Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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XI.

Den ganzen Tag hindurch war das Wetter trübe gewesen, mit kalten, fahlgrauen Wolken hoch oben am Himmel. Jetzt gegen Abend zeigten sich einige dünne, messinggelbe Streifen über dem westlichen Horizont.

Jenny war am Nachmittag auf den Monte Celio gegangen, um zu zeichnen. Es war nichts daraus geworden — sie hatte nur auf der großen Freitreppe vor San Gregorio gesessen und gedankenverloren in den Hain geblickt, dessen große Bäume unter dem fahlen Himmel lenzhaft zu knospen begannen und in dem die Tausendschön hell unter dem grünen Grase leuchteten.

Sie ging jetzt durch die Allee, die unter dem Südhang des Palatins dahinläuft, wieder zurück. Ueber die Palmen des Klosters auf dem Gipfel ragte die Masse der Ruinen grau und verwittert gen Himmel. Den Abhang hinab zogen sich die ewiggrünen Büsche, jetzt fast schwarz mit Kalkstaub gepudert.

Vor dem Konstantinsbogen, auf dem Platz zwischen den Ruinen des Colosseum, des Palatin und des Forums schlichen einige verfrorene Ansichtskartenverkäufer umher. Nur wenig Touristen waren heute draußen. Einige spindeldürre Damen feilschten in unmöglichem Italienisch mit einem wandernden Mosaikkrämer.

Ein kleiner Bursche, vielleicht drei Jahre alt, klammerte sich an Jennys Mantel fest und hielt ihr einen Büschel Stiefmütterchen entgegen. Er hatte seltsam schwarze Augen, war langhaarig und in Nationaltracht herausgeputzt, mit spitzem Filzhut, Sammetjacke und Sandalen über den weißwollenen Socken. Als er um einen Soldo bat, hörte sie, daß er noch nicht richtig sprechen konnte.

Jenny reichte ihm die Münze, als plötzlich seine Mutter an ihre Seite fegte und das Geldstück dankend in Verwahrung nahm. Auch sie hatte den Versuch gemacht, ihrer Tracht einen leichten nationalen Anstrich zu geben, hatte ein rotes Sammetkorsett über ihre schmutzige, karierte Bluse geschnürt und ein Tuch im Viereck über das Haar gebreitet. Im Arme trug sie ein kleines Kind.

Es sei drei Wochen alt, erfuhr Jenny, als sie fragte. Das arme Wesen war krank.

Das Kind war nicht viel größer als Jennys Knabe nach der Geburt. Seine Haut war rot und wund und schälte sich, es atmete pfeifend, als seien die Luftröhren voller Schleim, und die Augen blickten glanzlos unter den entzündeten halbgeschlossenen Lidern hervor.

Ja, sie ginge jeden Tag mit ihm zur Poliklinik, sagte die Mutter. Aber sie meinten, es würde sterben. Es wäre auch für das arme Ding das Beste. Die Frau sah müde und mißmutig aus, obendrein war sie häßlich und zahnlos.

Jenny fühlte ein Weinen in der Kehle aufsteigen. Armes, kleines Wesen. Ja, für das Kind wäre es das Beste, wenn es stürbe. Armer kleiner Krüppel. Sie strich liebkosend über das häßliche Gesichtchen.

Sie hatte der Frau noch etwas Geld gegeben und wollte eben gehen. In diesem Augenblick ging ein Herr vorüber. Er grüßte, zögerte einen Augenblick, ging dann aber weiter, da Jenny den Gruß nicht erwiderte. Es war Helge Gram.

Sie hatte es gar nicht begriffen, daß sie hätte grüßen müssen. Sie hockte sich vor den kleinen Burschen mit den Blumen und ergriff seine Hände, zog das Kind näher zu sich heran und plauderte mit ihm, indem sie versuchte, das wahnsinnige Beben niederzuzwingen, das durch ihren Körper raste.

Einmal wandte sie den Kopf und blickte in die Richtung, in der er weitergegangen war. Drüben auf der Treppe, die zum Platz am Colosseum führte und zur Straße hinauf, stand er und sah herüber.

Sie fuhr fort, in hockender Stellung mit der Frau und dem Kinde zu sprechen. Als sie wieder aufsah, war er gegangen — aber sie wartete, noch lange, nachdem sein grauer Hut und Mantel verschwunden war.

