Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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XII.

Gunnar schritt über den schmalen, grasbewachsenen Weg zwischen hohen, weißgekalkten Gartenmauern dahin. Auf der einen Seite lag die Kaserne, eine Terrasse mußte dort drinnen sein — hoch über seinem Kopf standen einige Soldaten, lachend und leise plaudernd. An der Ecke wippte ein Büschel gelber Blumen, die in einem Mauerspalt wucherten. Doch auf der anderen Seite des Weges ragten die gewaltigen alten Pinien an der Cestiuspyramide und der dichte Zypressenwald auf dem neuen Teil des Kirchhofs zum blauen, silberbewölkten Himmel empor.

Vor dem Gittertor saß ein halberwachsenes Mädchen im Gras und häkelte. Sie öffnete ihm und knickste dankend, als er ihr eine Münze reichte.

Die Luft war lenzhaft feucht, klar und weich. Hier drinnen auf dem Friedhof in dem dichten, grünen Schatten wurde sie treibhausartig warm und naß. Die Narzissen in den Rabatten am Wege dufteten heiß und schwül.

Die alten Zypressen umstanden dicht wie ein Hain die Gräber, die sich, dunkelfarbig von dem kriechenden Laube des Immergrüns und der Veilchen in Terrassen bis zur epheubewachsenen alten Stadtmauer hinzogen. Die Gedenktafeln der Toten leuchteten — kleine Marmortempel, weiße Engelstatuen und schwere große Sarkophage. Moos breitete sich darüber aus und schimmerte an den Stämmen der Zypressen. Hier und da war eine weiße und rote Blüte in den dunkelleuchtenden Kronen der Kamelienbäume zurückgeblieben, doch der größte Teil lag braun und welk auf dem schwarzen, feuchten Humus, dessen herber, klammer Duft zu ihm aufstieg. Ihm fiel etwas ein, was er einmal gelesen hatte — die Japaner liebten die Kamelien nicht, denn ihre Blüten fielen voll und frisch ab wie abgehauene Köpfe. —

Jenny Winge war am weitesten drüben auf dem Friedhof begraben worden, in der Nähe der Kapelle. Am äußersten Rande eines lichtgrünen, von Tausendschön übersäten Grashügels, wo erst wenige Gräber lagen. Am Rasenplatz entlang waren Zypressen gepflanzt worden. Sie waren aber noch winzig klein, glichen Spielzeug mit den spitzen, schwarzgrünen Kronen über den ranken, gezwirbelten braunen Stämmen, die an Säulen im Kreuzgang eines Klosters gemahnten.

Ihr Grab lag ein wenig für sich auf dem Anger. Das Gras war ringsherum abgestochen worden, so daß der Hügel von einem Erdstreifen umgeben war. Er war hellgrau, die Sonne schien darauf und die Zypressen erhoben sich dahinter wie eine Mauer.

Gunnar preßte die Hände gegen sein Gesicht und ließ sich auf die Knie nieder, bis sein Kopf ganz auf den welken Blumenkränzen lag.

Er fühlte die Müdigkeit des Lenzes in allen Gliedern, und das Blut rann krank vor Trauer und Leid bei jedem schweren Schlage seines Herzens. Jenny — Jenny — Jenny — ihren lichten Namen hörte er in jedem Vogelpfiff des Frühlings — und sie war tot —.

Sie lag dort drunten in der Finsternis. Eine Locke ihres blonden Haares hatte er abgeschnitten und trug sie in seinem Taschenbuch bei sich. Er nahm sie wohl hervor und ließ sie in der Sonne funkeln — die kleinen armseligen Fünkchen waren alles, was die Sonne jetzt zünden konnte von all ihrem schweren, schimmernden Haar.

Sie war tot und fort. Einige Bilder hatte sie hinterlassen, und ein Abschnitt über sie stand in den Zeitungen. Eine Mutter und einige Schwestern blieben zurück, die über ihre Jenny trauerten — die wahre hatten sie nie gekannt, sie wußten nichts über ihr Leben und ihren Tod. Da waren die anderen — die starrten verzweifelt nach der Jenny, die sie gekannt —. Sie wußten einiges, verstanden aber nichts.

Es war nur seine Jenny, sie, die hier lag.

Helge Gram war zu ihm gekommen. Er hatte gefragt und hatte erzählt, er hatte gejammert und gebettelt:

„Ich verstehe ja nichts. Weißt du es — oh, erkläre es mir, Heggen. Du weißt es. Kannst du mir nicht sagen, was du weißt!“

Er hatte nicht geantwortet.

