Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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I.

An einem lichten und lauen Maiennachmittag, der sich schon zum Abend neigte, lag Sonnenglanz über den schwarzen Bauplätzen; die nackten Brandmauern waren rotgolden, und die Fabrikschlote glühten lederbraun im Sonnenbrand. Die Umrisse der Stadt mit hohen und niedrigen Dächern, großen und kleinen Häusern zeichneten sich gegen die grauviolette Luft scharf ab, die geschwängert war von Staub und Rauch und Dünsten.

Das Bäumchen an der roten Mauer trug klare, gelbgrüne Blättchen, durch die das Licht schien, in diesem Jahre wie im vergangenen.

Jenny sah den Schimmel an den Bretterwänden der Lumpenbuden, wie weich und leuchtend grün er war! Die Rußflocken an den Mauern der Geschäftshäuser waren an einigen Stellen tiefschwarz und an anderen wie von einer feinen glitzernden Silberhaut überzogen.

Sie sah in die Luft hinaus. Den ganzen Vormittag hatte sie auf Bygdö verbracht, dort hatte die Himmelskuppel sich dunkelblau und heiß über den olivengoldenen Föhrenkronen und der Laubbäume bernsteinfarbenen Knospen gewölbt. Aber hier schimmerte der Himmel über den hohen Häusern und dem Netz der Telephondrähte fahlblau hinter einem feinen, opalweißen Schleier von Dunst verborgen. Im Grunde war es übrigens schöner so. Gert konnte es nicht sehen. Die Stadt war für ihn nur immer schmutzig, häßlich und grau. Sie hatten sie alle verflucht, diese Stadt, die Jungen aus den achtziger Jahren, die hier wie zur Strafarbeit hergesandt waren. Jetzt stand er sicher dort oben und blickte in die Sonne hinaus, das Spiel des Lichtes mit Linien und Farbtönen sah er kaum, für ihn war es nur ein Sonnenstreifen vor den Gefängnismauern.

Sie hielt ein Stück vor seinem Torweg inne und sah gewohnheitsmäßig die Straße hinauf und hinunter. Bekannte waren hier nicht, Arbeitsleute strömten hinüber zum „Vaterland“ oder nach der Stadt zu. Die Uhr war also sechs.

Jenny lief die Treppe hinauf, die abscheulichen Stufen, von denen es zwischen den nackten Steinwänden widerhallte, wenn sie sich von seinem Zimmer hoch oben herunterschlichen — in den späten Stunden der Winternächte. Es war fast, als säße in diesen Wänden immer Kälte und rauhe Luft.

Sie lief schnell über den Korridor und pochte dreimal an seine Tür.

Gram öffnete. Er zog sie mit dem einen Arm an sich, und während sie sich küßten, verschloß er mit der freien Hand die Tür hinter ihr.

Ueber seine Schulter hinweg erblickte sie die frischen Blumen auf dem kleinen Tisch mit der Weinkaraffe und den ausländischen Kirschen in einer geschliffenen Kristallschale. Ein leichter Dunst von Zigarettenrauch lag über dem Raum. Sie wußte, daß er seit vier Uhr hier gesessen und auf sie gewartet hatte mit all dem, was um ihretwillen aufgebaut war.

„Ich konnte nicht früher kommen, Gert,“ flüsterte sie. „Es tat mir so leid, daß du warten mußtest.“

Als er sie freigab, ging sie zum Tisch und beugte sich über die Blumen.

„Ich darf doch zwei davon haben und mich schmücken, darf ich? O, ich werde so verwöhnt, Gert, wenn ich bei dir bin.“ Sie streckte ihm beide Hände entgegen.

„Wann mußt du hier fort, Jenny?“ fragte er, während er ihre Arme ganz behutsam küßte.

Jenny senkte ein wenig den Kopf.

„Ich mußte versprechen, zum Abendessen zu Hause zu sein, du. Mama sitzt ja immer auf und wartet auf mich, und sie ist müde vom Tage. Sie hat es so nötig, daß ich ihr des Abends mit diesem oder jenem zur Hand gehe,“ sagte sie schnell.

„Es ist nicht so leicht, von Hause loszukommen, weißt du,“ setzte sie flehend hinzu.