Dann rannte sie förmlich nach Hause zu, durch Hintergäßchen und Schlupfwinkel, vorsichtig um jede Ecke biegend, voller Angst, daß er ihr hier begegnen könnte.

Weit drüben jenseits des Pincio hielt sie inne. Sie aß dort in einer Trattoria zu Abend, in der sie vorher nie gewesen war.

Als sie ein wenig verweilt und einige Schluck Wein getrunken hatte, wurde sie ruhiger.

Wenn sie nun Helge begegnete und er sie anredete, so war es natürlich peinlich. Selbstverständlich würde sie es am liebsten vermeiden. Aber wenn es sich nun so traf, brauchte sie deshalb eine so sinnlose Furcht zu hegen? Sie waren ja beide fertig miteinander; für das, was geschehen war, nachdem sie auseinander gegangen waren, hatte er sie nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn er es tat, so kam ihm kein Recht dafür zu. Was er auch wußte, was er auch sagen mochte, sie wußte ja selbst, was sie getan. Sich selber hatte sie Rechenschaft ablegen müssen — was war alles andere dagegen!

Brauchte sie sich vor irgendeinem Menschen zu fürchten? Niemand konnte ihr schlimmeres Leid zufügen, als sie selbst sich angetan.

Aber es war wieder ein böser Tag gewesen, daran lag es. Einer von den Tagen, an denen sie nicht nüchtern war. Jetzt war es besser geworden.

Sie war jedoch kaum wieder auf der Straße, als die tolle, verzweifelte Angst sie wieder überfiel. Diese Angst peitschte sie, so daß sie vorwärtsstürmte, ohne es zu wissen. Sie faltete ihre Hände und sprach halblaut mit sich selbst.

Einmal riß sie die Handschuhe von den Händen, denn ihr war glühend heiß geworden. Jetzt erst fiel ihr ein, daß sie einen nassen Fleck auf dem einen bemerkt hatte, nachdem sie das kranke Kind gestreichelt. Angewidert schleuderte sie die Handschuhe von sich.

Als sie zu Hause ankam, stand sie im Gange still. Sie klopfte an Gunnars Tür. Er war aber nicht daheim. Dann blickte sie auf das Dach hinaus, aber auch dort war niemand.

Sie ging in ihr Zimmer und zündete die Lampe an. Die Arme auf der Brust verschränkt, saß sie und starrte in die Flamme, erhob sich, wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab und setzte sich schließlich nieder.

Angespannt horchte sie auf jeden Laut im Treppenflur. Ach, wenn doch Gunnar käme und nur der andere nicht! — Aber er wußte ja nicht, wo sie wohnte. Er konnte aber jemanden getroffen und gefragt haben. Ach Gunnar, Gunnar, komm!

Dann wollte sie gleich zu ihm gehen, sich in seine Arme werfen und ihn bitten, sie hinzunehmen.

Von dem Augenblick, als sie Helge Grams goldbraunen Augen begegnet war, hatte die ganze Vergangenheit, die unter dieser Augen Blick ihren Anfang genommen, sich gegen sie aufgelehnt. Alles überfiel sie aufs neue, der Ekel, der Zweifel an der eigenen Fähigkeit, zu fühlen, zu wollen und zu wählen, der Zweifel, ob sie das wirklich nicht wolle, was sie abzulehnen sich einbildete. — Und sie sah sich wieder, wie sie sich damals gesehen, verlogen, verträumt, schlaff, während sie vor sich selber tat, als fordere sie ein reines, starkes und ganzes Gefühl von sich, während sie sagte, sie wolle ehrlich, arbeitsam, mutig, opferwillig, diszipliniert sein. Dabei ließ sie Stimmungen und Triebe mit sich Fangball spielen, gegen die zu kämpfen sie sich nicht die Mühe machte, obgleich sie wußte, sie müßte es tun. Sie spiegelte Liebe vor, um sich einen Platz unter Menschen zu erschleichen, den sie nie gewonnen hätte, solange sie ehrlich gewesen —.

Sie hatte sich umwandeln wollen, um sich zu den Menschen rechnen zu können, unter denen sie, wie sie immer gewußt hatte, eine Fremde war, weil aus anderem Holz geschnitzt. Aber sie war nicht imstande gewesen, allein zu bleiben, eingesperrt in ihrer eigenem Natur. Sie hatte Gewalt an ihrer Natur verübt. Widerwärtig, unnatürlich war ihr Verhältnis zu den Menschen geworden, die ihr im tiefsten Innern wesensfremd waren. Der Sohn und der Vater —. Und was nachfolgte — ihr eigenes inneres Wesen war dadurch entstellt, jeder feste Halt, den sie in sich selbst besessen hatte, ließ sie im Stich, zerbröckelte zu einem Nichts. Sie löste sich innerlich auf.

