Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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Erstes Buch

I.

Die Musik kam über die Via de Condotti, als Helge Gram in der Dämmerung gerade in die Straße einbog. Die Melodie eines altbekannten Gassenhauers ertönte in sinnlos rasendem Tempo wie eine wilde Fanfare. Und die schwarzen kleinen Soldaten stürmten in dem kalten Nachmittag vorüber, als seien sie mindestens eine römische Kohorte, im Begriff, sich in fliegendem Laufschritt auf die Heerscharen der Barbaren zu stürzen. Und sollten doch nur ganz friedlich heimwärts ziehen in ihre nächtlichen Quartiere. Aber vielleicht war gerade das der Grund für ihre stürmende Eile, dachte Helge und lächelte. Wie er so stand, den Mantelkragen gegen die Kälte hochgeschlagen, wallte eine seltsam historische Stimmung in ihm auf. Aber dann begann er, die wohlbekannte Melodie mitzusummen, und setzte seinen Weg die Straße hinab fort, in der Richtung, die, wie er wußte, zum Corso führte.

An der Ecke blieb er stehen und schaute hinüber. — Das also war der Corso. Ein unablässig rinnender Strom von Wagen in der engen Straße, und ein brodelndes Gewimmel von Menschen auf dem schmalen Bürgersteig.

Er stand und ließ den Strom an sich vorüberziehen und lächelte in dem Gedanken, daß er nun Abend für Abend auf dieser Straße in der Dunkelheit durch das Menschengewimmel würde schlendern dürfen, bis sie ihm ebenso alltäglich geworden war wie die Carl Johannstraße daheim.

Und das Verlangen überkam ihn, noch in dieser Stunde durch alle Straßen Roms zu laufen — ohne Aufhören — am liebsten die ganze Nacht hindurch. Das Bild der Stadt stieg in ihm auf, wie sie vor kurzem zu seinen Füßen gelegen, als er auf dem Pincio stand und dem Untergang der Sonne zuschaute.

Wolken breiteten sich über den ganzen Nachthimmel aus, dicht zusammengedrängt, wie kleine lichtgraue Lämmer. In der Sonne, die hinter ihm versank, erglühten ihre Ränder golden wie Bernstein. Unter dem bleichen Himmel lag die Stadt, und plötzlich kam es Helge zum Bewußtsein: das war Rom! Nicht, wie er es in seinen Träumen erschaut — nein, wie es jetzt vor ihm lag.

Alles, was er auf seiner Reise gesehen, hatte ihn enttäuscht, weil es anders war, als er sich’s im Geiste ausgemalt daheim, in seiner Sehnsucht hinauszukommen und es selbst zu schauen. Endlich, jetzt endlich zeigte sich die Wirklichkeit, reicher als all seine Träume.

Und das war Rom ...

Eine weite Fläche von Dächern lag in der Talsenkung unter ihm — ein Gewimmel von Dächern alter und neuer, hoher und niedriger Häuser, die, wie es schien, aufs Geradewohl und so hoch gebaut worden waren, wie man ihrer gerade bedurfte, denn nur an wenigen Stellen war die gerade Linie einer Straße in dem Heer der Dächer deutlich erkennbar. Und diese ganze Welt unruhiger Linien, die in Tausenden von harten Winkeln aufeinander stießen, lag erstarrt und still unter dem fahlen Himmel, an dem eine unsichtbare, sinkende Sonne hier und da einen kleinen Lichtrand an den Wolken entzündete. Sie lag und träumte unter einem feinen, weißlichen Nebeldunst, in den sich nicht eine einzige lebende geschäftige Rauchsäule mischte. Denn ein Fabrikschlot war nicht zu entdecken, und von den kleinen drolligen Blechschornsteinen, die in die Luft starrten, rauchte nicht ein einziger. Auf den rotbraunen, runden alten Dachziegeln machten sich graugelbe Flechten breit, grüne Pflanzen und kleines Buschwerk mit gelben Blüten wucherte in den Wasserrinnen, am Rande der Terrassen reihten sich tote und schweigende Agaven in Urnen, und von den Gesimsen flossen Schlingpflanzen in stillen und toten Kaskaden. Wo sich das oberste Stockwerk eines höheren Hauses über die Nachbarn erhob, starrten erstorbene und dunkle Fenster aus rotgelbem oder grauweißem Mauerwerk — oder schliefen hinter geschlossenen Läden. Aber aus dem Dunst ragten Altane, Stümpfen alter Wachttürme gleich, und kleine Lauben aus Holz und Blech erhoben sich auf den Dächern.

