Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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X.

Jenny beugte den Kopf über Gert Grams Chrysanthemenstrauß:

„Ich bin sehr froh, daß du meine Bilder so gut findest!“

„Ja, ich mag sie gern. Besonders das Bildnis von dem jungen Mädchen mit den Korallen.“

Jenny schüttelte den Kopf.

„Es ist so wunderschön in den Farben,“ sagte Gram wieder.

„Ja. Es ist aber unzusammenhängend. Der Schal und das Kleid — es hätte ganz anders durchgearbeitet sein müssen. Aber gerade, als ich es malte, kam so viel anderes dazwischen, sowohl für Cesca als für mich,“ sagte sie leise.

Nach einer Weile fragte sie:

„Hört ihr etwas von Helge? Wie geht es ihm?“

„Er schreibt nicht viel. Augenblicklich arbeitet er an seiner Doktorabhandlung, du weißt, zu der er die Vorarbeiten in Rom machte. Und er sagt, es ginge ihm gut.“

Jenny nickte.

„An seine Mutter schreibt er gar nicht. Und das kränkt sie natürlich bitter. Das Zusammenleben mit ihr ist nicht gerade angenehmer geworden. Ja, die Arme — es geht ihr übrigens sicher recht schlecht augenblicklich.“

Jenny trug die Blumen zu ihrem Schreibtisch hinüber und begann sie zu ordnen.

„Ich freue mich jedenfalls, daß Helge wieder arbeitet. Gott weiß, er hatte keine Ruhe dazu diesen Sommer.“

„Dir ging es doch genau so, du Aermste.“

„Ja, allerdings. Aber das Schlimmste ist, Gert, daß ich noch immer nicht wieder angefangen habe — noch nicht. Und ich bin auch durchaus nicht aufgelegt. Ich hatte ja doch die Absicht, diesen Winter radieren zu lernen, aber —.“

„Es ist selbstverständlich, Jenny, daß eine solche Enttäuschung Zeit braucht, ehe sie überwunden ist. Glaubst du nun nicht, daß deine Ausstellung dir neue Arbeitslust geben wird, da sie doch so geglückt ist und freundliche Aufnahme gefunden hat? Du hast ja bereits ein Angebot auf dein Aventinerbild bekommen — willst du es annehmen?“

Sie zuckte die Schultern:

„Ich muß ja. Zu Hause brauchen sie immer Geld, wie du weißt. Außerdem — ich muß wegreisen. Ich sehe, daß es nicht gut für mich ist, zu Hause zu sein.“

„Du willst also fort.“ Gram sagte es leise und sah nieder. „Ja natürlich. Das ist ja auch verständlich.“

„Ach, die Ausstellung!“ Jenny warf sich erregt in den Schaukelstuhl. „Alle meine Bilder — die neuesten jedenfalls ... Es ist eine Ewigkeit her, seit ich daran arbeitete. Das Aventinerbild — die Studie beendete ich an jenem Tag, als ich Helge zum ersten Male sah. Das Bild malte ich, während wir zusammen waren — auch das von Cesca. Und das von der Stenerstraße unten bei dir, während ich auf ihn wartete. Seitdem habe ich nichts getan. O Gott! — So, Helge arbeitet also wieder ...“

„Es ist klar, liebes Kind, daß so etwas tiefere Spuren bei einer Frau hinterläßt —.“

„O gewiß. Bei einer Frau. Das ist ja gerade das ganze Elend. Man geht umher, mürrisch und faul — erzfaul! Um einer Liebe willen, die nicht einmal vorhanden ist!“

„Liebe Jenny,“ sagte Gram ruhig. „Ich finde das so natürlich. Es muß seine Zeit haben, bis du ganz hindurch bist — und auf der anderen Seite drüben. Man kommt nämlich immer auf die andere Seite, siehst du, und dann begreift man, daß man ein solches Erlebnis nicht umsonst gehabt hat. Auf die eine oder andere Art kann man immer seine Seele mit solchen Erfahrungen bereichern.“

Jenny lachte kurz auf, antwortete aber nicht.

