Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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II.

Jenny hatte drinnen beim Stationsvorsteher die Post geholt. Sie gab Franziska die Zeitungen und ihren Brief und öffnete ihren eigenen. Draußen auf dem Kiese des Bahnsteiges mitten im Sonnenbrand stehend, überflog sie Gerts langes Schreiben. Die liebevollen Worte am Anfang und am Schlusse las sie, während sie das Uebrige überging. Es waren nur lange allgemeine Betrachtungen über die Liebe.

Jenny steckte den Brief wieder in den Umschlag und legte ihn in ihre Handtasche. Oh, diese Briefe von Gert — sie war fast nicht imstande, sie zu lesen. Die Worte allein zeigten ihr, daß sie sich doch nicht verstanden. Sie fühlte es, wenn sie miteinander sprachen; beim Schreiben trat es aber klar zutage.

Und dennoch war Wesensverwandtschaft zwischen ihnen. Warum konnten sie dann nicht harmonieren?

War er stärker oder schwächer als sie? Er hatte verloren und verloren, hatte resigniert und sich an allen Ecken und Kanten beugen müssen — und fuhr fort zu hoffen, fuhr fort zu leben und fuhr fort zu glauben. — War das Weichheit oder Lebenskraft? Sie verstand ihn nicht.

Vielleicht lag es doch am Altersunterschied. Er war nicht alt. Aber seine Jugend stammte aus einer anderen Zeit. Er gehörte zu eine Jugend, die jetzt ausgestorben war, einer Jugend mit gesünderem Glauben und mehr Naivität. Vielleicht war auch sie naiv — mit ihrem Glauben und ihren Zielen. Aber dann war es eine andere Art von Naivität. Die Worte wechseln im Laufe von zwanzig Jahren ihre Bedeutung, ob es letzten Endes das war?

Der Kies leuchtete rotviolett und die graugelbe Farbe an der Mauer des Stationsgebäudes platzte in der Sonnenhitze auf. Es dunkelte einen Augenblick vor ihren Augen, als sie vom Abhang in die Höhe blickte. Es war seltsam, aber sie vertrug die Hitze in diesem Jahre nicht gut.

Ueber das Kirchspiel hin zitterte der heiße Dunst von Heuwiesen und weißen Aeckern, ganz bis hinüber zum Waldrande, der sich schwarzgrün gegen den sommerlich blauen Himmel abhob. Die wenigen Laubbäume vor den Gehöften trugen bereits dunkle Kronen.

Cesca las noch immer an ihrem Brief. Er war von ihrem Manne. Ihr Leinenkleid leuchtete weiß gegen den blauen Kies des Bahnsteigs.

Gunnar Heggen hatte sein Gepäck auf dem hinteren Sitz des Wägelchens verstaut. Er liebkoste das Pferd und plauderte mit ihm, während er auf die Damen wartete.

Cesca steckte ihren Brief fort, hob den Kopf und machte eine Bewegung, als wollte sie etwas verjagen.

„Ja, du mußt entschuldigen, mein Junge — jetzt können wir fahren.“ Sie und Jenny setzten sich auf den Vordersitz; Cesca lenkte selbst. „Das ist furchtbar gemütlich, Gunnar, daß du kommen konntest! Ist es nicht famos, daß wir drei wieder einige Tage zusammen sein können? Ich soll euch beide von Lennart grüßen!“

„Danke. Geht es ihm gut?“

„O ja. Er berichtet nur Gutes. Es war wirklich genial von Papa und Borghild, daß sie wegreisten. Ich bin jetzt mit Jenny allein auf dem Hof, siehst du, und die alte Gina steht Kopf für uns — das ist herrlich!“

„Ja, es macht Freude, euch wiederzusehen, Mädelchen!“

Er lachte sie beide so offenherzig an. Aber Jenny bildete sich ein, sie hätte einen merkwürdig ernsten Schimmer dahinter gesehen. Sie wußte, daß sie verwelkt und müde aussah, Cesca in dem billigen, fertiggekauften Leinenkleid glich einem Backfisch, der alt zu werden anfing, ohne erwachsen gewesen zu sein. Es war ihr, als sei Cesca kleiner geworden in diesem Jahre, aber sie zwitscherte und plauderte in einem fort — was sie zum Mittagessen bekamen und zum Kaffee, ob sie ihn im Garten trinken sollten, und von all dem Likör und Whisky und Selterwasser, was sie eingekauft hatte.

Als Jenny in der Nacht in ihr Zimmer hinaufkam, setzte sie sich auf das Fensterbrett und ließ sich den frischen Luftzug, der mit den Gardinen spielte, über das Antlitz wehen. Sie war ziemlich berauscht — ganz unbegreiflich war es ihr, aber Tatsache.

Sie konnte nicht verstehen, wie es zugegangen war. Anderthalb Glas Whisky und einige Gläschen Likör war alles, was sie getrunken, und sogar nach dem Abendessen — allerdings hatte sie nicht viel gegessen, aber sie hatte augenblicklich keinen Appetit. Starken Kaffee hatte es auch gegeben.