Ueber dem Ganzen schwebten die Kuppeln der Kirchen, Kuppel an Kuppel; die gewaltige graue weit draußen, jenseits der Stelle, wo Helge den Lauf des Flusses vermutete, das war St. Peter.

Aber diesseits des Talkessels, wo die toten Dächer die Stadt beschützten, die, wie Helge an diesem Abend empfand, mit Recht die ewige hieß, wölbte ein niedriger Höhenzug seinen langen Rücken gen Himmel. Er trug in weiter Ferne eine Allee von Pinien, deren Kronen über der schlanken Säulenreihe der Stämme ineinander liefen. Weit drüben hinter der Peterskuppel, wo der Blick seine Schranke fand, erhob sich eine zweite Anhöhe mit lichten Villen zwischen Pinien und Cypressen. Das mochte wohl der Monte Mario sein.

Ueber Helges Haupt breitete sich schützend das dunkle, dichte Laubdach der Steineichen, und hinter ihm plätscherte der Strahl des Springbrunnens mit einem eigenen lebendigen Laut — das Wasser klatschte gegen das steinerne Becken und rieselte, überfließend, in das Bassin hinab.

Ueber die Stadt seiner Träume, deren Straßen sein Fuß niemals betreten hatte, deren Häuser nicht eine vertraute Seele bargen, flüsterte Helge hin: „Roma, Roma, ewige Roma“. Eine Scheu erfaßte ihn vor seinem eigenen einsamen Ich und ein Bangen vor seiner Ergriffenheit, obwohl er wußte, hier war niemand, der ihn belauschen konnte. Er wandte sich und eilte hinab, der Spanischen Treppe zu.

Nun stand er an der Ecke der Via de Condotti und des Corso und empfand eine wunderbar süße Beklemmung, sollte er doch jetzt der Straße wimmelndes Leben durchkreuzen und versuchen, sich in der fremden Stadt zurechtzufinden — er wollte quer hindurch, gerade auf den Petersplatz zugehen.

Indem er die Straße überschritt, gingen zwei junge Mädchen an ihm vorüber. Das waren sicher Norwegerinnen, kam es ihm sofort in den Sinn, und er empfand eine gewisse Freude bei dem Gedanken. Die eine war lichtblond und trug einen hellen Pelz.

Die Straße, der er folgte, mündete auf einen offenen Platz an einer weißen Brücke. Zwei Reihen Laternen kämpften mit ihren schwindsüchtigen, grünlichgelben Lichtern gegen den gewaltigen, bleichen Schein, den der unruhige Himmel ausstrahlte. Am Wasser entlang zog sich fahl schimmernd eine niedrige steinerne Brustwehr und eine Baumreihe mit welkem Laub und Stämmen, deren Rinde sich in großen weißen Fetzen abschälte. Auf der anderen Seite des Flusses brannten die Gaslaternen unter den Bäumen, die Häusermasse hob sich schwarz gegen den Himmel ab. Doch diesseits des Stromes flackerte der Schein des Abendlichtes noch in den Fensterscheiben. Der Himmel war jetzt fast klar und wölbte sich in durchsichtigem Blaugrün über dem Hügel, dessen Kamm die Pinien trug; noch segelten aber einige wenige schwere zusammengeballte Wolkenberge darüber hin, rot und gelb aufleuchtend, als kündeten sie Sturm.

Helge stand auf der Brücke still und sah in die Tiber hinab. Wie trüb das Wasser war! Es stürzte reißend dahin, bunt aufflammend im Widerschein der abendlich leuchtenden Wolken — riß Zweige, Planken und Geröll mit sich in seinem weißen steinernen Bett da drunten. Seitwärts an der Brücke führte eine kleine Treppe zum Wasser hinab. Helge kam der Gedanke, wie leicht es doch sein müßte, sich eines Nachts, des Treibens müde, hier aus dem Leben zu schleichen. Ob es wohl jemand tat?