„Du hast trotzdem sicher viele Erinnerungen aus jener Zeit, die du nicht missen möchtest — nicht wahr? Die Erinnerung an all die glücklichen, warmen Sonnentage mit deinem Freunde, dort unten in dem wunderbaren Lande, Jenny?“

„Willst du mir nicht erklären, Gert, woher du weißt, daß man seine Seele mit derartigen Erlebnissen bereichert, wie du sagtest. Hast du das aus eigener Erfahrung?“

Er fuhr zusammen, schmerzlich berührt und betroffen von ihrer Brutalität. Es währte einen Augenblick, ehe er ihr Antwort gab:

„Das ist etwas anderes, Jenny. Die Erfahrungen, die der Sünde Lohn sind — du verstehst doch, ich meine nicht die Sünde in orthodoxem Sinne, ich meine die Folgen einer Handlungsweise, die eigenem besserem Wissen zuwiderläuft — die sind immer bitter. Nun, immerhin glaube ich, zuguterletzt haben meine Erfahrungen vielleicht meinen inneren Menschen reicher und tiefer gemacht, als ein kleineres Unglück es vermocht hätte — da mein Geschick mir ja nicht vergönnt hatte, das große Glück zu erleben. Einmal in meinem Leben wird es in vielleicht noch höherem Maße der Fall sein. Ich habe das Gefühl, Jenny, als könnten diese Erfahrungen mich möglicherweise das rechte Verständnis dafür lehren, was der Sinn des Lebens eigentlich ist —. Aber in bezug auf dich meinte ich etwas anderes damit. Obwohl dein Liebesglück sich als unbeständig herausstellte, so war es die Zeit über, die es währte, rein und schuldlos — soweit du vertrauensvoll und ohne Hintergedanken daran glaubtest und niemanden betrogst außer dir selbst.“ —

Jenny schwieg still. Ein Sturm von Widerspruch wogte in ihr, aber sie hatte das dunkle Gefühl, als ob Gram sie nicht verstehen würde.

„Erinnerst du dich nicht der Worte Ibsens:

‚Und segelt’ ich auch meine Schute auf Grund,

So war es doch herrlich zu fahren —‘“

„Oh, daß du diese kindischen Worte in den Mund nehmen magst, Gert. Die meisten von uns haben zuviel Verantwortungsgefühl und Selbstachtung, um diesen Ausspruch gelten zu lassen. Laß mich schiffbrüchig werden und untergehen, ich werde versuchen, nicht mit der Wimper zu zucken, wenn ich nur die Gewißheit habe, daß ich nicht selbst meine Schute auf Grund fuhr. Soviel ich weiß, ziehen die besten Seeleute es vor, selber mit ihrem Schiff unterzugehen, wenn sie die Schuld an seinem Untergange tragen.“

„Ich bin freilich der Ansicht, daß man alle Widerwärtigkeiten nur sich selber zuzuschreiben hat — jedenfalls in letzter Instanz.“ Gram lächelte. „Aber daß man meistens auch imstande sein wird, aus seinem Unglück selber geistige Werte zu holen —.“

„Ich gebe dir recht im ersten Punkte. Auch im letzten. Aber nur insoweit, als das Unglück nicht darin besteht, daß die Selbstachtung herabgemindert wird.“

„Aber, kleine Jenny, diese Sache solltest du wirklich nicht zu schwer nehmen. Du bist ja ganz aufgebracht und bitter. Ja, ich besinne mich, was du an jenem Tage sagtest, als Helge reiste. Aber, Herrgott, Kind, du meinst doch nicht im Ernst, jede Verliebtheit im Entstehen ersticken zu müssen, falls du nicht vom ersten Augenblick dafür einstehen kannst, daß das Gefühl bis zum Tode dauert, alle Widrigkeiten erträgt, zu allen Opfern bereit ist und die Seele des Geliebten wie in einer Vision erfaßt und versteht, ihre geheimnisvollsten Tiefen beleuchtet, so daß eine spätere Enttäuschung ausgeschlossen ist?“

„Doch,“ sagte Jenny heftig.

„Hast du das jemals selbst empfunden?“ fragte Gert Gram leise.

„Nein, aber ich weiß es dennoch. Ich habe immer gewußt, daß es so sein müßte.

Als ich aber achtundzwanzig Jahre alt geworden und noch immer alte Jungfer war, als ich mich danach sehnte, zu lieben und geliebt zu werden, als dann Helge kam und sich in mich verliebte, da legte ich all meine Forderungen an mich selbst und meine Liebe beiseite und nahm, was ich bekommen konnte — natürlich bis zu einem gewissen Grade in gutem Glauben. Es wird schon gehen, dachte ich, es geht sicher, aber die innerliche vertrauende Gewißheit, daß es gehen würde, weil es anders nicht möglich war, die hatte ich nicht.