Vielleicht war gerade der Kaffee schuld — und die Zigaretten. Obgleich sie jetzt weniger rauchte als früher.

Jedenfalls hatte sie Herzklopfen und ein widerliches Hitzegefühl durchrann sie in großen Wogen, so daß sie in Schweiß gebadet war. Das Bild dort draußen drehte sich langsam vor ihren Augen — vorwärts und zurück — die graugefärbte Ebene, das blaßleuchtende Blumenbeet und die dunklen Baumkronen des Gartens an dem weißlichen Sommernachtshimmel. Das Zimmer lief rund um sie her.

Sie wankte, als sie die Waschschüssel mit Wasser füllte. Unsicher in den Bewegungen war sie auch. Das ist doch aber ein Skandal. Es geht bereits bergab mit dir, mein Kind. Nun verträgst du keinen Alkohol mehr. Früher hatte sie das Doppelte trinken können, ohne etwas zu verspüren.

Erst hielt sie die Hände mit dem Puls unter Wasser. Dann badete sie lange ihr Gesicht. Riß sich die Kleider vom Körper und ließ das Wasser von dem nassen Schwamm über den ganzen Leib rieseln.

Gott weiß, ob Gunnar und Cesca etwas gemerkt hatten. Sie selbst hatte zwar erst jetzt, als sie heraufkam, etwas verspürt. Wie gut, daß der Oberstleutnant und Borghild nicht zu Hause waren.

Es wurde besser, als sie sich eine Weile gewaschen hatte. Sie zog ihr Nachthemd über und setzte sich wieder ans Fenster.

Die Gedanken schwirrten ziellos zwischen Fragmenten der Gespräche des Tages mit Gunnar und Cesca umher. Mitten drin stand ihre Verwunderung hellwach still — vor der Erkenntnis, daß sie sich betrunken hatte! Es war ihr noch nie zuvor begegnet — sie kannte das Gefühl kaum, auch wenn sie einmal viel trank.

Jetzt war es übrigens sicher vorbei, sie fühlte sich matt und schläfrig und kalt. Sie stand auf und taumelte in das große Himmelbett. Wenn sie nun erst am späten Vormittag erwachte — jedenfalls würde es eine neue Erfahrung sein.

Soeben hatte sie sich in den Kissen zurechtgelegt und die Augen geschlossen, als die widerwärtige üble Hitze sie wieder überflutete, so daß der Schweiß aus allen Poren brach. Das Bett wankte wie ein Schiff im Wellengang, so daß sie seekrank wurde. Sie lag eine Weile still da und versuchte, Herr über diese widerliche Empfindung zu werden — ich will nicht, ich will nicht. Aber es nutzte nichts — der Mund lief voller Wasser. Es war gerade noch Zeit genug, zum Zimmer zu gelangen, ehe sie sich erbrach.

Aber du großer Gott, war sie wirklich so betrunken? Jetzt wurde es geradezu unangenehm. Aber nun war es wohl vorüber. Sie brachte alles wieder in Ordnung, trank einen Schluck Wasser und legte sich nieder. Jetzt konnte sie vielleicht schlafen.

Aber als sie kurze Zeit mit geschlossenen Augen gelegen hatte, begann der Seegang von neuem, ebenso Schweiß und Uebelkeit. Es war erstaunlich, da sie doch jetzt völlig klar im Kopfe war. Trotzdem mußte sie noch einmal auf.

Im Augenblick, als sie zum Bett zurückging, blitzte ein Gedanke in ihr auf. —

Still. Sie legte sich hin und bohrte den Nacken ins Kopfkissen. Es war ja unmöglich. Sie wollte nicht daran denken. Aber sie konnte es nicht lassen und überlegte sich: Sie hatte sich die ganze letzte Zeit hindurch nicht wohl gefühlt.

Müde und zermürbt war sie natürlich. Zerquält und nervös. Deshalb hatte sie vielleicht nicht das winzige Bißchen gestern Abend vertragen können. Wahrhaftig, sie begriff, daß Menschen Abstinenzler wurden nach einigen solchen Nächten.

An das Andere wollte sie nicht denken. War es traurige Wirklichkeit, so erfuhr sie es noch zeitig genug. Nur sich nicht mit Beängstigungen plagen, ehe es notwendig war.

Jenny öffnete das Nachtkleid und strich sich über die Brüste.

Sie wollte schlafen. — Jetzt könnte sie natürlich nicht aufhören, an diesen Unsinn zu denken — ach. Sie war doch so müde.

In der ersten Zeit mußte sie natürlich immer daran denken, daß es wohl Folgen haben könnte und war einige Male ängstlich gewesen. Sie hatte aber ihre eigene Furcht beim Schopfe gepackt und sich gezwungen, sie in vernünftigem Lichte zu sehen — ja, wenn nun etwas geschähe? Zum großen Teil war es ja sinnloser Aberglaube, diese Furcht davor, ein Kind zu bekommen. Derartiges geschah eben häufig — wollte sie schlechter sein als alle die Arbeiterinnen, die sich allein mit dem Kind zurechtfanden? Der größte Teil des Schrecks stammte ja von der Zeit, als eine unverheiratete Frau in solchem Falle zum Vater oder zu Verwandten gehen und bekennen mußte, daß sie leichtsinnigen Vergnügungen nachgegangen war, und daß sie nun die Kosten bezahlen sollten — sogar mit der Aussicht, später niemals ihre Versorgung auf jemand anders abschieben zu können. So daß diese dann mit gutem Recht erbittert waren.