Kam Helge, traf sie ihn, so würden, fühlte sie, die Verzweiflung und ihr Lebensüberdruß sie überwältigen. Sie wußte nicht, was dann geschehen würde, nur soviel, daß, mußte sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, ihre Kräfte sie verlassen würden —.

Ach, Gunnar! Ob sie ihn liebte oder nicht, daran hatte sie in diesen Wochen, als er um sie gebettelt hatte, wie sie war, nicht nachgedacht. Er hatte geschworen, ihr hinüberhelfen zu können, alles wieder in ihr aufzurichten.

Mitunter hatte sie nur den Wunsch, er nähme sie mit Gewalt. Dann brauchte sie sich nicht selbst zu entscheiden. Denn es war, wie er sagte; wählte sie, sein zu werden, so sagte ihr der letzte Rest von Stolz, daß sie die Verantwortung trüge. Dann mußte sie das werden, was sie gewesen, das, wofür er sie hielt, und das, was die Zukunft aus ihr machen sollte. Ob sie dazu imstande war oder nicht, sie mußte sich wieder hocharbeiten aus alledem, worin sie jetzt herumwühlte — unter einem neuen Leben mußte sie alles begraben, was geschehen war, seit sie Helge Gram den Kuß gegeben, mit dem sie ihren eigenen Glauben und ihr ganzes Leben bis zu dem Frühlingstage in der Campagna verraten hatte.

Ob sie sich Gunnar zu eigen geben wollte —? Liebte sie ihn denn, der ganz so war, wie sie hatte werden wollen? Dessen ganzes Wesen alles in ihr wachrief, was sie einstmals entwickeln und pflegen wollte — jedes Talent, das sie zu fördern für wert erachtet hatte —.

Die Liebe, die sie auf wirren Pfaden gesucht, dort, wohin ihr krankhaftes Sehnen und ihre heiße Ruhelosigkeit sie getrieben hatten — bestand sie denn nur in dem Selbstverständlichen, die Augen zu schließen und sich in die Gewalt des Mannes zu begeben, der allein ihr Vertrauen besaß, den alle Instinkte das Gewissen und den rechten Richter nannten —?

Aber sie hatte es doch nicht über sich bringen können — die ganzen Wochen hindurch hatte sie es nicht gekonnt. Sie wollte nur erst etwas weiter aus diesem Schlamm, in dem sie sich befand, heraus, durch eigene Kraft. Sie wollte erst fühlen, daß ihr eigener Wille aus fernen Tagen wieder die Herrschaft über ihr zerrissenes Gemüt ergriffen hatte. Wenn sie dann nur wieder einen Funken Achtung und Vertrauen zu sich selbst zurückgewinnen könnte.

Durfte sie weiterleben, so war Gunnar als Mensch alles, was das Leben für sie bedeutete. Ach, ein paar Worte, die er auf ein Stück Papier gekritzelt hatte, ein Buch, das als Bote zu ihr kam, von irgend einem Zug seines Wesens kündend — gerade das hatte ja das letzte aufflackernde Sehnen nach dem Leben in ihr geweckt, damals, als sie sich nach des Kindes Tode wie ein zuschanden geschlagenes Tier durchs Dasein schleppte —.

Kam er jetzt, so durfte er sie nehmen. Er mußte sie das erste Stück des Weges tragen. Später wollte sie versuchen, allein zu schreiten —.

Und ihre Seele, die sich zerfleischte, während sie dort wartend saß, gelangte zu diesem Ergebnis:

Kam er, so wollte sie leben. Kam der andere, mußte sie sterben.

Als sie dann Schritte auf der Treppe hörte und es nicht Gunnars Schritte waren, als es an ihre Türe pochte, senkte sie das Haupt und ging bebend, um Helge Gram zu öffnen. Ihr war es nur, als öffnete sie dem Schicksal, das sie selbst über sich heraufbeschworen hatte.

Sie folgte ihm mit den Blicken, während er ins Licht trat und den Hut auf einen Stuhl warf. Auch jetzt begrüßte sie ihn nicht.