Ich will dir erzählen, was mein Freund Heggen hier eines Tages zu mir sagte. Er verachtet die Frauen redlich und rechtschaffen — und er hat Recht. Wir, wir haben nicht die Selbstachtung, und außerdem sind wir so träge, daß wir niemals im Ernste entschlossen sind, uns unser Leben und unser Glück selber zu zimmern, indem wir arbeiten und kämpfen. Insgeheim hoffen wir beständig darauf, daß ein Mann kommen und uns das Glück bescheren werde, so daß wir jeder Anstrengung überhoben seien. Die Weiblichsten unter uns, die nur Müßiggang, Putz und Vergnügen im Sinne haben, hängen sich dem Manne an den Hals, der ihnen das in reichstem Maß verschaffen kann. Ist aber wirklich die eine oder andere darunter, die wirklich menschlich fühlt und danach strebt, ein fester und feiner Mensch zu werden, und ernstlich dieses Ziel verfolgt, so lebt doch im Unterbewußtsein die Hoffnung, daß ein Mann ihr auf halbem Wege begegne und ihr mit seiner Liebe helfe, leichter zum Ziele zu gelangen. Wir können wohl eine Weile arbeiten, durchaus ehrlich und ordentlich. Auch Freude an der Arbeit empfinden. Aber in aller Heimlichkeit warten wir auf eine größere Freude, als wir sie mit unserer ehrlichen Mühe erkämpfen können, auf etwas, das wie ein Geschenk zu uns kommen soll —. Niemals werden wir Frauen dahin gelangen, daß wir die höchste Befriedigung in unserer Arbeit finden.“

„Meinst du, die Arbeit allein genügt einem Manne? Niemals!“ sagte Gram ruhig.

„Bei Gunnar zum Beispiel ist es der Fall. Du kannst dich darauf verlassen, er wird immer wissen, den Frauen in seinem Leben den rechten Platz anzuweisen — als Bagatellen.“

Gram lachte.

„Wie alt ist eigentlich dein Freund Heggen? Ich will um des Mannes Willen hoffen, daß er mit der Zeit ein wenig anders auf das Ausschlaggebende im Leben blicken wird.“

„Ich aber nicht,“ sagte Jenny heftig. „Und ich will hoffen, auch ich lerne einmal, diesem Liebesunwesen seinen rechten Platz anzuweisen —.“

„Herrgott, Jenny, du sprichst — ich hätte beinahe gesagt, wie du’s verstehst, aber du bist klüger, das weiß ich.“ Gram lächelte schwermütig. „Soll ich dir ein wenig erzählen, was ich von der Liebe weiß, Kleines? Glaubte ich nicht daran, wie sollte ich dann die kleinste Spur von Glauben an die Menschen haben — und an mich selbst? Meinst du etwa, nur ihr Frauen findet das Leben sinnlos, fühlt euch im Herzen kalt und leer, wenn ihr nichts anderes habt, das ihr lieben könnt als eure Arbeit — nur eine Ausstrahlung eures Selbst — nichts anderes, auf das ihr euch verlassen könnt! Glaubst du, es gibt eine einzige Seele, die nicht Stunden kennte, in denen sie an sich selber zweifelt? Nein, Kind, man braucht einen anderen Menschen, bei dem man sein Bestes, seine Liebe und sein Vertrauen gleichsam deponiert, und sieh, auf diese Bank muß man sich verlassen können. Wenn ich dir sage, daß mein eigenes Leben seit meiner Verheiratung eine Hölle gewesen ist, so brauche ich nicht zu starke Worte. Daß ich es schließlich doch ausgehalten habe, liegt zum Teil daran, daß ich von dem Gedanken ausging, Rebekkas Liebe entschuldige sie auf eine Art. Ich weiß, was sie jetzt fühlt: eine niedrige und rohe Freude an ihrer Macht, mich zu peinigen und zu demütigen, Eifersucht, Verbitterung, ein Zerrbild, aus betrogener Liebe entstanden. Verstehst du nicht, daß ich daran eine Art Befriedigung meines Gerechtigkeitsgefühls erblicke? Ein Grund für mein Unglück ist vorhanden. Ich betrog sie, als ich ihre Liebe entgegennahm ohne die Absicht, ihr eine ganze Liebe zurückzugeben, mit der heimlichen Berechnung, ihr einige Brocken geben zu können, Bettelpfennige der Liebe, während sie mir das Beste bot. Straft aber das Leben so unbarmherzig eine jede Versündigung gegen das Heiligtum der Liebe, so ist das ein Beweis für mich, daß sie das Allerheiligste im Leben ist und daß das Leben denjenigen, der seiner eigenen Liebessehnsucht treu bleibt, mit der reinsten und schönsten Seligkeit belohnen wird. Ich habe dir einmal von einer Frau erzählt, die ich lieben lernte als es zu spät war. Sie hatte mich geliebt, seit wir Kinder waren, ohne daß ich darauf geachtet hatte oder mir etwas daraus machte. Als sie hörte, daß ich heiratete, nahm sie einen Mann, der darauf schwor, daß sie ihn dadurch erretten und aufrichten könnte. Ja, ich weiß, du spottest über derartige Rettungsversuche. Aber ich sage dir, Kind, du kannst nicht urteilen, ehe du nicht den Mann, den du mit deiner ganzen Seele liebst, in den Armen einer anderen gewußt hast, so daß dein eigenes Leben dir wertlos erschien und ehe du nicht eine verirrte Menschenseele darum betteln hörst, sie aus einem wertlosen Leben zu erretten. Nun, Helene wurde unglücklich, und ich ebenfalls. Wir trafen uns wieder und verstanden uns, es kam zu einer Aussprache. Was die Menschen unter Glück verstehen, das widerfuhr uns nicht, und dennoch —. Beide waren wir durch Bande gefesselt, die wir nicht zu brechen wagten. Ich gestehe, als meine Hoffnung, sie einstmals zum Weibe zu erhalten, langsam, langsam hinstarb, änderte sich meine Liebe. Aber noch immer leuchtet wie das herrlichste Kleinod meines Lebens die Erinnerung an sie, die jetzt weit fort in einem anderen Weltteil dafür lebt, ihren Kindern die Last zu erleichtern, die das Leben mit einem Vater bedeutet, der umhergeht, vom Trunk zerrüttet, wie ein Wrack. Um ihretwillen habe ich all diese Jahre hindurch an meinem Glauben an Reinheit, Schönheit und Kraft der Menschenseele festgehalten — und an meinem Glauben an die Liebe. Ich weiß, daß die Erinnerung an mich der Frau die geheimnisvolle Kraft gibt, weit drüben jenseits der Meere zu kämpfen und zu dulden. Denn sie liebt mich heute wie in unserer Kindheit und glaubt an mich, an mein Talent, meine Liebe und daran, daß ich eines besseren Schicksals würdig gewesen sei. Aber so bin ich ihr doch heute noch etwas, nicht wahr, Jenny?“

