. Wo oder wann dies auch immer gewesen sein mag“ murmelt sie leicht verlegen. Irgendetwas stimmt mit ihr nicht. D