„Ich wußte, du seiest in der Stadt,“ sagte er. „Ich kam vorgestern an. Aus Paris. Ich sah deine Adresse im Verein — hatte die Absicht, dich einmal zu besuchen. Dann traf ich dich heute nachmittag auf der Straße. Ich erkannte schon von weitem dein graues Pelzwerk.“ Er sprach schnell — fast atemlos. „Willst du mir nicht Guten Abend wünschen, Jenny — bist du böse, daß ich zu dir gekommen bin?“

„Guten Abend, Helge,“ sagte sie und nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte. „Bitte sehr, willst du nicht Platz nehmen?“

Sie selbst setzte sich aufs Sofa. Sie vernahm ihre eigene Stimme — ganz ruhig und alltäglich klang sie. Aber im Gehirn verspürte sie das gleiche sonderbare, taumelnde Angstgefühl wie vordem.

„Ich wollte dich gern begrüßen,“ sagte Helge und setzte sich neben sie auf einen Stuhl.

„Das ist nett von dir,“ entgegnete Jenny.

Sie schwiegen wieder.

„Du wohnst jetzt in Bergen,“ sagte sie dann. „Ich sah, daß du deinen Doktor gemacht hast — ich gratuliere.“

„Danke.“

Wieder entstand eine Pause.

„Du hast jetzt sehr lange im Auslande gelebt —. Manchmal hatte ich die Absicht, dir zu schreiben, aber dazu kam es nie. Heggen wohnt, wie ich sah, im selben Haus wie du —.“

„Ja. Ich schrieb an ihn und bat ihn, etwas für mich zu mieten, ein Atelier, aber die sind so teuer hier und so schwer zu bekommen. Dies Zimmer hat jedoch auch ganz gutes Licht —.“

„Ich sehe, du hast eine ganze Anzahl Bilder stehen —.“

Er erhob sich plötzlich, ging durch das Zimmer, kam aber gleich darauf zurück und setzte sich wieder hin. Jenny senkte den Kopf, sie fühlte, wie er sie dauernd anstarrte.

Dann sprach er wieder — sie versuchten, sich mit einander zu unterhalten, er fragte nach Franziska Ahlin und anderen gemeinsamen Bekannten. Doch das Gespräch starb schnell wieder hin, und er saß stumm da und starrte sie an wie vorher.

„Weißt du, daß meine Eltern sich scheiden ließen?“ fragte er plötzlich.

Sie nickte.

„Ja.“ Er lachte kurz. „Sie hielten ja unsertwegen solange miteinander aus. Prallten aneinander und rieben sich wie zwei Mühlsteine, bis all unser Gut zwischen ihnen zu Pulver vermahlen war. Jetzt war wohl nichts mehr übrig, was zerrieben werden konnte, so blieb die Mühle stehen —. O ja. Ich besinne mich auf die Zeit, als ich ein Knabe war. Wenn sie miteinander sprachen — sie schlugen sich ja nicht gerade. Aber in ihren Stimmen lag etwas —. Mutter schalt übrigens, hatte einen großen Mund und weinte schließlich. Vater war nur ruhig und still, aber ein Klang war in seiner Stimme, ein Haß, so kalt und hart, daß es wie mit Messern schnitt. Ich lag drinnen im Schlafzimmer und wurde von einer Art Zwangsvorstellung geplagt, wenn ich es so nennen darf. Welch ein Genuß müßte es sein, eine Stricknadel zu nehmen und quer durch den Kopf zu stechen, in das eine Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Die Stimmen schmerzten rein physisch im Trommelfell, verursachten einen Schmerz, der sich gewissermaßen durch den ganzen Kopf fortpflanzte, weißt du —. Das war also der Anfang. Nun haben die beiden ihre Pflicht als Eltern getan. Jetzt ist es aus —.“

Er nickte ein paar Mal vor sich hin.