Sie erwiderte nichts.

„Das Glück bedeutet ja nicht nur, geliebt zu werden, Jenny. Der größte Teil des Glückes ist — zu lieben.“

„Es ist doch gewiß nur ein geringes Glück, Gert, zu lieben, wenn man nicht wieder geliebt wird.“

Er schwieg lange und sah nieder. Bis er fast flüsternd sprach:

„Groß oder klein — es ist ein Glück, ein Menschenkind zu kennen, von dem man nur Gutes denkt. Eines, um dessentwillen man zu sich selber spricht: Herrgott, laß mich sie glücklich sehen, denn sie verdient es, sie ist ja rein und schön, warm und fein, klug und gut. So daß man beten kann: Gott, gib ihr alles, was ich nicht besaß. Ich halte es für ein Glück, kleine Jenny, daß ich so für dich beten kann —. Nein, es ist kein Grund, deswegen ängstlich aufzusehen, Kleines —.“

Er hatte sich erhoben, sie stand ebenfalls auf und machte eine Bewegung, als fürchte sie, er werde sich ihr nähern. Gram hielt inne, er lachte leise:

„Wie konntest du etwas anderes denken, solch kluges, kleines Mädchen wie du. Jenny, ich glaubte, du hättest es gefühlt, lange, ehe ich es selbst recht gewußt —. Konnte es denn anders kommen? Mein Leben neigt sich jetzt seinem Ende zu, dem Alter, der Schwäche, der Finsternis, dem Tode. Schon weiß ich sicher, alles, wonach ich mein Leben lang mich gesehnt — ich erlange es nie. Da begegne ich dir. Mir ist, als seiest du die herrlichste Frau, die ich je getroffen. Du strebst nach alledem, wonach ich einst gestrebt, nach dem Ziele, das ich mir gesetzt hatte. Konnte mein Herz anders als inbrünstig flehen, Gott, führ sie zum Ziele, Gott, hilf ihr, laß sie nicht stranden, wie ich gestrandet bin —. Und dann warst du so lieb gegen mich, Jenny. Du kamst dort hinunter in meine Höhle, du erzähltest von dir selbst und hörtest mir zu, du hattest so viel Verständnis, deine herrlichen Augen waren voller Mitgefühl und so mild und warm —. Aber Herrgott, weinst du?“

Er ergriff ihre Hände und preßte seinen Mund darauf.