Er fragte, auf Deutsch, einen Konstabler nach dem Wege zur Peterskirche; der Konstabler antwortete zunächst auf Französisch, dann italienisch, und als Helge immer wieder den Kopf schüttelte, redete er wieder französisch und wies über den Strom. Helge schlenderte in der gewiesenen Richtung weiter.

Da stieg eine gewaltige, düstere Steinmasse vor ihm empor, ein niedriger runder Turm mit zackigen Mauerkränzen von der tiefschwarzen Silhouette eines Engels gekrönt. — Helge erkannte die Umrisse der Engelsburg. Sein Weg hatte ihn gerade ihr zu Füßen geführt. Im letzten Licht des Himmels leuchteten die Statuen drüben auf der Brücke in der Dämmerung, noch spiegelten die Wellen der Tiber den Schein der roten Wolken wider. Aber schon schossen die Gaslaternen ihre Lichtpfeile auf den Strom hinaus. Hinter der Engelsbrücke surrten elektrische Straßenbahnen mit erleuchteten Fensterscheiben über eine neue schmiedeeiserne Brücke. Aus den Leitungsdrähten sprühten blauweiße Funken.

Helge lüftete den Hut vor einem Manne:

San Pietro favorisca?

Der Mann zeigte geradeaus und sagte etwas, das Helge nicht verstand.

Die Straße, in die er einbog, war eng und finster; so hatte er sich eine italienische Straße oft ausgemalt, und er empfand nun geradezu ein Gefühl der Wiedersehensfreude. Ein Antiquitätengeschäft lag hier neben dem anderen.

Helge schaute mit Interesse in die schlecht erleuchteten Fenster. Das meiste war Schund; die schmutzigen Streifen aus groben, weißen Spitzen, auf Schnüren aneinandergereiht — sollten dies italienische Spitzen sein? Da lagen Scherben und Ueberreste von Tonwaren in staubigen Schachteldeckeln aus, kleine, giftgrüne Bronzefiguren, alte und neue Metalleuchter und Broschen mit unechten Steinen. Trotzdem wandelte ihn unerklärlicherweise eine Lust zum Kaufen an, zu fragen, zu feilschen, zu handeln —. Er war in einen kleinen dumpfen Laden geraten, fast ohne selbst zu wissen, wie. Da sah es übrigens lustig aus; es gab seltsame Dinge aus aller Welt: alte Kirchenlampen, von der Decke herabhängend, Seidenlappen mit goldgestickten Blumen auf rotem und grünem und weißem Grunde, zerbrochene Möbel.

Hinter dem Ladentisch hockte ein gelbhäutiger dunkler Bursche, das Kinn blau von Bartstoppeln, und las. Er fragte und redete, während Helge auf dies und jenes zeigte, und „quanto“ sagte. Das einzige, was Helge begriff, war, daß die Sachen unerhört teuer waren — man müßte jedenfalls mit dem Kaufen warten, bis man der Sprache mächtig wäre, und dann gehörig feilschen.

Drüben auf einem Regal stand Porzellan, Rokokofiguren und Vasen mit modellierten Rosenbuketts geziert. Sie schienen neu zu sein. Helge ergriff aufs Geratewohl einen solchen kleinen Gegenstand und setzte ihn auf den Tisch: „quanto?

Sette,“ sagte der Mann und spreizte sieben Finger.

Quattro.“ Helge streckte vier Finger in die Luft. Er hatte ein frohes und sicheres Gefühl, als er so plötzlich in die fremde Sprache gleichsam hinübersprang. Freilich begriff er nichts von dem Protest des Mannes, doch jedesmal, wenn der andere ausgeredet hatte, kam er mit seinem quattro und seinen vier Fingern.

Non antica,“ warf er überlegen hin.

Der Ladenbesitzer beteuerte jedoch: „antica.“

Quattro,“ sagte Helge zum letzten Male — jetzt hatte der Mann nur fünf Finger in der Luft. Als Helge sich zur Tür wandte, rief der Bursche ihn zurück. Er akzeptierte. Selig nahm Helge den Gegenstand an sich, der sorgsam in rotes Seidenpapier gehüllt worden war.