„Es ist so häßlich. Diesen Haß meine ich — alles wird so häßlich, was in seine Nähe kommt. Ich besuchte vergangenen Sommer meine Schwester. Wir sympathisierten ja nie miteinander — aber —. Es war abscheulich, sie mit dem Manne zusammen zu beobachten. Manchmal küßte er sie, nahm die Pfeife aus dem dicken, feuchten Munde und küßte seine Frau. Ein Papst auf dem Predigerstuhl, und daheim praßt er —. Sofie wurde mitunter ganz weiß, wenn er sie anrührte. Dann du und ich. Ich fand es später so selbstverständlich, daß alles zerbrechen mußte, all das feine, weiche Lichtgrüne zwischen uns — erfrieren mußte in dieser Luft. Als ich dich damals verlassen hatte, bereute ich es. Ich wollte schreiben — aber weißt du, warum ich es nicht tat? Ja, ich erhielt einen Brief von meinem Vater, er erzählte, daß er bei dir gewesen sei. Es war eine Mahnung, weißt du, daß ich versuchen sollte, die Verbindung mit dir wieder aufzunehmen —. Darum schrieb ich nicht, ich hatte eine abergläubische Furcht davor, einem Rat aus jener Richtung zu folgen —. Dann habe ich mich die ganze Zeit über nach dir gesehnt und von dir geträumt, Jenny. Alle Erinnerungen wieder und wieder hervorgeholt. Weißt du, welchen Ort ich hier in Rom zuerst aufsuchte — gestern? Ich war draußen auf der Montagnola. Ich fand unsere Namen in den Kaktusblättern wieder —.“

Jenny saß bleich mit geballten Händen da.

„Du siehst genau so aus wie früher. Und hast doch drei Jahre verlebt, von denen ich nichts weiß,“ sagte Helge leise. „Jetzt, wo ich wieder mit dir zusammen bin, kann ich es nicht fassen. Es ist, als sei es alles nicht wahr, was zwischen uns liegt, seit wir uns hier in Rom trennten —. Und jetzt gehörst du vielleicht einem anderen —.“

Jenny erwiderte nichts.

„Bist du — verlobt?“ fragte er leise.

„Nein.“

„Jenny!“ Helge senkte den Kopf, so daß sie sein Antlitz nicht sehen konnte. „Weißt du — alle diese Jahre hindurch habe ich gehofft, geträumt, dich zurückzugewinnen. Ich habe mir ausgemalt, daß wir beide uns wiedersehen — und einander verstehen würden; du sagtest ja, ich sei der Erste gewesen, den du geliebt hast. Jenny — ist es unmöglich?“

„Ja,“ sagte sie.

„Heggen?“

Erst antwortete sie nicht.

„Ich bin immer eifersüchtig auf Heggen gewesen,“ sagte Helge leise. „Ich fürchtete, er war der Rechte —. Als ich sah, daß ihr zusammen wohnt — —. Nun habt ihr — euch also — lieb?“

Jenny schwieg noch immer.

„Liebst du ihn?“ fragte Helge wieder.

„Ja. Aber ich will ihn nicht heiraten.“

„Ah, auf diese Art,“ sagte er hart.

„Nein.“ Sie lächelte flüchtig. Müde und erregt senkte sie das Haupt. „Ich bin nicht mehr zu irgend einem Verhältnis einem Menschen gegenüber fähig — jetzt nicht mehr. Ich bin zu nichts fähig. Ich wünschte, du gingest, Helge.“

Aber er blieb sitzen.

„Ich kann nicht fassen, daß alles wieder aus sein soll. Ich habe es nie geglaubt, und jetzt, wo ich dich wiedersehe —. Ich habe nachgedacht, immer und immer wieder, es war meine eigene Schuld. Ich bin so verzagt, wußte nie, was das Richtige war. Es hätte anders sein können. Ich dachte an den letzten Abend, als ich in Rom mit Dir zusammen war. Ich meinte immer, dieser Augenblick müßte wiederkehren. Ich ging damals, weil ich glaubte, es sei das Beste. Ich kann dich doch wohl nicht deswegen verloren haben —.“

„Damals“ — er blickte nieder — „hatte ich noch nie ein Weib berührt. Ich war scheu geworden durch die Zustände daheim. — Träume und Phantasien — mitunter schufen sie eine Hölle, aber immer war die Furcht am stärksten —. Ach. Jetzt bin ich neunundzwanzig Jahre alt. Ich habe nichts Schönes und Glückliches erlebt — außer dem kurzen Lenz mit dir. Begreifst du denn nicht, daß ich den Gedanken an dich nie aufgeben konnte? Begreifst du nicht, wie ich dich liebe — das einzige Glück, das ich gekannt habe? Ich kann nicht ohne dich sein — jetzt kann ich nicht mehr —.“

Sie hatte sich erhoben, bebend, und auch er war aufgestanden. Sie wich unwillkürlich einige Schritte zurück.

„Helge — ein anderer ist dagewesen.“

Er stand still und blickte sie an.