„Das darfst du nicht, Jenny. Du darfst nicht so weinen; warum weinst du? Du bebst ja —. Worüber weinst du nur?“

„Ueber alles,“ schluchzte sie.

„Setz dich — so.“

Er lag vor ihr auf den Knien und eine Sekunde senkte er seine Stirn auf ihren Schoß. „Du darfst nicht meinetwegen so weinen, hörst du? Um nichts auf der Welt möchte ich meine Liebe zu dir hergeben. Mein geliebtes Mädchen, hast du einmal einen Menschen geliebt und hinterher gewünscht, es wäre nie geschehen? — Dann hast du dennoch nicht geliebt, das, kannst du mir glauben, ist wahr. Jenny, ich möchte das nicht missen, was ich für dich fühle, nicht um mein Leben! Doch auch um deinetwillen sollst du nicht weinen. Du wirst glücklich werden, das weiß ich. Von allen Männern, die dich lieben werden, wird eines Tages einer, wie jetzt ich, vor dir liegen und sagen, das ist das Leben, so vor deinen Füßen liegen zu dürfen, und du wirst selber glauben, das sei das Leben. Dann wirst du begreifen, daß so das Glück aussieht; so mit ihm zu sitzen, und sei es in der armseligsten Hütte, eine einzige kurze Ruhestunde lang nach einem Tage grauester, schwerster Mühsal —. Weit weit größeres Glück ist es dir dann, als wenn du die größte Künstlerin wärest, die gelebt hat, als wenn du all das erreichtest, was man an Ehren und Berühmtheit erreichen kann. Daran glaubst du selber auch, nicht wahr?“

„Ja,“ flüsterte sie unter Tränen.

„Und du sollst nicht fürchten, daß das Glück dir nicht zuteil werden könnte. — Nicht wahr, Jenny, die Sehnsucht fühlst auch du, nachdem du gekämpft, um ein guter und tüchtiger Mensch und ehrlicher Künstler zu werden, die Sehnsucht, einem Manne zu begegnen, der dir sagt, dein Kampf war recht, und der dich darum lieb hat?“

Jenny nickte. Gram küßte ehrfürchtig ihre Hände.

„Du bist ja schon so gut und fein, stolz und herrlich. Ich sage es dir, und eines Tages wird ein Mann, der jünger und besser und stärker ist als ich, das Gleiche sagen und du wirst froh werden, ganz froh. Bist du nicht ein ganz klein wenig glücklich darüber, daß ich sage, du seiest das beste, liebste und wunderbarste Mädchen auf der Welt? Blick mich an, Jenny. Kann ich dir nicht eine kleine Freude machen, wenn ich dir sage, ich glaube, du wirst des Lebens reichstes Glück kosten dürfen, weil du es verdienst?“

Sie blickte auf sein Antlitz nieder und versuchte ein schwaches Lächeln. Dann senkte sie den Kopf und strich mit den Händen über sein Haar:

„O Gert — o Gert — ich kann doch nichts dafür! Ich wollte dir ja nicht wehe tun. Ich kann nichts dafür — nicht wahr?“

„Darüber solltest du nicht traurig sein. Kleines — ich habe dich lieb, weil du dein Ziel, nach dem du strebst, ja schon erreicht hast, weil du so bist, wie ich einmal hatte sein wollen —. Du darfst nicht traurig sein, selbst wenn du meinst, du hättest mir Leid zugefügt. Es gibt Leiden, die gut sind — gesegnet gut, glaube mir.“

Sie fuhr fort, leise zu weinen.

Nach einer Weile flüsterte er:

„Darf ich hin und wieder zu dir kommen —? Wenn du traurig bist, kannst du mich da nicht rufen lassen? Ich will gern versuchen, ob ich nicht meinem kleinen Mädchen ein wenig helfen kann, sprich, Jenny —?“

„Ich wage es nicht, Gert.“

„Liebe kleine Freundin, ich bin ja ein alter Mann, könnte dein Vater sein.“

„Deinetwegen — meine ich. Es ist nicht recht von mir deinetwegen.“

„O doch, Jenny. Meinst du, ich dächte weniger an dich, wenn ich dich nicht sähe. Ich möchte dich ja nur sehen, mit dir sprechen, versuchen, dir ein wenig zu sein — darf ich? — Oh, darf ich —?“

„Ich weiß nicht, Gert — ich weiß nicht. Ach, Lieber, geh jetzt, du mußt jetzt gehen — ich kann nicht — es ist so hart. — Lieber, geh.“

Er erhob sich still.