Er senkte den Kopf unter ihren vielen Worten. Als sie ihm entgegenkam, zog er sie fest an sich. Sie barg ihr Antlitz an seiner Schulter.

Sie konnte nicht lügen, das arme Ding, nicht einmal so gut, daß er auch nur eine einzige barmherzige Sekunde daran glaubte. Den kurzen, kurzen Winter über, in den ersten blaugrünen Lenztagen, da hatte sie sich immer von Hause freimachen können.

„Es ist ja traurig für uns. Aber es ist jetzt so schwer, wo ich zu Hause wohne, das wirst du begreifen. Und es muß sein, Mama braucht das Geld und außerdem muß ich ihr helfen. Du gabst mir ja recht, als ich es für das Richtigste hielt, nach Haus zu ziehen?“

Gert Gram nickte. Sie hatten sich aufs Sofa gesetzt, dicht aneinander geschmiegt. Jennys Kopf lag an seiner Brust, so daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte.

„Du, ich war heute auf Bygdö, Gert. Ich ging dort umher, wie wir kürzlich zusammen. Wir fahren beide bald wieder dort hinaus, nicht wahr? Vielleicht übermorgen, wenn das Wetter sich hält? Dann finde ich schon eine Ausrede daheim, daß wir den ganzen Abend zusammen sein können, willst du? Du bist sicher betrübt darüber, daß ich so schnell wieder fort muß, nicht wahr?“

„Liebste Jenny, das habe ich dir doch tausendmal gesagt —,“ sie hörte es seiner Stimme an, daß er nun wieder mit seinem trüben Lächeln dasaß: „Ich bin dir für jede einzige Sekunde dankbar, die du deinem Freunde schenkst.“

„Sprich nicht so, Gert,“ bat sie gequält.

„Warum darf ich das nicht sagen, wenn es so ist? Mein geliebtes, kleines Mädchen, meinst du, ich werde jemals vergessen, daß alles, was du mir gegeben, eine fürstliche Gnade war, daß ich nie begreifen werde, wie du es mir geben konntest?“

„Gert! Im Winter, als ich merkte, daß du mir gut bist, wie gut du mir bist, sagte ich zu mir selber, daß es ein Ende haben müsse. Aber da begriff ich auch, daß ich ohne dich nicht sein könnte, und so wurde ich dein. War das eine Gnade? Wenn ich dich nicht lassen konnte?“

„Das ist es ja eben, Jenny, daß du mich so lieben lerntest, was ich eine fürstliche Gnade nenne.“

Stumm schmiegte sie sich an ihn.

„Du junge, herrliche kleine Jenny —.“

„Ich bin nicht jung, Gert. Als du mich trafst, fing ich schon an, alt zu werden, ich bin nie jung gewesen. Ich fand, du warst jung, viel jünger in deinem Herzen als ich, denn du glaubtest noch immer an alles, was ich verlachte und Kinderträumereien nannte, bis du mich glauben lehrtest, daß es das gab, Liebe und Wärme und all das Andere —.“

Gert Gram lachte still vor sich hin. Dann flüsterte er:

„Vielleicht war mein Herz nicht älter als das deine, du. Ich fand jedenfalls, daß ich noch keine Jugend gehabt hatte, und ich hoffte trotzdem tief im Innern, daß sie einmal, ein einziges Mal, mich streifen würde — die Jugend. Doch war mein Haar inzwischen weiß geworden.“

Jenny schüttelte den Kopf. Sie erhob ihre Hand und legte sie auf seinen Scheitel.

„Ist mein Kleines müde? Soll ich dir die Schuhe ausziehen? Willst du dich hinlegen und ausruhen?“

„Nein. Ich will so liegen. Es tut so gut.“

Sie zog die Beine hoch und schmiegte sich in seinem Schoß. Gert legte den Arm um sie. Mit der freien Hand schenkte er Wein ein und hielt ihr das Glas an den Mund. Sie trank begierig. Dann reichte er ihr Kirschen, nahm die Steine von ihren Lippen und legte sie auf den Teller.