Aber niemand hatte das Recht, sich über sie zu erbittern. Schlimm war es natürlich der Mama wegen. Aber Herrgott, wenn ein erwachsener Mensch versuchte, sein Leben nach eigenem Gewissen zu leben, so hatten die Eltern zu schweigen. Sie hatte versucht, ihrer Mutter so viel zu helfen, wie es ihr möglich war, hatte sie nie mit Sorgen geplagt, niemals ihren Ruf einer leichtsinnigen Tat wegen aufs Spiel gesetzt — in Vergnügen oder Bummeln. Aber dort, wo ihre Ansichten über Recht und Unrecht mit denen guter Bürger auseinander gingen, hatte sie den eigenen zu folgen, selbst wenn es der Mutter weh tun würde, daß die Bürger häßlich von ihr redeten.

War ihr Verhältnis mit Gert sündig, so bestand die Sünde jedenfalls nicht darin, daß sie zuviel gegeben hatte, sondern zu wenig. Und wie es auch endete, so mußte sie dafür leiden und durfte nicht mucksen.

Ein Kind zu versorgen, müßte sie eigentlich genau so gut imstande sein wie alle die Mädchen, die nicht ein Zehntel von dem konnten, was sie an Fähigkeiten besaß. Etwas Geld hatte sie ja auch noch übrig, so daß sie fortreisen konnte. War es auch ein kümmerlicher Beruf, den sie sich gewählt — viele ihrer Kollegen mußten doch sogar Frau und Kinder damit ernähren. Außerdem hatte sie, seit sie annähernd erwachsen war, anderen helfen müssen.

Natürlich wäre es ja das Beste, der Sache zu entgehen. Bisher war es ja gut gegangen.

Sie wollte nicht daran denken. —

Gert würde wohl verzweifelt sein.

Oh, aber Herrgott — wenn es zutraf — jetzt! Wäre es wenigstens damals gekommen, als sie ihn liebte — oder ihn zu lieben glaubte. Damit sie in diesem Glauben hätte von ihm fortreisen können. Aber jetzt, jetzt, wo alles, was zwischen ihnen bestanden hatte, in kleine Stückchen zerbröckelte, von ihrem Denken und Grübeln aufgezehrt.

Sie hatte es in diesen Wochen hier auf Tegneby klar empfunden, daß es so nicht weitergehen könne. Sie hatte sich hinausgesehnt, nach neuen Verhältnissen, neuer Arbeit. Ja, die Arbeitssehnsucht war zurückgekehrt. Sie hatte dieses krankhafte Verlangen von sich abgeschüttelt, sich an einen Menschen anzuklammern, von ihm umschmeichelt, umsorgt und „kleines Mädchen“ genannt zu werden.

Sie hatte sich im Schmerz zusammengekrampft, wenn sie an den Bruch dachte, und daß sie ihm wehe tun mußte. Aber Herrgott — sie hatte ihm doch gegeben, solange sie konnte. Gert war glücklich gewesen. Jedenfalls war er dem erniedrigenden Sklavendasein mit ihr — der Frau — entronnen.

Was sie selbst betraf, so hatte sie resigniert. Arbeit und Einsamkeit würden ihr Leben bedeuten. Diese Monate aus ihrem Dasein auslöschen, das wußte sie, konnte sie nicht. Sie würde die Erinnerung daran behalten und die bittere Lehre dieser Zeit, daß die Liebe, die vielen genügte, nicht für sie ausreichte, mit sich nehmen. Für sie schien es besser, zu entbehren, als sich zu begnügen.

O ja, vergessen würde sie diese Monate nicht. Aber gemildert würden sie vor ihr stehen, und umgedichtet zu Erinnerungen an das kurze, schmerzdurchzogene Glück und die bittere, reueerfüllte Qual. Mit der Zeit wollte sie die Erinnerung an den Mann, gegen den sie blutiges Unrecht verübt hatte, halbwegs auszulöschen suchen.

Und jetzt trug sie vielleicht sein Kind.

Aber es war ja undenkbar. Es war ja sinnlos, darüber nachzugrübeln. Aber wenn es doch Wahrheit wurde?

Jenny schlummerte endlich ein. Draußen war es schon ganz hell. Sie schlief traumlos und tief. Als sie aber auffuhr, hellwach, war es nicht viel lichter. Der Himmel war drüben über den Baumkronen des Gartens ein wenig gelblicher und die Vögel zwitscherten schläfrig.

Die gleichen Gedanken stellten sich im selben Augenblick wieder ein. Jenny wußte, daß sie diese Nacht kaum mehr schlafen würde. Resigniert gab sie nach und dachte alles von neuem durch.