„So — ein anderer ist also dagewesen. Ich hätte es sein können — und dann wurde es ein anderer. Aber, ich will dich haben, was kümmert es mich. Jetzt will ich dich besitzen, denn einst hast du es mir zugesagt —.“

Als sie erschrocken an ihm vorbeizuschlüpfen suchte, riß er sie mit Gewalt an sich.

Es dauerte einige Augenblicke, ehe es ihr recht bewußt wurde, daß er ihren Mund küßte. Sie glaubte, Widerstand zu leisten, aber sie lag wehrlos in seinen Armen.

Sie wollte sagen, daß er nicht dürfe. Sie wollte ihm sagen, wer der andere gewesen. Aber sie konnte nicht, denn sie hätte dann gesagt, daß sie ein Kind gehabt hatte. Und in dem Augenblick, als sie an den Knaben dachte, fühlte sie, daß sie ihn nicht zu nennen vermochte — inmitten dieses Kampfes. Ihr Kind mußte sie von dem Untergang fernhalten, der, wie sie wußte, jetzt kam —. Und dieser Gedanke erschien ihr wie eine zarte Liebkosung des toten Kleinen, die sie wärmte und ihr wohltat, sodaß ihr Körper einen Augenblick in seinen Armen weich und nachgiebig wurde.

„Du bist mein — mein bist du, Jenny — ja, ja, ja,“ flüsterte Helge über ihr.

Sie sah einen Augenblick in sein Gesicht. Dann riß sie sich von ihm los und rannte zur Tür. Gleichzeitig rief sie laut nach Gunnar.

Er sprang ihr nach und riß sie zurück:

„Er bekommt dich nicht — du bist mein, du —.“

Dann kämpften sie wortlos an der Tür. Jenny war es, als käme alles nur darauf an, ob sie öffnen und in Gunnars Zimmer gelangen könnte. Wie sie aber dann Helges Körper an dem ihren spürte, heißer, stärker als ihr eigener, wie er sie festhielt mit Armen und Knien, da war es ihr, als sollte es so sein, als sollte sie sich ergeben. Und sie warf sich ihm freiwillig in die Arme.

Im Dämmerlicht, während er sich ankleidete, trat er alle Augenblicke an ihr Bett und küßte sie:

„Herrliche du! Wie schön du bist Jenny! Jetzt bist du mein. Alles wird wieder gut, nicht wahr? O, wie ich dich liebe! — Du bist müde? Du sollst schlafen ich gehe jetzt. Morgen Vormittag komme ich wieder zu dir. Schlaf gut, süße, geliebte Jenny. Bist du so müde?“

„Ja, sehr müde, Helge.“ Sie lag mit halbgeschlossenen Augen da und blickte in das fahle Morgenlicht, das Helge durch die Laden hereingelassen hatte.

Dann küßte er sie. Er hatte den Mantel angezogen und hielt den Hut in der Hand. Noch einmal ließ er sich auf den Knien vor dem Bette nieder und schob den Arm unter ihre Schultern:

„Ich danke dir für diese Nacht, Jenny —. Besinnst du dich darauf, daß ich dasselbe an jenem ersten Morgen in Rom sagte, draußen auf Aventin? Erinnerst du dich dessen?“

Jenny nickte, in die Kissen vergraben.

„Schlaf wohl. Gib mir noch einen Kuß — so, Gute Nacht meine herrliche Jenny!“ —

In der Tür hielt er inne:

„Gibt es einen Schlüssel zu der Tür? Oder ist es eine von den altmodischen mit einer Klinke innen?“

„Ja, es ist die gewöhnliche Art,“ sagte sie, „du öffnest ohne weiteres von innen —.“

Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen. Aber sie sah ihren eigenen Körper, wie er unter der Decke lag, weiß, nackt, schön, ein Ding, das sie von sich geschleudert hatte, wie sie den beschmutzten Handschuh heut Nachmittag fortgeworfen. Er gehörte ihr nicht mehr.

Plötzlich durchfuhr sie ein Ruck. Sie hörte Heggen die Treppe heraufkommen, langsam, hörte ihn die Türe zu seinem Zimmer öffnen. Er ging eine Weile dort drinnen auf und ab, dann wieder hinaus, zum Dach hinauf. Jetzt hörte sie seine eiligen Schritte über ihrem Kopfe — auf und ab.