„Du, ich will bei dir bleiben. Ich schicke einen Boten nach Hause und lasse sagen, daß ich Heggen getroffen habe. Er ist sicher in der Stadt. Aber ich muß nach Hause, ehe die letzte Straßenbahn fährt. — Leider.“

„Ich werde für dich gehen.“ Er ließ sie auf das Sofa niedergleiten. „Du sollst liegen und dich ausruhen. Oh, mein Kind!“

Als er gegangen, knöpfte sie die Schuhe auf und schob sie von sich. Sie trank noch etwas von dem Wein. Dann kroch sie ganz auf das Sofa hinauf, bohrte den Kopf tief in die Kissen und zog die Decke über sich. —

Sie liebte ihn ja doch. Sie wollte bei ihm sein. Wenn sie so sitzen, sich ganz zusammenrollen und in seinen Armen ruhen durfte, dann war ihr wohl. Er war ja der einzige Mensch auf der Welt, der sie auf den Schoß genommen und sie gewärmt, der sie geborgen und kleines Mädchen genannt hatte. Ja, er war der Einzige, der ihr wirklich nahe gestanden. Darum wurde sie sein.

Wenn er sie nur bei sich halten und sie schützen wollte, so daß sie nichts sah, sondern nur fühlte, daß er sie umschlungen hielt und wärmte. Dann ging es ihr gut. O nein, sie durfte ihn wohl nicht verlieren. Und so mußte sie ihm denn das Wenige geben, das sie besaß, wenn sie von ihm erhielt, was sie nicht entbehren konnte.

Er durfte sie küssen, mit ihr tun, was er wollte. Wenn er nur nicht sprach. Denn dann entfernten sie sich so weit von einander. Er sprach von Liebe, aber ihre Liebe war nicht, wie er glaubte. Sie konnte es aber nicht mit Worten erklären; sie klammerte sich nur an ihn — und das war keine Gnade, kein fürstliches Geschenk. Es war nur eine kleine, bettelnde Liebe, für die er nicht danken durfte, er sollte sie nur liebhaben und kein Wort sagen.

Als er wieder heraufkam, öffnete sie weit die Augen. Sie schloß sie aber wieder unter seinen stillen, ehrfürchtigen Liebkosungen und lächelte leise. Dann schlang sie die Arme um seinen Körper und klammerte sich an ihn. Das schwache Veilchenparfüm, das er an sich hatte, duftete so mild und frisch. Und sie nickte still, als er sie fragend aufhob. Er wollte sprechen, aber sie legte erst die Hand auf seinen Mund und küßte ihn dann, so daß er nichts sagen konnte, während er sie behutsam in das Nebenzimmer trug.

Gert begleitete sie zur Straßenbahn. Einen Augenblick blieb sie draußen auf der Plattform stehen und sah ihm nach, wie er drüben auf der Straße in der blauen Maiennacht verschwand. Dann setzte sie sich hinein.

Gram hatte seine Frau um die Weihnachtszeit verlassen. Er wohnte jetzt allein in der Stenerstraße. Außer dem Büro hatte er noch ein Zimmer. Jenny wußte, daß er daran dachte, eine Scheidung herbeizuführen, wenn einige Zeit hingegangen und Rebekka Gram eingesehen hätte, daß er nicht zurückkehren würde. Es entsprach seiner Natur, so vorzugehen, mit einemmale einen Bruch herbeizuführen, das vermochte er nicht.

Was er eigentlich weiter von der Zukunft erwartete, wagte sie sich nicht vorzustellen. Meinte er wohl, daß sie ihn heiraten würde?

Sie konnte sich nicht verhehlen, daß sie nicht eine Sekunde die Absicht gehabt hatte, sich für immer an ihn zu binden. Darum aber empfand sie dies alles wie eine bittere, hoffnungslose Demütigung, wie eine Schande, sobald sie nicht bei ihm war und sich mit seiner Liebe betäuben konnte. Sie hatte ihn betrogen, die ganze Zeit über hatte sie ihn betrogen.

„Das ist es ja eben, Jenny, daß du mich so lieben lerntest, was ich eine unbegreifliche Gnade nenne.“

Was konnte sie dafür, daß er es mit diesen Augen ansah?