Am Ausgang der Straße konnte er die dunkle Masse des Doms gegen den Himmel unterscheiden. Er schritt kräftig aus und eilte über den vorderen Teil des Platzes, dort, wo die Läden mit den hellen Fenstern lagen und die Bahnen vorübersausten, — auf die beiden halbkreisförmigen Arkaden zu, die zwei gebogenen Armen gleich sich um einen Teil des Platzes legten und ihn hineinzogen in die Stille der Dunkelheit. Helge flüchtete in den Schutz der gewaltigen dunklen Kirche, die ihre breite Treppe in einer muschelförmigen Zunge bis auf die Mitte des Marktes hinausschob.

Die Kuppel der Kirche und die Statuenreihe der Heiligenschar drüben über dem Dach des Säulenganges hoben sich schwarz gegen das Helldunkel der Himmelswölbung ab; Baumkronen und Häuser, unregelmäßig übereinandergestapelt, breiteten sich über der Anhöhe dahinter aus. Hier waren die Gasflammen machtlos; die Finsternis sickerte durch die Säulen der Arkaden, ergoß sich von der offenen Vorhalle der Kirche über die Treppe hinab. Helge ging still hinüber bis an die Kirche, und schaute neugierig auf die verschlossenen Metalltüren. Dann kehrte er um und schritt zum Obelisk in der Mitte des Platzes. Hier blieb er stehen und starrte auf die dunkle Kirche. Den Kopf zurückbiegend folgte er mit den Augen dem schlanken steinernen Pfeil, der hoch in den Abendhimmel hinaufragte, dort, wo die letzten Wolken hinter den Dächern verschwunden waren und die ersten Sterne ihre funkelnden Lichtnadeln durch die sich vertiefende Dunkelheit schossen.

Wieder erklang in seinen Ohren der wunderliche durchdringende Laut von plätscherndem Wasser, das in steinerne Becken herabstürzte, und das weiche Rieseln des strömenden Ueberflusses, der sich von Schale zu Schale in das Bassin ergoß. Er ging bis dicht an den einen der Springbrunnen heran und betrachtete die vollen weißen Strahlen, die wie in hitzigem Trotz aufschossen und hoch oben zusammenbrachen; dunkel gegen die Klarheit der Luft, sanken sie hinab in die Finsternis, in der das bewegte Wasser weiß aufleuchtete. Helge starrte hinauf. Plötzlich fing ein kleiner Windstoß sich in der Wassersäule und fegte sie über ihn hinweg. Jetzt plätscherte es nicht mehr klatschend gegen das steinerne Becken, es rieselte hinab, und Helge war bedeckt von Tropfen, die in der kalten Abendluft zu Eis erstarrten.

Dennoch blieb er stehen, lauschte und starrte — schritt vorwärts und stand wieder — doch ganz behutsam, um das Flüstern in seinem Innern zu vernehmen. — Jetzt war er also hier, all das, von dem er sich verzehrend fortgesehnt hatte, lag in weiter, weiter Ferne. Und er trat noch leiser auf und schlich wie einer, der dem Gefängnis entronnen war.

Unten an der Ecke der Straße lag ein Restaurant. Dort ging er hinüber. Unterwegs entdeckte er einen Tabaksladen, wo er sich Zigaretten, Ansichtskarten und Freimarken kaufte. Während er auf sein Essen wartete und hin und wieder in langen Zügen vom Rotwein trank, schrieb er Karten an seine Eltern: „Ich denke an diesem Abend viel an Euch hier unten —“. Er lächelte schmerzlich — ja, Herrgott, so war es! An die Mutter schrieb er jedoch: „Ich habe schon eine Kleinigkeit für Dich gekauft, — das erste, was ich hier in Rom erstanden habe.“ Arme Mutter — wie mochte es ihr wohl ergehen. Er war in den letzten Jahren oft lieblos gegen sie gewesen —. Er packte das Geschenk aus — es war sicher eine Eau de Cologneflasche — und betrachtete es. Dann fügte er noch einige Zeilen hinzu, er finde sich mit der Sprache zurecht und das Handeln in den Läden sei gar nicht so schwierig.

Das Essen war gut, doch teuer. Nun, wenn er sich erst hier eingelebt hätte, würde er schon lernen, mit Wenigem auszukommen. Gesättigt und angeregt vom Wein ging er in einer neuen Richtung weiter, entdeckte lange, niedrige, verfallene Häuser und hohe Gartenmauern, gelangte durch einen zerstörten Torbogen auf eine Brücke, über die er hinweg wollte. Ein Mann erschien in der Tür des Zollhauses, hielt ihn an und machte ihm verständlich, daß er einen Soldo entrichten müsse. Drüben auf der anderen Seite lag eine große dunkle Kuppelkirche.