„Da war ein anderer. Sie selbst sagte es. Wer war es? Warst du es?“

„Nein.“

„Weißt du, wer es war?“

„Ja, aber ich will es nicht sagen. Es nützt nichts, daß du fragst, Gram.“

„Ja, aber ich werde verrückt, hörst du, Heggen — ich werde wahnsinnig, wenn du mir nicht erklären kannst —.“

„Du hast kein Recht, Jennys Geheimnisse zu wissen.“

„Aber weshalb tat sie es denn? Meinetwegen — seinetwegen — deinetwegen?“

„Nein. Sie tat es allein ihretwegen.“

Dann hatte er Gram gebeten, zu gehen. Jetzt war er fortgereist. Sie hatten sich seitdem nicht wieder gesehen.

Es war oben im Borghesegarten gewesen, als Gram zu ihm kam. Einige Tage nach der Beerdigung. Er hatte dort im Sonnenschein gesessen. Er war so müde. Er hatte alles ordnen und die nötigen Erklärungen nach allen Richtungen abgeben müssen — anläßlich der Untersuchung des Selbstmordes, des Begräbnisses — an Frau Berner hatte er geschrieben, daß ihre Tochter plötzlich an Herzschlag verstorben sei. Aber etwas in all dem hatte ihm gut getan. Die Tatsache, daß niemand von seinem Leide wußte. Daß die große Erklärung, die er kannte, die einzig wahre war — und die behielt er für sich. Das hatte seinen Schmerz so unendlich tief in ihn versenkt. Jetzt würde er nie zu einem Menschen davon sprechen. Er war sein eigen, ganz allein. Er würde den innersten Kern seiner Seele für alle Zeiten bilden.

Er würde sein Wesen färben und von seinem Wesen seine Farbe erhalten. Er würde seinem Leben Richtung geben — und von ihm gelenkt werden — würde Farbe und Form mit ihm wechseln, aber nie aus seinem Leben getilgt werden können. Zu jeder Stunde des Tages in dieser ganzen Zeit war er verschiedenartig — aber immer war er da, und so würde es immer sein.

Gunnar entsann sich des Morgens, als er zum Arzt lief, während der andere mit ihr allein geblieben war — damals hatte er Helge Gram sagen wollen, was er wußte, und es ihm sagen wollen, daß des anderen Herz zu Asche zerfiel — wie sein eigenes.

Aber während der Tage, die dazwischen lagen, war alles, was er wußte, zu einem Geheimnis zwischen der toten Frau und ihm geworden, zum Geheimnis ihrer Liebe. Alles, was geschehen war, war geschehen, weil sie war, wie sie war, und so, wie sie war, hatte er sie geliebt. Helge Gram aber war ein gleichgültiger und zufälliger Fremder für ihn und für sie, und er empfand nicht das Bedürfnis, sich an ihm zu rächen, ebensowenig wie er Mitleid mit Helges Trauer hatte und mit seinem Entsetzen über das Unfaßliche, was geschehen war.

Diesen Menschen hatte ja nur der Zufall gesandt. Weil sie war, wie sie war, geschah das alles. Ihr Sinn mußte sich eines Tages verwirrt einem Windstoß beugen und fügen, weil er so rank und schlank emporgewachsen war. Er selbst hatte geglaubt, sie könnte wachsen wie ein Baum, und hatte nicht verstanden, daß sie nur wie eine Blume emporkeimte, um Sonne zu bekommen und Blüten zu treiben mit all ihren schweren, sehnsuchtsvollen Knospen. Auch sie war nur ein kleines Mädchen gewesen. Und das würde als ewiger Schmerz in seinem Herzen zurückbleiben, daß er das erst begriffen, nachdem es zu spät war.

Sie konnte sich nicht wieder aufrichten, nachdem sie einmal geknickt war. Sie war wie eine Lilie, die auch nicht aus der Wurzel aufs neue treiben konnte, wenn der erste Stengel gebrochen wurde. In ihrem Wesen lag nichts Geschmeidiges und Ueppiges. Aber er liebte sie, wie sie war.

Und ihre Eigenart gerade verstand nur er allein. Er allein wußte, wie blond und rein sie gewesen, wie aufstrebend, stark und rank, und doch wie zerbrechlich und spröde mit ihrer empfindsamen Ehre, von der ein Fleck niemals abgewaschen werden konnte, weil er seine Furchen zu tief eingrub.