„Dann gehe ich. Leb wohl, Jenny — aber Kind, du bist ja ganz außer dir.“

„Ja,“ flüsterte sie.

„So gehe ich denn. Darf ich einmal wiederkommen? Ich will dich gern sehen, ehe du reist. Wenn du ruhiger geworden bist und wenn es dich nicht erregt. Es liegt ja kein Grund dafür vor, Jenny —.“

Sie stand einen Augenblick still. Dann zog sie ihn plötzlich hastig an sich und streifte seine Wange mit dem Munde.

„Geh jetzt, Gert.“

„Ich danke dir. Gott segne dich, Jenny.“

Hinterher lief sie im Zimmer auf und ab. Sie begriff selber nicht, warum sie so bebte. Aber tief im Innern — es war vielleicht nicht gerade Freude, aber es hatte ihr wohlgetan zu hören, was er gesagt, während er auf den Knien vor ihr lag.

Oh Gert, Gert! Sie hatte ihn immer für einen schwachen Menschen gehalten, für einen, der sich hatte überwinden lassen und unterdrückt worden war wie alle Charaktere ohne Widerstandskraft. Aber jetzt hatte sie plötzlich erfahren, daß er ganz im Innern eine tiefe Stärke und Sicherheit besaß. Er hatte da gestanden als der Reiche, der wußte, daß er helfen könne und es gern wollte. Während sie verwirrt und unsicher war — krank vor Sehnsucht in ihrem tiefsten Innern, hinter dem Bollwerk von Ansichten und Gedanken, das sie sich selbst geschaffen.

Und dann hatte sie ihn gebeten zu gehen. Weshalb? Weil sie selbst so grenzenlos arm war, weil sie ihm ihre Not geklagt, von dem sie dachte, er sei ebenso arm wie sie, während er ihr doch gezeigt hatte, wie reich er war, und ihr aus der Quelle seines Reichtums freudig eine kleine Hilfe bot. Dadurch hatte sie sich gedemütigt gefühlt und ihn gebeten, sie zu verlassen. So war es sicher.

Hilfe von einer Liebe entgegennehmen, ohne etwas dafür geben zu können, hatte sie immer als schändlich angesehen. Sie hatte ja nie daran gedacht, daß sie es sein würde, die solcher Hilfe bedürfte.

Er hatte sein Werk nicht vollenden dürfen, wie er gewollt. Die Liebe, der er sich hingegeben, hatte nicht ein Leben hindurch gedauert, dennoch war er nicht verzweifelt. Der nie versiegende Quell, woraus ein solches Glück geschöpft wird, um immer aufs Neue zu blühen, war Vertrauen und Glaube. Es bedeutete gleichviel, woran man glaubte, wenn nur die Seele dabei nicht einsam war. Allein vermochte sie den Glauben nicht zu nähren. Das Leben war unerträglich, wenn man außer sich selber niemanden hatte, den man liebte, an den man glaubte.

Mit dem Gedanken an den freiwilligen Tod hatte sie immer gespielt. Wenn sie jetzt stürbe ... Sie besaß wohl einen Kreis von Menschen, die sie liebten. Sie würden um sie trauern, aber es gab keinen, der sie nicht entbehren könnte. Nicht einen, dem sie unersetzlich war, so daß sie um seinetwillen die Pflicht hätte, ihr Leben weiterzuschleppen. Die Mutter und Geschwister ... Wenn sie nicht erfahren würden, daß sie es selbst getan, so würde ihr Leid nach einem Jahre zu milder Trauer geworden sein. Cesca und Gunnar würden sie wohl am tiefsten betrauern, denn sie würden vielleicht verstehen, daß sie unglücklich gewesen war, aber sie stand ja nur an der Außenseite ihres Lebens. Derjenige, der sie am meisten liebte, würde vielleicht am tiefsten getroffen sein — aber ihm hatte sie ja nichts zu geben. So konnte er sie ja ebenso lieb haben, wenn sie tot war. Ja, er liebte sie, dessen Glück sie war, und dabei trug er das Glück als eine Macht in sich.

Wenn ihr selber wirklich diese Kraft fehlte, so half ihr nichts. Die Arbeit konnte sie nicht in dem Maße ausfüllen, daß ihre Sehnsucht nach einem Glücke schwieg. Und weshalb sollte sie dann leben, wenn es auch hieß, sie sei talentvoll. Niemand konnte soviel Freude daran haben, ihre Kunst zu schauen, wie sie dabei empfand, sie auszuüben. Aber diese Freude war nicht so groß, daß sie ihr nichts zu wünschen übrig ließ.