Hier geriet er in einen Wirrwarr finsterer, enger Sackgassen; in der geheimnisvollen Dunkelheit ahnte er in den Himmel hineinragende alte Paläste mit vorspringenden Dachgesimsen, vergitterten Fenstern — in gleicher Front mit elenden Hütten und kleinen Kirchenfassaden. Einen Bürgersteig hatte die Straße nicht; Helge trat in verdächtigen Abfall, der im Rinnstein lag und übel roch. Vor den schmalen erleuchteten Herbergstüren und unter den spärlichen Gaslaternen erblickte er undeutlich zweifelhafte menschliche Gestalten.

Er war von dieser Umgebung begeistert und beklommen zugleich — voll knabenhafter Spannung. Gleichzeitig begann er darüber nachzudenken, wo ein Ausweg aus diesem Labyrinth zu finden sei und wie er zu seinem Hotel zurückgelangen sollte, das weit fort am anderen Ende der Welt lag. Er mußte sich wohl eine Droschke leisten.

So schritt er denn eine neue, enge, ganz menschenleere Gasse hinab. Zwischen den steilaufragenden Häusern mit den schwarzen Fensterhöhlen, die ohne Sims aus dem Mauerwerk starrten, zog sich ein Streifen Himmels hin, klarblau und dunkelleuchtend; unten auf dem holprigen Steinpflaster wirbelte ein leichter Windstoß Staub und Strohhalme und Papierfetzen vor sich her.

Zwei Frauen überholten ihn. Als er sie im Schein einer Laterne betrachten konnte, durchfuhr es ihn: das waren die, die er heute Nachmittag auf dem Corso bemerkt und für Norwegerinnen gehalten hatte. Das helle Pelzwerk der größeren erkannte er sofort wieder.

Plötzlich kam ihm ein verrückter Gedanke — er wollte ein Abenteuer versuchen, sie nach dem Wege fragen, um zu hören, ob es Norwegerinnen seien oder wenigstens Skandinavierinnen. Ihm klopfte aber doch das Herz ein wenig, als er sich anschickte, ihnen nachzufolgen. Ausländerinnen waren es sicher.

Die jungen Mädchen blieben weiter unten vor einem verschlossenen Laden stehen, setzten aber gleich darauf ihren Weg fort. Helge überlegte: sollte er „Please“ oder „Bitte“ oder „Scusi“ sagen oder versuchsweise mit einem norwegischen „Verzeihung“ herausplatzen? Wie lustig, wenn es wirklich Norwegerinnen waren.

Die Mädchen bogen um die Ecke. Helge war ihnen dicht auf den Fersen und auf dem Sprunge, sie anzureden. Da wandte sich die kleinere halb um und sagte etwas in italienischer Sprache, leise und empört.

Helge war herb enttäuscht. Er wollte eben „Scusi“ sagen und verschwinden, als die Große auf Norwegisch zur Freundin sagte: „Nicht doch, Cesca, nichts sagen — es ist viel klüger, zu tun, als merke man nichts.“

„Ich ertrage aber dieses verdammte Italienerpack nicht, das nie ein Frauenzimmer in Frieden lassen kann,“ erklärte die andere.

„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Helge. Die Mädchen blieben stehen und wandten sich brüsk um.

„Sie müssen wirklich entschuldigen.“ Helge stammelte und errötete, ärgerte sich darüber und erglühte nur tiefer in der Dunkelheit. „Ich bin nämlich heute aus Florenz gekommen, und jetzt habe ich mich in diesen Winkelgassen vollständig verloren. — Nun glaubte ich, die Damen seien Norwegerinnen — oder jedenfalls aus Skandinavien — und ich komme so schlecht mit der italienischen Sprache zurecht — und da kam mir die Idee —. Vielleicht haben Sie die Liebenswürdigkeit, mir zu sagen, wo ich eine Straßenbahn finde? Mein Name ist Kandidat Gram“. Er lüftete wieder den Hut.

„Ja, wo wohnen Sie denn?“ fragte die Größere.