Jetzt war sie tot. Und er war mit seiner Liebe viele Tage und Nächte allein gewesen. Seines ganzen Lebens Tage und Nächte mußte er nun mit ihr allein bleiben.

Es hatte Nächte gegeben, in denen er verzweifelte Schreie in den Kissen seines Bettes erstickte. Sie war tot, und er hatte sie nie besessen. Ihn aber hatte sie lieben, ihm hatte sie angehören sollen, und sie war die einzige, die er geliebt. Sie war tot, und ihren herrlichen, schlanken weißen Körper, der ihre Seele umschloß wie eine sammetene Scheide eine schmale und feine, spröde Klinge, hatte er nie berührt, nie gesehen. Andere hatten ihn besessen und nie gewußt, welch wunderbarer und seltener Schatz es war, der sich in ihre Hände verirrt hatte. Jetzt lag er vergraben in der Erde, häßlich, häßlich würde er verändert werden, verzehrt und aufgelöst, bis er zu einem Häuflein Erde inmitten der Erde zerfiele.

Gunnar lag, erschüttert von Schluchzen, auf dem Erdboden.

Andere hatten sie besessen. Sie aber hatten sie besudelt und vernichtet, und hatten nicht gewußt, was sie taten. Er hatte sie nie gehabt.

Solange er lebte, würden Stunden kommen, wo er jammerte wie jetzt, daß es so war.

Und doch hatte nur er allein sie besessen. Nur in seiner Hand konnte ihr goldenes Haar jetzt funkeln. Sie selbst, sie lebte jetzt in ihm, ihre Seele und ihr Bild spiegelten sich in ihm, so klar und scharf wie in einem stillen Wasser. Sie war tot, ihr Leid gehörte ihr nicht mehr — es war jetzt in ihm — dort lebte es weiter und würde nicht sterben, bis er selbst einst starb. Weil es lebte, würde es aber wachsen und sich verändern — er konnte nicht wissen, wie sein Leid in zehn Jahren aussehen würde, aber es konnte zu etwas Großem und Herrlichem wachsen.

Solange er lebte, würden Stunden kommen, in denen er eine merkwürdig schwere und tiefe Freude empfinden würde, daß es so war.

Doch jene Morgenstunden, als er auf der Terrasse über ihrem Haupte auf und ab ging, während sie ihrem Leben ein Ende machte. Er entsann sich dunkel, welche Gefühle ihn beherrscht hatten. Ein Aufruhr hatte in ihm getobt, sein Herz war in Harm und Zorn über ihre Tat, gegen sie erbittert. Er hatte gebettelt und gefleht, um ihr helfen zu dürfen, um sie aus dem Sumpf zu retten, in den sie sich verirrt — und sie hatte ihn von sich gewiesen und sich vor seinen Augen weggeworfen, auf Frauenart, eigensinnig, verantwortungslos, töricht, trotzig.

Aber als er sie dann liegen sah — er hatte auch darüber gerast, verzweifelt. Er würde sie dennoch nicht aufgegeben haben. Was sie auch getan hätte — er hätte sie freigesprochen, ihr geholfen, ihr sein Vertrauen, seine Liebe geschenkt, trotz allem.

Solange er lebte, würden Stunden kommen, in denen er ihr vorwerfen würde, daß sie den Tod gewählt hatte — Jenny, du hättest es nicht tun sollen. Aber es würden auch Stunden kommen, da er finden würde, sie hatte es tun müssen, so wie sie war. Auch darum liebte er sie — ewig, solange er lebte.

Nur eines würde nie eintreten — der Wunsch, daß er sie nie geliebt hätte.

Wie er geweint hatte, verzweifelt, würde er wieder weinen müssen. Darüber, daß er sie nicht eher geliebt. Ueber die Jahre, die er neben ihr dahingelebt hatte, als sie sein Freund und Kamerad war, und er nicht sah, daß sie das Weib war, das seines Lebens Gefährtin sein sollte.

Aber nie würde der Tag kommen, an dem er wünschte, er sei niemals sehend geworden, wenn auch nur, um zu entdecken, daß es zu spät war.