Es war auch nicht nur das, wovon Gunnar gesprochen: daß ihre Tugend sie peinigte, um brutal zu sprechen. Dem konnte leicht abgeholfen werden. Aber sie wagte nicht, diesen Schritt zu tun, aus Angst, daß ihre Sehnsucht einst in späteren Jahren ihr wahres Ziel finden könnte. Das wäre ja von allem das Schlimmste, mit einem Menschen im engsten Zusammenhang zu leben, und tief im Innern doch wieder einsam zu sein. O nein, nein. Einem Manne anzugehören, mit allen möglichen daraus folgenden Intimitäten, körperlichen wie seelischen — und dann eines Tages vielleicht zu entdecken, daß sie ihn nie gekannt, und daß er sie nie gekannt, daß der eine niemals ein Wort von des anderen Rede verstanden hatte —.

Ach nein. Sie wollte leben, weil sie noch auf etwas wartete. Sie wollte keinen Liebhaber, denn sie erwartete ihren Gebieter. Sie wollte auch nicht sterben, nicht jetzt, denn sie wartete.

Nein. Sie wollte ihr Leben noch nicht von sich werfen, weder auf die eine noch auf die andere Art. Sie konnte so nicht sterben — so arm, daß sie nicht ein einziges geliebtes Wesen besaß, dem sie Lebewohl sagen konnte. Sie wagte nicht, sie durfte doch hoffen, daß es einmal anders werde.

So mußte sie sich also mit der Malerei etwas ins Zeug legen. Sonst würde sie auf den Hund kommen, krank wie sie war vor Verliebtheit.

Sie lachte.

Das war es eben. Der Gegenstand war vorläufig nicht vorhanden, aber die Liebe, die war da.

Durch das schräge Fenster dunkelte der Himmel veilchenblau herein. Jenny sah hinaus. Die Schieferdächer, die Schornsteine und Telephondrähte, die ganze stille Welt dort draußen breitete sich, mit weißem Reif bedeckt, in der Dämmerung aus. Von den Straßen leuchtete ein rötlicher Schein auf und färbte den Frostnebel. Wagengerassel und das Kreischen der Straßenbahn klangen jetzt so hart auf der trockenen, gefrorenen Straße.

Sie hatte wenig Lust, nach Hause zu gehen und bei der Mutter zu essen. Aber so war es verabredet. Sie schraubte den Ofen zu, zog ihren Mantel an und ging.

Draußen herrschte rauhe, klamme Kälte — der Nebel roch nach Ruß, Gas und gefrorenem Staub. Wie hoffnungslos öde diese Straße im Grunde war. Sie erstreckte sich vom Mittelpunkt der Stadt mit seinem lärmenden Getriebe und seinen hellerleuchteten Geschäften, wo der Menschenstrom aus- und einging, bis hinab zu den leblosen, grauen Festungsmauern. Ihre eigenen Häuserreihen lagen düster und ausgestorben. Neue Geschäftshäuser aus Stein und Glas, hinter deren großen Fenstern mit dem sanften weißen Licht arbeitsames junges Volk in stiller Geschäftigkeit den flatternden Papieren Weg und Richtung gab und durch das Telephon ihre Mitteilungen in alle vier Winde sandte, wechselten sich ab mit alten Gebäuden, Ueberresten aus der ältesten Zeit Kristianias. Es waren meist niedrige, graubraune Häuser mit glatter Front und Rolläden vor den Bürofenstern. Hier und da fand sich auch eine kleine Scheibe, mit Gardinen und Topfpflanzen verziert, die zu einem Kleineleuteheim gehörten, wunderlich einsamen Heimen in diesem Stadtviertel, dessen Häuser des Nachts meist verlassen lagen.

Aus den Läden, die sich in dieser Gegend befanden, strömte nicht das Volk aus und ein wie unten im Zentrum. Hier gab es nur Geschäfte für Tapeten und Gipsrosetten für Zimmerdecken. Hier fanden sich Ofen-, Herd- und Möbellager, deren Schaufenster voller leerer Mahagonibetten und gefirnißter Eichenstühle standen, die aussahen, als würden sie wohl nie in Gebrauch genommen werden.

In einem Torweg stand ein Kind — ein kleiner blaugefrorener Junge mit einem großen Korb am Arme. Er schaute einigen Hunden zu, die sich mitten auf dem Damme balgten, daß der feuchte, reifkalte Staub um sie flog. Das Kind schrie auf, als die Tiere sich zu ihm hinüberwälzten.