Er hätte sie nicht zu seiner Geliebten gemacht, wenn sie selbst es nicht gewollt, wenn sie ihn nicht hätte fühlen lassen, daß sie es wollte. Aber, o Gott! Sie fühlte doch, daß er sich danach sehnte, es quälte sie, bei jedem Zusammensein sich begehrt zu wissen und zu sehen, wie er kämpfte, um zu verbergen, was er viel zu stolz war zu zeigen. Ja, sie hatte gesehen, daß er stolz war, zu stolz, um dort zu bitten, wo er einstmals nur seine Hilfe geboten. Vielleicht auch zu stolz, um sich einer Abweisung auszusetzen. Und da sie wußte, daß sie seine Liebe nicht von sich weisen, nicht den einzigen Menschen hergeben konnte, der sie liebte. Konnte sie wohl anders handeln, anders ehrenhaft bleiben, als daß sie ihm bot, was sie besaß und auf diese Weise zu vergelten suchte, was er mit seinem Reichtum an Liebe, die sie nicht missen konnte, an ihr tat.

Aber dann kam hinzu, daß sie Worte hatte aussprechen müssen, stärker und heißer als ihre Gefühle. Er aber hatte ihr geglaubt und sie bei ihrem Wort genommen.

Es geschah wieder und wieder. Kam sie zu ihm, freudlos, mutlos, müde vom Grübeln darüber, wie das enden solle, und sie sah, daß er es spürte, dann sagte sie ihm wieder warme Worte und heuchelte viel Stärkeres als sie fühlte. Und er glaubte ihr.

Er wußte von keiner anderen Liebe als derjenigen, deren Wesen das Glück ist. Unglück in der Liebe, das kam von außen her, von der Tücke des Schicksals oder von einer grausamen Gerechtigkeit, die alles Unrecht strafte. Sie wußte, was er fürchtete: daß ihre Liebe eines Tages hinsterben könnte, wenn sie sähe, daß er zu alt sei, um ihr Geliebter zu sein. Aber niemals hatte er ahnen können, daß ihre Liebe krank geboren war, mit dem Todeskeim in sich.

Es würde nichts nützen, ihm das zu erklären. Er würde es nicht verstehen: daß sie Zuflucht in seinen Armen gesucht, weil er der Einzige war, der sie ihr geboten hatte. Sie war so todeinsam gewesen. Als er ihr Liebe und Wärme bot, vermochte sie nicht, dies von sich zu stoßen. Obgleich sie hätte wissen müssen, daß sie es nicht annehmen durfte — sie war dieser Liebe nicht würdig. Nein, er war nicht alt. Die Leidenschaft eines Zwanzigjährigen, der kindliche Glaube und die andächtige Anbetung, eines reifen Mannes Wärme und Güte, all die Liebe, die ein Mannesleben fassen konnte, flammten jetzt an der Grenze des Alters noch einmal auf. Sie hätten einer Frau zuteil werden sollen, die mit einem gleichen Gefühl vergelten, die in den kurzen verbleibenden Jahren ihres Zusammenseins ihn das ganze Dasein, das er herbeigesehnt, wovon er geträumt und das er erhofft, durchleben lassen könnte, so daß sie durch tausend glückliche Erinnerungen an seine Seite gekettet wäre, wenn das Alter käme — in getreuer Liebe als seiner Jugend und seines Mannestums Gefährtin bei ihm ausharrend und nun auch mit ihm alternd. Aber sie —. Wenn sie auch versuchen wollte, zu bleiben, was konnte sie ihm geben, wenngleich sie wollte? Nie hatte sie ihm je etwas darbieten können — sie hatte nur genommen. Es nützte ihr nichts, daß sie versuchte zu bleiben, auf die Dauer konnte sie ihn nicht täuschen und zu dem Glauben zwingen, daß ihre Lebenssehnsucht durch diese erste Liebe für immer gestillt sei.

Er würde sagen, sie solle gehen. Sie habe geliebt und gegeben, jetzt liebe sie aber nicht mehr und solle wieder frei sein. So würde es in seinen Augen aussehen; nie würde er begreifen, daß sie deshalb trauerte, weil sie nichts, nichts, nichts hatte geben können.

Ah, er peinigte sie, wenn er von ihren Gaben sprach. Ja, sie war Mädchen, als sie sein wurde. Er betonte es, als wenn es ihm ein Maßstab dafür sei, wie unendlich tief und stark ihre Liebe wäre. Hatte sie ihm doch die Reinheit ihrer Jugend geschenkt.