Gunnar richtete sich auf den Knien auf. Er holte eine kleine flache Pappschachtel aus der Tasche hervor und öffnete sie. Darin lag eine kleine Perle von Jennys rosa Kristallhalskette. Als er ihre Sachen ordnete, fand er die Kette im Nachttisch; die Schnur war zerrissen. Eine Perle hatte er an sich genommen und verwahrte sie.

Er nahm etwas Sand vom Grabe und legte ihn in die Schachtel. Die Perle rollte hin und her und wurde über und über mit grauem Staub bedeckt, aber das klare Rosa leuchtete hindurch, und die feinen Funken im Kristall schimmerten und brachen sich im Sonnenlicht.

All ihr Eigentum hatte er sorgfältig verpackt und an ihre Angehörigen geschickt, sorgsam alle Briefe gesammelt und sie verbrannt. In einem versiegelten Pappkasten lag ihr Kinderzeug. Das hatte er Franziska geschickt, da Jenny eines Tages davon gesprochen hatte, daß sie es tun wollte.

Ihre Mappen und Skizzenblätter hatte er durchgeblättert und sie darauf zusammengepackt. Aber erst hatte er vorsichtig einige Blätter mit Zeichnungen von ihrem Buben herausgeschnitten und sie in seinem Taschenbuch verwahrt.

Sie waren sein. Alles, was in ihrem Leben ihr allein gehört hatte, das war jetzt sein.

Draußen auf dem Rasen wuchsen einige rotviolette Anemonen. Er erhob sich gedankenlos und pflückte sie.

Ach Frühling, Frühling.

Er entsann sich des letzten Males, als er im Frühling daheim war, es war jetzt zwei Jahre her.

Auf der Umsteigestation erwartete ihn ein Karren mit einer roten Mähre davor. Der Besitzer des Gefährtes war ein alter Schulkamerad. An einem sonnenklaren Märzvormittag fuhr er auf dem Feldweg daher. Unter dem lichtblauen Himmel breiteten sich Felder mit gelblichfahlem altem Grase aus. Wo der verwitterte Hügel sich über der Ebene erhob, standen Wacholder, Birken und Ebereschen in kleinen Gruppen bei einander, die nackten glatten Zweige in die Luft streckend. Die Düngerhaufen auf den gepflügten Feldern glänzten wie goldbrauner Sammet. Gehöfte tauchten auf, eines nach dem anderen, mit den bekannten Umrissen der Scheunen, mit gelben, grauen und roten Häusern, mit Aepfelgärten und Fliederbüschen davor. Um den Ort zog sich der Wald, olivengrün, mit einem lenzhaften, violetten Schimmer über den Birkenästen. Ein vereinzelter Streifen Schnee lag nordwärts grünlichweiß im Schatten.

Ueber das ganze Kirchspiel herab rieselten an jenem Tage Triller unsichtbarer Lerchen.

Er nahm zwei weißschöpfige Bürschchen mit, die mit einem Eimer voll Essen über den Weg trabten. Armselig gekleidet, in Holzschuhen trotteten sie durch den Schmutz.

„Wo wollt ihr hin, Jungens?“

Sie blieben stehen und betrachteten ihn mißtrauisch.

„Wollt ihr vielleicht dem Vater Essen bringen?“

Sie gaben es zögernd zu, ein wenig überrascht, daß der fremde Mann das wissen konnte.

„Klettert herauf, dann dürft ihr mitfahren.“

Er hob sie in den Wagen.

„Wo arbeitet euer Vater denn, was?“

„Auf Brustad.“

„Brustad — ah so — ist das nicht der Schule gegenüber?“

So ging das Gespräch hin und her. Der dumme, unwissende erwachsene Mann fragte und fragte, wie Erwachsene immer mit Kindern sprechen. Der Erwachsene fragt, und die Kleinen, die so viel Weisheit besitzen, konferieren stumm mit Augenblinzeln und geben mit Vorbehalt nur so viel zum besten, als sie für angemessen halten.

Hand in Hand trabten sie über den Erdboden unter den rostbraunen Palmweiden an dem brausenden Bach entlang, nachdem er sie abgesetzt hatte. Er sah ihnen eine Weile nach, wendete den Wagen und fuhr seinem eigenen Ziele zu.

Daheim hatten sie abends Lesestunde. Ingeborg, seine Schwester, saß drüben neben dem alten Eckschrank aus Birkenholz und lauschte mit ekstatisch bleichem Antlitz und stahlblau glänzenden Augen einem Schuhmachermeister aus Fredriksstad, der von Gnade sprach. Dann sprang sie auf und sprach ihr Glaubensbekenntnis, zitternd vor Leidenschaft.