Sie war überzeugt, daß er es wußte. Aber es machte keinen Eindruck auf ihr müdes Hirn. Sie fühlte keinen Schmerz mehr. Es war ihr, als müsse alles ihm ebenso selbstverständlich und unabwendbar vorkommen wie ihr.

Was sie vorhatte, war nicht ihr freier Entschluß. Es mußte geschehen wie das andere geschehen war, — wie eine unabänderliche Folge dessen, daß sie gestern Helge die Türe geöffnet hatte.

Jenny streckte einen Fuß unter der Decke hervor und betrachtete ihn wie einen fremden Gegenstand, der nicht ihr gehörte. Er war hübsch. Sie krümmte ihn, so daß der Spann sich straffte. Hübsch war er, weiß und blaugeädert, mit feinem Rot an der Ferse und den Zehen.

Sie war so müde. Diese Müdigkeit tat wohl. Als hätte sie Schmerzen gehabt, die jetzt vorüber waren. Während er bei ihr war, hatte nur ein Gefühl sie beherrscht, als würde sie in die Finsternis gestoßen und sänke und sänke. Es war Wollust, so zu vergehen, seines Willens beraubt, sich aus dem Leben treiben lassen, hinab auf den Grund, wo es still war. Sie wußte dunkel, daß sie seine Liebkosungen erwidert, sich an ihn geschmiegt hatte. Jetzt war sie müde, und was ihr zu tun noch übrig blieb, tat sie mechanisch.

Sie stand auf und kleidete sich an. Als sie Strümpfe, Leibchen und Unterrock angezogen hatte, steckte sie die Füße in ein Paar Goldkäferschuhe, die sie im Hause trug. Sie wusch sich und steckte das offene Haar vor dem Spiegel hoch, ohne zu wissen, daß sie ihr eigenes Antlitz erblickte.

Dann ging sie zu dem kleinen Tisch, auf dem ihre Malgeräte lagen. Sie kramte in dem Kasten mit ihrem Radierwerkzeug. An das spitze dreieckige Schabeisen hatte sie in der Nacht denken müssen. Früher hatte sie es manchmal halb spielerisch gegen ihre Pulsadern gehalten.

Jenny nahm es auf und prüfte es, befühlte es mit dem Finger. Dann legte sie es zurück und ergriff ein Taschenmesser. Sie hatte es einmal in Paris gekauft, es hatte Korkzieher, Büchsenöffner und viele Klingen. Die eine war kurz, spitz und breit — diese öffnete sie.

Dann ging sie zurück und setzte sich aufs Bett. Sie legte das Kopfkissen über den Rand des Nachttisches, — stützte die linke Hand darauf und schnitt die Pulsader durch.

Das Blut spritzte hoch auf, der Strahl schoß gegen ein kleines Aquarell, das sie an der Wand über dem Bett aufgehängt hatte. Als sie das sah, rückte sie die Hand zur Seite. Sie legte sich nieder — streifte unwillkürlich mit den Füßen die Schuhe ab und legte sie ganz aufs Bett. Als sie sah, wie das Blut spritzte, verbarg sie die verwundete Hand unter der Decke.

Sie hatte keinen Gedanken und keine Angst, fühlte nur, daß sie sich dem Unabwendbaren hingab. — Der Schmerz selbst, als sie sich schnitt, war nicht stark — scharf und klar, gleichsam auf die eine Stelle konzentriert.

Aber nach einer Weile durchrieselte sie ein unbekanntes, sonderbares Gefühl — eine Angst, die wuchs und wuchs. Nicht die Furcht vor etwas — das Gefühl selbst bestand nur in einer fürchterlichen Angst in der Herzgegend — als würde sie erwürgt. Sie öffnete die Augen — aber schwarze Fetzen nisten an ihren Blicken vorüber. Sie konnte nicht atmen — das Zimmer überfiel sie von allen Seiten —. Sie taumelte aus dem Bett, wankte zur Tür, blindlings die Treppe zum Dach hinauf, bis sie auf der obersten Stufe zusammenbrach — —

Helge war Gunnar Heggen begegnet, als er gerade aus dem Tore trat. Sie hatten sich beide angeblickt, während sie zum Hute griffen. Dann waren sie aneinander vorbeigegangen — ohne ein Wort.

Aber diese Begegnung hatte Helge nüchtern gemacht. Nach dem Rausch der Nacht schlug seine Stimme plötzlich um. Was er erlebt hatte, erschien ihm plötzlich unglaubhaft, unbegreiflich und unheimlich.