„Hast du vor den Hunden Angst?“ fragte Jenny.

Erst antwortete der Junge nichts. Da sagte sie:

„Soll ich dich an ihnen vorüberführen?“ Da schlüpfte er an Jennys Seite, sprach aber kein Wort.

„Wo willst du denn hin — wo wohnst du?“

„Voldstraße.“

„Hast du eingeholt? Ganz hier unten? Du bist ja so klein — bist aber ein tüchtiger Junge.“

„Wir kaufen bei Aases in der Strandstraße, weil Vater sie kennt,“ sagte der Junge. „Und der Korb ist so schwer.“

Jenny sah die Straße hinauf und hinunter — sie war fast menschenleer:

„Komm, Kleiner, soll ich ihn dir ein Stück tragen?“

Der Knabe ließ den Korb ein wenig ängstlich fahren.

„Gib mir die Hand, du, dann will ich dich an diesen Kötern vorbeiführen. Nein, wie kalt du bist! Hast du denn keine Handschuhe?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Sieh her, steck die andere Hand in meinen Muff — willst du nicht? Du meinst vielleicht, es schickt sich nicht für einen Jungen, mit dem Muff zu gehen?“

Sie dachte an Nils, als er klein war. Nach ihm hatte sie sich so oft gesehnt. Jetzt war er so groß und hatte viele Kameraden — er war in dem Alter, wo sich ein Junge schämt, sich mit der großen Schwester abzugeben. Selten kam er zu ihr herüber. In dem einen Jahre, das sie draußen war, und dann in den Monaten, als sie in all dem Wirrwarr mit Helge gelebt, hatten sie sich voneinander entfernt. Später, wenn er größer geworden, würden sie vielleicht wieder Freunde werden wie ehemals. Sicherlich, denn sie hatten sich lieb. Aber in seinem Alter ging es auch ohne sie, das wußte sie wohl. Oh, wenn doch Nils jetzt ein kleiner Junge wäre, daß sie ihn auf den Schoß nehmen und ihm Märchen erzählen könnte, während sie ihn wusch, ihn auskleidete und ihn küßte! Oder, wenn es noch wäre wie damals, als sie mit ihm über Nordmarken wanderte, wo der Riese weit fort war und der Weg voller Abenteuer und merkwürdiger Erlebnisse! —

„Wie heißt du denn, Kleiner?“

„Ausjen Torstein Mo.“

„Wie alt bist du, Ausjen?“

„Sechs Jahre.“

„So gehst du wohl noch nicht zur Schule?“

„Nein, aber ich soll im April anfangen.“

„Freust du dich auf die Schule?“

„Nein, die Fräuleins sind so böse. Der Oskar geht auch hin, aber wir kommen nicht in dieselbe Klasse. Oskar soll in der zweiten anfangen.“

„Oskar, ist das dein Spielkamerad?“ fragte Jenny.

„Ja, die wohnen in demselben Haus wie wir.“

Dann entstand eine kleine Pause. Jenny plauderte wieder:

„Ist es nicht schade, daß wir keinen Schnee bekommen? Ihr habt ja den Berg, die Piperviken hinunter, wo ihr rodeln könnt? Hast du einen Schlitten?“

„Nein, aber ich habe Schneeschlittschuhe und auch Skier —.“

„Ja, dann freilich sollte sich der Schnee ein bißchen beeilen!“

Sie waren in die Stortingstraße gekommen. Jenny ließ seine Hand fahren und dann den Korb. Er war aber so schwer und Ausjen so klein. So behielt sie ihn denn.

In der dunklen Voldstraße nahm sie wieder seine Hand und trug ihm den Korb bis zu dem kleinen Haus, wo er wohnte. Zum Abschied schenkte sie ihm zehn Oere.

In der Homansstadt kaufte sie Schokolade und rote Fausthandschuhe, die sie Ausjen schicken wollte.

Herrgott, wenn sie nur einem Menschen eine kleine Freude machen könnte! Eine kleine, unerwartete Freude.

Sie wollte versuchen, ihn ein paar Stunden am Tage als Modell zu bekommen. Er war wohl aber zu klein, um ihr zu stehen.

Die arme kleine Faust, sie war in der ihren ganz warm geworden. Ihr war, als hätte es ihr gut getan, sie festzuhalten.

Doch. Sie wollte versuchen, ihn zu malen. Ein lebendiges Frätzchen hatte er. Er sollte dann Milch mit einem Tropfen dünnen Kaffee und gutes Butterbrot bekommen, und dann wollte sie arbeiten und mit Ausjen plaudern.