Ingeborg, seine schöne, frische Schwester! Wie wild war sie einst gewesen, wie hatte sie Tanz und Vergnügen geliebt! Und Lesen und Lernen! Während er in der Stadt arbeitete, mußte er ihr Bücher und Broschüren senden und den „Socialdemokraten“ in Paketen zweimal die Woche. Alles wollte sie wissen und lernen. Dann, als sie dreißig Jahre alt war, wurde sie erweckt. Jetzt redete sie mit Zungen. —

Ihre ganze Liebe hatte sie auf ihren kleinen Brudersohn Anders geworfen, und das kleine Mädelchen, das sie in Pflege hatten, ein uneheliches Kind aus Kristiania. Mit blitzenden Augen erzählte sie ihnen von Jesus, dem Kinderfreund.

Am Tage darauf schneite es. Er hatte die Kinder ins Lichtspieltheater eingeladen, in einer kleinen Stadt eine halbe Meile von ihrem Kirchspiel entfernt.

Sie trabten an einem Steinwall zwischen dem Nadelwald und den Feldern entlang. Alles war grauweiß von nassem Märzschnee — nur ihre Fußspuren blieben dunkel hinter ihnen zurück. Er versuchte, die Kinder zu unterhalten; fragte, und sie gaben ihre bedächtigen, zurückhaltenden Antworten.

Aber auf dem Heimwege waren es die Kinder, die fragten, und geschmeichelt antwortete er ihnen ausführlich, ohne Vorbehalt. Sie hatten Bilder von Cowboys in Arizona gesehen, und einer Kokosernte auf den Philippinen. Er wurde eifrig und tat sein Bestes, um ordentlich Bescheid zu geben und sich nicht festzufahren.

O Frühling, Frühling!

Es war auch ein Frühlingstag, als er mit ihnen, Jenny und Franziska, nach Viterbo gefahren war.

Schlank hatte sie in ihrem schwarzen Kleide dagesessen und aus dem Fenster gestarrt. Wie groß und grau ihre Augen waren — genau erinnerte er sich dessen.

Ueber die Campagna — hier, wo keine Ruinen standen, die die Touristen an sich zogen, höchstens hin und wieder in weiten Zwischenräumen eine zusammengestürzte, formlose und namenlose Mauermasse, oder dieser und jener kleine Pachthof mit zwei Pinien und einigen spitzen Strohmieten vor dem Hause — hier fegten Sturmwolken grauschwarze, zerfetzte Regenschleier über die öde, braune Weite hin. Die Schafherden drunten im Tale, wo hin und wieder etwas dorniges Gebüsch an dem Bette eines Bächleins entlang wucherte, drängten sich zusammen.

Dann fuhr der Zug zwischen Bergrücken und Wäldern hindurch, hochstämmigem Eichwald, wo es weiß und blau und gelb in dem alten verwelkten Laub blühte, wie daheim. Weiße Anemonen, blaue und schwefelgelbe Primeln. Sie sehnte sich danach, hinauszukommen und sie zu pflücken, sagte sie — zu sammeln und zusammenzuraffen im fallenden Regen, unter den triefenden Zweigen, in dem nassen Laube. „Es ist wie im Frühling daheim,“ sagte sie.

Es hatte hier geschneit — graunasser Frühlingsschnee lag in den Lüften — an den herabgefallenen Zweigen schmolz er zu hellen Streifen ein. Die Blumen senkten ihre zusammengeklebten Kelche herab, naß und schwer vom Schlamm.

Kleine Wildbäche sprudelten die Abhänge hinab und schlüpften unter den Bahnkörper. Hier färbte sie der Erdboden rostrot.

Dann peitschte ein Regenschauer gegen die Abteilfenster und blendete sie, trieb den Rauch der Lokomotive zur Erde nieder. Später klärte es sich ein wenig auf, ein Lichtschimmer breitete sich über Tälern und waldbestandenen Berghalden aus, der Nebel wich über die Gebirge zurück.

Einige seiner Sachen hatte er in einen der Koffer der jungen Mädchen gepackt. Abends, als es ihm einfiel, hatten sie bereits begonnen sich auszukleiden. Sie lachten und plauderten drinnen, als er kam und an ihre Türe pochte. Jenny öffnete einen Spalt und reichte ihm das Erbetene hinaus. — Sie trug eine durchsichtige Frisierjacke mit kurzen Aermeln, so daß der schmächtige, weiße Arm entblößt war. Der hatte ihn zum Küssen verlockt, und doch wagte er nur einen einzigen so flüchtigen, scherzhaften, daß dieser Kuß von selber um Verzeihung bat.