Dieses Zusammentreffen mit ihr, wovon er die ganzen Jahre hindurch geträumt hatte. Sie, von der er geträumt, sie hatte fast nicht gesprochen, nur stumm und kalt dagesessen und sich dann plötzlich in seine Arme geworfen. Wild und wahnsinnig, doch ohne einen Laut. Jetzt plötzlich erinnerte er sich — sie hatte nichts gesagt, nichts erwidert auf alle seine Liebesworte heute Nacht.

Eine fremde, unheimliche Frau war das — seine Jenny? Er wußte mit einem Male, sie war nie sein gewesen.

Helge schritt immer weiter durch die morgenstillen Straßen. Den Corso auf und nieder.

Er versuchte, sie sich vorzustellen. Die Erinnerungen von den Träumen loszulösen. Sie aus jener Zeit sich vor Augen zu führen, als sie verlobt waren. Aber er konnte sie nicht festhalten — er wußte mit einem Male, daß er es nie gekonnt. Immer war etwas dahinter gewesen, das er nicht hatte sehen können, er hatte nur gefühlt, es war da.

Nichts wußte er von ihr. Heggen konnte jetzt bei ihr sein — er wußte es nicht. Ein anderer war dagewesen, hatte sie selbst gesagt — welcher andere — welche anderen — welches andere, das er nicht kannte und doch immer gefühlt hatte?

Nach diesem Ereignis aber konnte er sie auch nicht aufgeben, er wußte es. Jetzt weniger als je zuvor. Und dabei kannte er sie nicht. Wer war sie, die ihn in ihrer Gewalt hatte —? Wem hatte er angehört mit jedem einzigen Gedanken, drei Jahre lang —?

Furcht war es, Raserei, die ihn trieb, während er zu ihrer Tür zurückjagte. Sie stand offen. Er lief die Treppen hinauf, sie sollte ihm Rede stehen — sie kam nicht frei, bis sie ihm alles gesagt —.

Ihre Türe stand offen. Helge blickte hinein — auf das leere Bett, die blutigen Laken und das Blut auf dem Fußboden. Er wandte sich um und sah sie zusammengekrümmt auf der obersten Stufe liegen, sah das Blut auf der weißen Marmortreppe.

Er schrie auf und sprang hinzu — riß sie hoch, hielt sie in seinen Armen. Er spürte ihre erschlafften Brüste an seiner Hand und einen kleinen lauen Rest von Lebenswärme, am Rande des Leibchens verborgen. Doch Arme und Hände fielen kalt herab. Und er begriff, schaudernd, greifbar, daß dieser Körper, den er vor wenigen Stunden in seinen Armen gehalten hatte, heiß und bebend vor Leben, jetzt ein Leichnam war, der bald zerfallen sein würde —.

Er sank nieder mit ihr und schrie wild auf —.

Heggen riß die Tür zur Terrasse auf. Sein Antlitz war weiß und vergrämt. Da sah er Jenny —.

Er ergriff Helge und schleuderte ihn zur Seite — ließ sich vor ihr auf die Knie nieder.

„Sie lag hier — als ich zurückkam, lag sie hier —.“

„Laufen Sie nach einem Arzt! — Schnell —!“ Gunnar hatte ihr Hemd aufgerissen — inwendig gefühlt — um ihren Kopf gefaßt — die Arme hochgehoben, da erblickte er die Wunde. Jetzt riß er das hellblaue Seidenband von ihrem Leibchen und band es fest über ihrem Handgelenk zusammen.

„Ja, ja, wo wohnt —“

Rasend schrie Gunnar auf. Dann sagte er halblaut:

„Ich werde gehen. Tragen Sie sie hinein —,“ aber er schlang selbst die Arme um sie und ging auf ihre Türe zu. Als er das blutige Bett sah, verzog er plötzlich das Gesicht. Dann wandte er sich um und stieß die Tür zu seinem Zimmer auf. Er legte sie auf sein eigenes unberührtes Bett nieder. Dann sprang er auf.

Helge war neben ihm geblieben, den Mund wie in einem erstarrten Schrei halb geöffnet. Aber in Gunnars Tür hielt er inne. Als er allein mit ihr war, schlich er herbei und berührte mit den Fingerspitzen ihre Hand. Dann brach er auf dem Fußboden zusammen, den Kopf an die Bettkante gelehnt und weinte jämmerlich, sich zusammenkrampfend vor Grauen.