Die Unberührtheit ihrer neunundzwanzig Jahre. O ja, sie hatte sie wie ein weißes Brautgewand gehütet, das sie nicht angetastet und nicht befleckt hatte. In Sehnsucht und Angst, daß sie es niemals tragen würde, in Verzweiflung über ihre eisige Einsamkeit, über ihr Unvermögen in der Liebe, hatte sie sich daran geklammert, es zerknittert und mit ihren Gedanken befleckt. — War die nicht reiner, die das Leben der Liebe gelebt, als sie, die nur gegrübelt, gespäht und sich gesehnt hatte, bis alle Kräfte von dieser Sehnsucht gelähmt waren?

Als sie dann sein geworden — wie wenig Eindruck hatte es auf sie gemacht. Sie war nicht völlig kalt gewesen. Mitunter hatte seine Liebe sie hingerissen. Aber sie heuchelte Glut und war nur lau. War sie nicht bei ihm, so dachte sie kaum daran, sie spiegelte ihm eine erlogene Sehnsucht vor, um ihn zu erfreuen. Ja, sie heuchelte und heuchelte seiner ehrlichen Leidenschaft gegenüber.

Und doch, es hatte eine Zeit gegeben, wo sie nicht nur geheuchelt hatte — oder, belog sie Gert, so belog sie auch sich selber. Sie hatte einen Sturm in sich gefühlt, es war wohl Mitleid mit ihm und seinem Geschick und Auflehnung gegen ihr eigenes, weshalb sie Beide, jeder auf seine Art, im Verlangen nach etwas Unmöglichem sich zerrissen, und dazu kam noch die grauenhafte Angst, wohin das alles führen solle. Damals hatte sie gejubelt, daß sie ihn liebte. Sie hatte sich ja in dieses Mannes Arme stürzen müssen, so wahnsinnig es auch war.

An jenem Abend hatte sie in der Straßenbahn gesessen und, auf all die schläfrigen, ruhigen Bürger blickend, triumphiert. Sie kam von ihrem Geliebten, um sie und ihn lag das Unwetter des Schicksals, sie hatte da hinaus müssen und wußte nicht, wohin es sie treiben würde. Sie war stolz auf ihr Geschick gewesen, weil Unglück und Finsternis drohten.

Jetzt aber sehnte sie sich nur nach einem Ende. Machte Pläne für eine Auslandsreise, Flucht vor alledem. Sie hatte Cescas Einladung, nach Tegneby zu kommen, angenommen, um den Bruch vorzubereiten.

Es war jedenfalls besser für Gert, daß er jetzt allein war. Hatte sie es erreicht, daß er dem Zusammenleben mit jener ein Ende gemacht, so hatte sie ihm doch etwas Gutes getan.

Jenny gegenüber saßen zwei junge Frauen. Sie waren vielleicht nicht älter als sie, nur verkommen und verbraucht von dem Leben in langjähriger Ehe. Vor drei, vier Jahren waren es vielleicht noch ein paar hübsche Geschäftsmädchen gewesen, die sich putzten und mit ihren Kavalieren in den Nordmarken Sport trieben. Ja, jetzt glaubte sie, das Gesicht der einen von dort her wiederzuerkennen — sie hatten an einem Osterfest zusammen auf Hakloa übernachtet. Sie war Jenny sogar aufgefallen mit ihrer geschmeidigen Gestalt und weil sie so gut Ski lief und so keck und schick in der Sportstracht ausgesehen hatte.

In gewisser Beziehung war sie noch heute herausgeputzt. Das Straßenkostüm war modern, aber es saß nicht und die Figur hatte keine Festigkeit mehr, sie war behäbig und dick geworden, während Schultern und Hüften dabei eckig geblieben waren. Das Gesicht erschien alt, die Zähne waren schlecht, mürrische Furchen zogen sich um den Mund. Das Ganze krönte ein großer Hut mit vielen Straußenfedern. Sie predigte und die Freundin hörte eifrig zu, mit gespreizten Knien träge dasitzend, die Hände in einem Riesenmuff auf dem schwangeren Leibe vergraben. Eigentlich war ihr Gesicht hübsch, aber fett und rotfleckig, mit einem Doppelkinn.