Damals war er verliebt in sie gewesen. Als er berauscht war vom Lenz, vom Wein und dem munteren, peitschenden Regen, den hastigen Sonnenstrahlen und seiner eigenen Jugend und Lebenskraft. Er hatte das Verlangen, sie mit zum Tanz zu nehmen, das hohe, lichte Mädchen, das so behutsam lachte, als versuche sie eine neue Kunst, die sie nie zuvor getrieben. Sie, die mit ihren grauen Augen hinausstarrte, ernst und sehnsuchtsschwer, auf all die Blumen, an denen sie vorüber fuhren und die sie so gern hatte pflücken wollen.

Oh, Herr mein Gott, wie hätte alles sein können! Das trockene, bittere Schluchzen erschütterte ihn von neuem.

An jenem Tage, als sie zum Montefiascone emporstiegen, regnete es auch, daß es um der beiden Frauen geraffte Röcke und schmale Knöchel und Füße vom Steinpflaster hoch aufspritzte. Wie hatten sie aber gelacht, die drei, während sie durch die steilen, schmalen Straßen wateten, wo der Regen ihnen, Wasserfällen gleich, entgegenrauschte.

Als sie dann auf der Rocca angelangt waren, der Burgklippe inmitten des kleinen alten Städtchens, da teilten sich die Wolken.

Sie beugten sich alle drei über die Brustwehr und blickten an den Bolsenersee hernieder, der tief unter den grünen Hängen mit den Olivenhainen und Weingärten schwarz dalag. Die Wolken schwebten niedrig über den Bergkuppen rings um den See. Dann aber lief ein silberschlanker Regenschauer über den dunklen Wassersspiegel, breitete sich aus und wurde blau, der Nebel wallte zurück und glitt in Senkungen und Klüfte, während die Linien der Gebirge hervortraten. Die Sonne brach durch die herabsinkenden Wolken, die sich golden und bleiernblau um den Fuß kleiner, von steingrauen Burgstädten gekrönter Berge legten. Im Norden, weit entfernt, tauchte eine hohe, kegelförmige Spitze auf. Cesca behauptete, es sei der Monte Amiata.

Ueber den frisch gewaschenen, blauen Lenzhimmel hin zogen sich die letzten Reste der Regenwolken fort, schwer und silberverbrämt, vor der Sonne zerfließend; das Unwetter flüchtete westwärts, dunkel drohend, dorthin, wo die etrurische Hochebene sich braunschwarz und einsam zum fernen, weißgelben Glanzstreifen des Mittelmeeres herabsenkte.

Oede, groß und streng war das Land weithin, wie eine Hochgebirgslandschaft daheim, trotz der grauen Olivenhaine und Weinranken, die sich zwischen den Reihen der Ulmen auf den grünen Hügeln am See hinzogen.

In den kleinen Anlagen oben rings um die Burgruine warfen die Steineichen ihre eisenschwarzen alten Blätter von den Zweigen ab, die schon neue Knospen trugen. Hier waren Hecken von einer Art immergrünen Buschwerks mit lederartigem Laub. Das junge neue von diesem Frühling glänzte in unnatürlichem Goldgrün.

Gemeinsam mit ihr hatte er sich in den Schutz der Hecke gehockt und seine Jacke vorgehalten, damit sie sich eine Zigarette anzünden könnte. Der Lenzwind blies eisig scharf und rein hier oben, so daß sie in ihren nassen Kleidern leicht erschauerte. Ihre Wangen waren rot und die Sonne glänzte auf dem feuchten, goldenen Haar, das sie sich mit der freien Hand aus den Augen strich.

Dort hinauf wollte er reisen. Morgen schon.

Dort wollte er den Lenz grüßen, den frierenden, nackten, erwartungsvollen Lenz, dessen Blütenaugen ringsum geblendet sind von Nässe, vor Kälte im Winde zittern und dennoch blühen.

Der Lenz und sie — sie waren jetzt eins für ihn. O Gott — sie, die dort oben stand und fror und lachte, in dem unbeständigen Wetter, und alle Blumen in ihrem Schoße sammeln wollte.