„Gleich neben dem Bahnhof, es heißt so ähnlich wie Albergo Torino“, erklärte ihnen Helge.

„Dann muß er mit der Trasteverebahn fahren vom San Carlo ai Catenari aus,“ sagte die Kleine.

„Nein, Sie steigen besser in die Linie 1 auf dem neuen Corso.“

„Die geht aber nicht bis zu den Termini“, antwortete wieder die Kleinere.

„Aber natürlich. Sie nehmen die, auf der San Pietro-Stazione Termini steht“, erklärte sie Helge.

„Die — die fährt doch erst über den Capo de Case und Ludovisi und so weiter bis ans Ende der Welt — mit der dauert es mindestens eine Stunde bis zum Bahnhof.“

„Nicht doch, Liebes — sie fährt direkt — den kürzesten Weg durch die Via Nazionale.“

„Nein —“, beharrte die Kleine. „Sie fährt übrigens erst um den Lateran herum.“

Die große Dame wandte sich an Helge:

„Sie gehen nur die erste Straße zur Rechten hinunter bis zum Flohmarkt. Dann halten Sie sich links an der Cancelleria, bis Sie auf den neuen Corso hinausgelangen. Soviel ich mich entsinne, hält die Bahn an der Cancelleria, jedenfalls gleich in der Nähe; Sie sehen schon das Schild. Sie müssen aber darauf achten, daß Sie den Wagen bekommen, auf dem San Pietro-Stazione Termini steht — es ist die Linie 1.“

Helge blickte mutlos drein, als die jungen Mädchen neben ihm mit den fremden Namen um sich warfen, als seien es Bälle. Er schüttelte schließlich den Kopf.

„Ich fürchte, ich finde mich da nicht zurecht, ich werde doch lieber gehen, bis ich auf eine Droschke stoße.“

„Wir begleiten Sie gern bis zur Haltestelle“, sagte die Große wieder.

Die Kleine brummte mürrisch auf Italienisch etwas vor sich hin, doch die Große antwortete in verweisendem Tone. Helges Mut sank noch um ein Beträchtliches durch diese Bemerkungen über seinen Kopf weg, die er nicht verstand.

„Ich danke Ihnen, ich möchte Sie wirklich nicht damit belästigen — ich finde sicher schon irgendwie nach Hause.“

„Das ist durchaus keine Mühe,“ erwiderte die Große und schickte sich zum Gehen an. „Wir haben ungefähr denselben Weg.“

„Es ist recht schwierig, sich in Rom zurechtzufinden“, versuchte Helge, ein Gespräch in Gang zu bringen. „Jedenfalls in der Dunkelheit.“

„O nein, man kennt sich schnell aus.“

„Ich kam also heute hierher — ich kam heute Vormittag mit dem Zuge aus Florenz.“

Die Kleine sagte halblaut etwas auf Italienisch. Die Große fragte hierauf Helge:

„Es ist wohl jetzt kalt in Florenz?“

„Ja, hundekalt. Ist es nicht hier in Rom milder? Ich schrieb übrigens gestern nach Hause an meine Mutter und bat um meinen Wintermantel.“

„Auch hier kann es oft recht scharf und kalt sein. Fühlten Sie sich wohl in Florenz? Wie lange waren Sie dort?“

„Vierzehn Tage“, sagte Helge. „Ich glaube, Rom wird mir doch besser gefallen.“

Das andere junge Mädchen lachte. Die ganze Zeit über hatte es auf Italienisch vor sich hingebrummelt. Doch die Große sprach zu ihm mit ihrer warmen ruhigen Stimme:

„Ja, ich glaube, es gibt keine Stadt, die man so liebgewinnt wie Rom.“

„Ihre Freundin ist Italienerin?“ fragte Helge.

„Nein, Fräulein Jahrmann ist Norwegerin. Wir sprechen Italienisch miteinander, damit ich es lerne — sie ist nämlich schon sehr weit darin. Mein Name ist Winge“, fügte sie hinzu. „Dort liegt Cancelleria“, und sie wies auf einen großen düsteren Palast.

„Ist der Hofraum so schön, wie man sich erzählt?“

„Ja, herrlich. — Nun werde ich Ihnen helfen, die richtige Straßenbahn zu finden.“

Während sie standen und warteten, kamen zwei Herren quer über die Straße.