„Ja, den Käse muß ich also im Büfett verschließen; kommt er hinaus in die Küche, dann sind am anderen Morgen nur Rinden übrig. Ein schwerer Schweizer Käse zu fast drei Kronen das Pfund!“

„Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen.“

„Aber nun sollen sie etwas hören! Hinter Eiern ist sie her wie — ich weiß nicht was. Neulich komme ich ins Mädchenzimmer — sie ist unglaublich schmutzig — und da riecht es in der Kammer ...! Die Betten sind nicht gemacht — wer weiß wie lange Zeit. Nein, aber Solveig, sage ich, und als ich die Decke hochhebe, da hat sie drei Eier und eine Papiertüte mit Zucker in dem schmutzigen Bett liegen — was sagen Sie dazu? Na, sie sagte, sie hätte alles selber gekauft, und das mag bei dem Zucker wohl stimmen —.“

„Ja, das glaube ich auch,“ sagte die andere.

„Na ja, der war ja auch in einer Tüte, aber die Eier hat sie genommen. Ich sagte ihr das aber auch, können Sie mir glauben. Aber nun sollen Sie etwas hören! Letzten Sonnabend komme ich in die Küche, wir sollten Reisbrei zu Mittag haben, oho, da steht der Topf auf dem Gase und amüsiert sich, während das Mädel in ihrer Kammer sitzt und häkelt. Und ich rufe sie und rühre inzwischen im Topf herum — und was glauben Sie, was ich mit der Kelle auffische? Ein Ei, wollen Sie das glauben? Sie kocht sich ein Ei im Reisbrei, na ich mußte lachen, aber können Sie sich eine solche Schweinerei vorstellen? Ich sagte ihr aber meine Meinung und zwar gehörig. Was sagen Sie nur dazu?“

„O Gott, Dienstmädchen. — Ja, wissen Sie, was meine neulich gemacht hat? ...“

Diese beiden hatten sich als junge Mädchen sicher auch nach Liebe gesehnt — auf ihre Art. Nach einem frischen und strammen Burschen in fester Stellung, einem Manne, der sie von den einförmigen Arbeitstagen im Büro oder Geschäft erlöste, sie in ein kleines Heim brachte, in dessen drei Zimmern sie all ihre eigenen Kleinigkeiten ausbreiten durften, all diese Stickereien mit Heckenröschen und blauen Glockenblumen, in die sie ihre Mädchenträume verwoben hatten.

Mädchenträume der Liebe hatten auch sie geträumt. Doch jetzt belächelten sie diese überlegen. Es war ihnen eine Genugtuung denen gegenüber, die jetzt so träumten, festzustellen, wie ganz anders die Wirklichkeit doch war. Sie waren stolz darauf, zu den Eingeweihten zu gehören, welche wußten, wie die Wirklichkeit aussah. Vielleicht waren sie sogar zufrieden.

Glücklich dennoch, wer unzufrieden. Glücklich, wer nicht abdankte und sich damit begnügte, daß das Leben ihm ein Armeleutedasein bot. Wer trotzdem sagte, ich glaube meinen Träumen, kein anderes Glück gibt es für mich außer dem, das ich begehrte. Ich glaube doch, dies Glück gibt es. Zeigt es sich mir nicht, so trage ich eben Schuld daran, ich war dann eine schlechte Jungfrau, die nicht imstande war, zu wachen und des Bräutigams zu harren. Doch die klugen Jungfrauen werden ihn schauen, sie werden in seinem Haus Einzug halten zum Tanz —.

In dem Schlafzimmer der Mutter brannte Licht, als Jenny nach Hause kam. Sie ging hinein und mußte von der Gesellschaft auf Ahlströms Atelier erzählen und wie es Heggen ging.

Ingeborg und Bodil schliefen hinten im Halbdunkel, die schwarzen Flechten hingen über die Kissen herab.

Es rührte Jenny nicht im geringsten, dastehen und der Mutter etwas vorlügen zu müssen. Sie hatte es immer getan, seit sie als Schulmädchen in munterem Tone von den Kindergesellschaften berichten mußte, auf denen sie einsam dagesessen und der Anderen Tanz zugeschaut hatte, unglücklich und verlassen, ein kleines Mädchen, das nicht mittanzen konnte und nichts sagte, was den Jungen Vergnügen machte.