„Ach, du meine kleine Jenny, du konntest nicht all die Blumen pflücken, wie du gewollt, deine Träume erblühten nie — und jetzt träume ich sie.

Wenn ich dann lange genug gelebt habe, so daß mich Sehnsucht erfüllt wie einst dich — vielleicht tue ich dann wie du und spreche zu meinem Schicksal, gib mir einige Blüten nur, ich begnüge mich mit weit Geringerem, als ich ersehnte, da ich mein Leben begann. Und dennoch sterbe ich nicht, wie du gestorben bist, denn dir konnte es doch nicht genügen. Ich behalte nur die Erinnerung an dich, küsse deine Perle und dein goldenes Haar und denke, nein, sie konnte nicht leben, wenn sie nicht die Beste sein und das Beste als ihr Recht fordern durfte. Dann sage ich vielleicht, dem Himmel sei Dank, daß sie lieber den Tod wählte, als so weiterzuleben.

Aber heute Nacht gehe ich hinaus auf den Petersplatz und lausche des Springbrunnens ekstatischer Musik, die niemals schweigt und träume meinen eigenen Traum.

Ja, Jenny, denn nun bist du mein Traum, niemals habe ich einen anderen gehabt. —

Ach, Träume, Träume.

Wenn dein Kind gelebt hätte, Jenny, so wäre es nicht geworden, wie du es dir geträumt hattest, als du den Knaben in deinen Armen hieltest und ihm deine Brust reichtest. Gut und schön hätte er werden können — oder schlecht und häßlich — nur wie du ihn erträumtest, so wäre er nicht geworden. —

Keine Frau hat je das Kind geboren, von dem sie träumte, als sie schwanger ging. Kein Künstler hat je das Werk geschaffen, das er in der Stunde der Eingebung vor sich sah. Wir erleben Sommer auf Sommer, aber keiner ist wie der, den wir herbeisehnten, als wir uns niederbeugten und die ersten nassen Blüten unter den Sturmschauern des Lenzes pflückten.

Keine Liebe wurde so, wie sie zwei erträumten, die einander zum ersten Male küßten. Hätten wir, du und ich, zusammen gelebt — wir hätten glücklich oder auch unglücklich mit einander werden können; wir konnten einander unsagbare Freude oder unsagbares Leid zufügen. Jetzt aber werde ich niemals erfahren, wie unsere Liebe geworden wäre, wenn du mir angehört hättest. Das Einzige, was ich weiß, ist: so, wie ich sie erträumte in jener Nacht, als ich mit dir zusammenstand, und der Springbrunnen im Mondenschein plätscherte — so wäre unsere Liebe nicht geworden. Und das ist bitter. — —

Dennoch. —

Herr mein Gott — ich wünsche nicht, daß ich diesen Traum nie geträumt hätte. Und ich möchte den Traum nicht missen, dem ich mich jetzt hingebe.

Jenny, mein Leben wollte ich opfern, könntest du mir droben auf der Bergklippe begegnen wie einst, könntest du mich küssen, mir nahe sein — einen Tag nur, eine Stunde. — Ständig, unablässig muß ich daran denken, wie unser beider Leben sich gestaltet hätte, wenn du nicht von mir gegangen, wenn du mein eigen geworden wärest. Ach Jenny, ein grenzenloses Glück ist verspielt. Du bist nicht mehr und hast mich so arm, so arm gemacht. Nur meine armseligen Träume umweben dich und irren ruhelos umher, dich zu suchen. — Und dennoch. Messe ich meine Armut an der Anderen Reichtum, so dünkt sie mich überwältigend reich und strahlend. Sollte ich sie auch mit meinem Leben bezahlen, so würde ich doch nimmer meine Liebe zu dir, meine Träume und meinen Gram um dich, wie er mich jetzt zerreißt, hingeben ....“

Gunnar Heggen wußte nicht, daß er in seines Herzens grenzenlosem Aufruhr seine Arme gen Himmel streckte und halblaut vor sich hinflüsterte. Die Anemonen, die er gepflückt, hielt er noch immer in seinen Händen, aber er wußte es nicht.

Die Soldaten auf der Kasernenmauer lachten über ihn, aber er sah es nicht. Er preßte die Blumen gegen seine Brust und murmelte leise vor sich hin, während er sich von dem Sonnenschein, der über dem Grabe lag, langsam dem dunklen Zypressenhain zuwandte.

 

Ende.

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