„Hallo, finden wir Sie hier?“ sagte der eine auf Schwedisch.

„Guten Abend“, begrüßte sie der andere. „Dann gehen wir doch zusammen hinüber? Seid Ihr unten gewesen, um Euch die Korallen anzusehen?“

„Der Laden war geschlossen“, erwiderte Fräulein Jahrmann mißmutig.

„Wir haben einen Landsmann getroffen, dem wir auf die richtige Straßenbahn helfen wollen“, setzte Fräulein Winge auseinander und stellte vor: „Kandidat Gram, Maler Heggen, Bildhauer Ahlin.“

„Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner erinnern, Herr Heggen, Gram ist mein Name — wir lernten uns einmal auf der Mysusenne kennen, vor etwa drei Jahren.“

„Ah, ja natürlich. Und nun sind Sie also in Rom?“

Ahlin und Fräulein Jahrmann hatten abseits gestanden und miteinander geflüstert. Jetzt ging sie auf die Freundin zu:

„Du, Jenny, ich gehe heim. Ich bin doch nicht dazu aufgelegt, zu Frascati zu gehen.“

„Aber liebes Kind, du hast ja selbst den Vorschlag gemacht.“

„Ach nein, nicht Frascati — dazusitzen und sich mit dreißig alten dänischen Weibern beiderlei Geschlechts abzuplagen.“

„Wir können ja etwas anderes wählen — doch da ist Ihre Straßenbahn, Kandidat Gram.“

„Ja, tausend Dank für Ihre Hilfe! Vielleicht sehe ich die Damen einmal wieder — im Skandinavischen Verein?“

Die Bahn hielt vor ihnen — da sagte Fräulein Winge:

„Sie haben vielleicht Lust, sich uns anzuschließen; wir hatten die Absicht, heute Abend ein wenig zu bummeln, Wein zu trinken und Musik zu hören.“

„Ja, danke.“ Helge war unsicher und verlegen und schaute auf die anderen. „Recht gern, aber —“ er wandte sich vertrauensvoll an Fräulein Winge mit dem hellen Antlitz und der freundlichen Stimme: „Sie kennen sich ja untereinander und — nun, ist es nicht am gemütlichsten für Sie alle, ohne fremde Gesellschaft zu sein?“ Er lachte verlegen.

„Aber nein, mein Lieber.“ Sie lächelte. „Im Gegenteil — sehen Sie, dort fährt Ihre Bahn schon — und Heggen kennen Sie ja doch von früher und jetzt uns. Wir werden schon darauf achtgeben, daß Sie richtig nach Hause gelangen — wenn Sie also nicht zu müde sind.“

„Müde! Nein. — Ich möchte sehr gern mit Ihnen zusammen sein“, versicherte Helge eifrig und erleichtert.

Die drei anderen begannen, Trattorien vorzuschlagen. Helge kannte keinen der Namen, die fielen; es war keiner von denen darunter, die sein Vater erwähnt hatte. Fräulein Jahrmann aber verwarf jeden Vorschlag.

„Nun gut, dann gehen wir eben nach St. Agostino. Du weißt, wo es den roten Wein gibt, Gunnar.“ Jenny Winge schlug ohne weiteres diese Richtung ein; Helge folgte.

„Da ist keine Musik“, hatte Fräulein Jahrmann einzuwenden.

„Aber natürlich — der Scheeläugige und der andere sind dort fast jeden Abend. Laßt uns doch nur nicht hier stehen und Zeit verlieren.“

Helge folgte mit Fräulein Jahrmann und dem schwedischen Bildhauer.

„Sind Sie schon längere Zeit in Rom, Herr Gram?“

„Nein, ich kam heute Vormittag aus Florenz.“

Fräulein Jahrmann lachte leise, Helge wurde verlegen. Er überlegte im Gehen — sollte er nicht doch lieber sagen, daß er müde sei und dann umkehren? Während sie durch finstere enge Straßen ihren Weg fortsetzten, plauderte Fräulein Jahrmann ununterbrochen mit dem Bildhauer und antwortete kaum, wenn er den Versuch machte, mit ihr zu sprechen. Ehe er sich jedoch entschlossen hatte, sah er das andere Paar vorn durch eine schmale Tür verschwinden.