Wenn Ingeborg und Bodil vom Balle kamen, saß die Mutter aufrecht im Bett, fragte und hörte zu und lachte, vom Lampenlicht mit jugendlicher Röte übergossen. Sie konnten der Mama immer die Wahrheit sagen, denn die war munter und lachend. Vielleicht unterschlagen sie das eine oder andere kleine Erlebnis, das so lustig war, daß sie es für sich behalten wollten. Was tat das, ihr Lächeln war doch echt.

Jenny küßte die Mutter und wünschte ihr Gute Nacht. Im Wohnzimmer riß sie aus Versehen eine Photographie herunter. Sie hob sie auf und wußte im Dunkeln, wer es war. Sie stellte einen Bruder von Jennys rechtem Vater dar, mit seiner Frau und seinen Töchtern. Er hatte in Amerika gelebt, so daß sie ihn nie zu Gesicht bekamen. Jetzt war er tot, und niemand dachte mehr an das Bild. Sie wischte dort jeden Tag Staub und sah es gar nicht, es war wie jeder andere Nippesgegenstand.

Als sie in ihrem Kämmerchen war, begann sie ihr Haar zu lösen.

Sie hatte ja immer ihrer Mutter etwas vorgelogen. Wie hätte sie ihr gegenüber denn ehrlich sein können, ohne ihr Kummer zu bereiten? Und wozu sollte sie es auch —?

Niemals würde die Mutter sie verstanden haben. Bei ihr hatten Glück und Trauer sich abgelöst, seit sie ganz jung war. — So war sie mit Jennys Vater glücklich gewesen und weinte über seinen Tod. Dann hatte sie mit dem Kinde allein fortgelebt und war zufrieden gewesen. Als sie Nils Berner traf, hatte er ihr Dasein mit neuem Glück und neuem Elend erfüllt. Und wieder lebte sie weiter in den Kindern. Die Kinder bedeuteten das Glück des Mutterseins, das greifbare Ausgefülltsein einer Leere, ein Glück, das mit tatsächlichen Leiden erkauft, das allzu körperlich, klein und warm in ihrem Arme gelegen hatte, um angezweifelt zu werden. Ja, sein Kind zu lieben, das mußte wohl tun. Diese Liebe war so natürlich, daß man darüber nicht zu grübeln brauchte. Eine Mutter zweifelte nicht daran, daß sie ihr Kind liebte, daß sie sein Bestes im Auge hatte, und zu seinem Wohle handelte, auch nicht daran, daß das Kind sie wiederliebte. So groß aber ist die Gnade der Natur gegen die Mütter, daß der Kinder innerster Instinkt es nicht zuläßt, die bittersten und unheilbarsten Sorgen zur Mutter zu tragen. Sie erfahren von nicht viel Anderem als von Krankheit und Geldsorgen. Niemals von dem Unwiederbringlichen — der Schande, der Niederlage im Leben — und wenn das Kind wimmerte vor Leid — eine Mutter glaubt nicht, daß das Verlorene unersetzbar sei.

Nichts dürfte die Mutter von ihrem Kummer erfahren — die Natur selbst hatte dort eine Mauer errichtet. Niemals würde Rebekka Gram den zehnten Teil von dem erfahren, was ihr Kind um ihretwillen gelitten hatte. Wie hatte Frau Lund um ihren schönen Sohn geweint, als er verunglückte. Noch immer trauerte sie tief und wehmütig über ihren Jungen und träumte von der reichen Zukunft, der er entrissen worden. Seine Mutter war die Einzige, die nicht ahnte, daß er sich erschossen hatte, um nicht irrsinnig zu werden.

Die Mutterliebe stand auch keinem anderen Glück im Wege. Von dieser oder jener Mutter wußte sie, daß sie Liebhaber gehabt hatte und glaubte, die Kinder sähen es nicht. — Da gab es solche, die sich scheiden ließen und auf andere Art glücklich wurden. Nur, wenn die neue Liebe eine Enttäuschung war, so jammerten sie und waren reuig. Ihre Mutter hatte sie vergöttert, und doch hatte ihre Liebe für Berner Raum gehabt, sie war mit ihm glücklich gewesen. Gert hatte seine Kinder geliebt, und eines Vaters Liebe war wohl nachdenklicher, verstehender, weniger instinktiv, als die einer Mutter. Und doch hatte er in diesem Winter kaum an Helge gedacht.