„Was zum Teufel ist nun wieder in Cesca gefahren — ihre Launen kennen ja nachgerade keine Grenzen mehr; leg Deinen Mantel ab, Jenny, sonst erkältest Du Dich, wenn Du wieder hinauskommst.“ Heggen hängte Hut und Frühjahrsmantel an den Ständer und ließ sich in einen Korbsessel fallen.
„Das arme Ding, ihr geht es augenblicklich nicht gut — und außerdem lief uns dieser Gram ein Stück nach, ehe er es wagte, uns anzusprechen und nach dem Wege zu fragen; dergleichen bringt sie immer in Erregung, und dann, Du weißt ja, — ihr Herz.“
„Die Aermste. — Frecher Bursche übrigens.“
„O, nicht doch, er lief ja umher und wußte weder aus noch ein, glaube ich. Er macht nicht gerade den Eindruck, als habe er Erfahrung im Reisen. Du kennst ihn?“
„Keine Ahnung. Aber deshalb kann ich ihn sehr gut mal getroffen haben. Ah, da sind sie.“
Ahlin nahm Fräulein Jahrmann den Mantel von der Schulter.
„Teufel auch,“ meinte Heggen, „wie fein du heut Abend bist, Cesca.“
Sie lächelte erfreut und strich mit der Hand den Rock über den Hüften glatt, dann faßte sie Heggen bei den Schultern:
„Rück’ ein wenig zur Seite — ich will neben Jenny sitzen.“
„Herr des Himmels, wie ist sie schön,“ dachte Helge. Cescas Kleid war leuchtend grün, der üppige Busen hob sich aus dem hoch gearbeiteten Rock wie aus einem Blumenkelch. Die Sammetbluse leuchtete in den Falten wie gleißendes Gold; aus dem tiefen Ausschnitt wuchs der runde, mattbraune Hals empor. Sie war sehr brünett; unter der braunen Glocke des Plüschhutes umschmeichelten kleine kohlschwarze Locken die reinen, pfirsichroten Wangen. Das Antlitz war ganz jungmädchenhaft, schwere Lider bedeckten die tiefen, grauschwarzen Augen, und lächelnde Grübchen verschönten den kleinen, dunkelroten Mund.
Jenny Winge, so hübsch sie auch war, fiel gegen die Freundin ganz ab. Sie war ebenso blond wie die andere dunkel: das Haar, von der hohen weißen Stirn zurückgestrichen, lugte goldig schimmernd unter dem kleinen grauen Pelzbarett hervor; die Haut war schneeig weiß und lichtrot. Selbst Augenbrauen und die Wimpern über den stahlgrauen Augen waren hell — goldbraun. Der etwas bleiche Mund aber schien zu groß für das schmale Gesicht mit der kurzen geraden Nase und den blaugeäderten gewölbten Schläfen; wenn sie lachte, zeigte sie eine dichte Reihe blanker Zähne. Alles übrige an ihr war schmächtig, der lange schlanke Hals, die Arme, von hellen feinen Härchen bedeckt, und die langen, mageren Hände. Lang und aufgeschossen, wie sie war, erschien ihr Körper knabenhaft — sie mußte noch erstaunlich jung sein. Sie trug kleine weiße Aufschläge an den Ellenbogen und am Halsausschnitt des hellgrauen, seidenen Kleides, das, leicht und wallend, über der Brust und an den Hüften gekräuselt war — wohl um ihre Magerkeit etwas zu verbergen. Den Hals schmückte eine Kette von kleinen mattrosa Perlen, die sich in rosenroten Lichtpünktchen auf der Haut widerspiegelten.
Helge Gram hatte sich bescheiden am Ende des Tisches niedergelassen und folgte der Unterhaltung. Die fremde Gesellschaft sprach von einer Frau Söderblom, die krank gewesen war. Ein alter Italiener mit einer schmutzigweißen Schürze über dem dicken Leib kam herbei und fragte nach ihren Wünschen.
„Rot, weiß, sauer, süß — was wollen Sie trinken, Gram?“ wandte Heggen sich an ihn.
„Kandidat Gram soll sich einen halben Liter von meinem Rotwein bestellen“, meinte Jenny Winge. „Es ist einer der besten in Rom, und das will etwas heißen, wissen Sie!“
Der Bildhauer schob den Damen eine Zigarettendose hin. Cesca griff zu.
„O, nicht doch, Cesca“, bat Jenny.
„Nun erst recht“, sagte Cesca „Mir wird nicht besser, auch wenn ich es lasse. Und ich bin böse heute Abend.“
„Aber weshalb denn, liebes gnädiges Fräulein?“
„Ach. — Zum Beispiel weil ich die Korallen nicht bekam.“
„Brauchtest du sie denn heute Abend?“ fragte Heggen.
„Nein, aber ich hatte mich doch endlich entschlossen, sie zu kaufen.“
„Und morgen hast du dich für die Malachitkette entschieden?“ lachte Heggen.
„Nein, da irrst du dich, mein Lieber. Aber es ist auch abscheulich. Jenny und ich stürzten nur der Korallen wegen dort hinüber.“
„Auf diese Weise trafst du uns aber. Sonst hättet ihr zu Frascati gehen müssen, worauf du plötzlich auch ärgerlich geworden bist.“
„Ich wäre sicher nicht zu Frascati gegangen — das schwör’ ich dir, Gunnar. Und das wäre mir viel besser gewesen. Denn nun will ich rauchen und trinken und die ganze Nacht durchbummeln, da ihr mich nun einmal mitgelockt habt.“
„Ich glaubte, du hättest es vorgeschlagen.“
„Die Malachitkette war außerordentlich schön, finde ich,“ lenkte Ahlin ab, „und sehr billig.“
„Ja, aber Malachit ist in Florenz viel billiger. Diese kostet siebenundvierzig. Und in Florenz, dort wo Jenny ihre cristallo rosso kauft, hätte ich sie für fünfunddreißig Lire haben können. Jenny hat für ihre Kette nur achtzehn gegeben. Er muß mir die Korallen aber für neunzig Lire lassen.“
„Ich begreife nicht recht, wie du mit deinem Gelde auskommst“, sagte Heggen und lachte.
„Ich mag nicht noch länger darüber sprechen,“ sagte Cesca. „Ich habe dieses Hin- und Hergerede satt — morgen gehe ich und kaufe die Korallen.“
„Sind aber neunzig Lire nicht furchtbar teuer für Korallen?“ wagte Helge zu fragen.
„Sie können sich denken, daß es nicht so ganz gewöhnliche sind“, antwortete Cesca herablassend. „Es sind diese Contadinakorallen — eine dicke Kette mit Goldverschluß und langen schweren Ohrhängern.“
„Contadina — ist das eine besondere Art Korallen?“
„Nein, das sind die, mit denen die Contadine gehen.“
„Ich weiß nicht, was eine Contadine ist.“ Helge lächelte schüchtern.
„Ein Bauernmädchen. Haben Sie niemals diese Ketten gesehen, die sie tragen, diese schweren dunkelroten geschliffenen Korallen?“
„Meine Perlen haben dieselbe Farbe wie Rindfleisch und die mittelste ist so groß —“ sie bildete mit Daumen und Zeigefinger eine eigroße Rundung.
„Das muß wunderhübsch aussehen —“. Helge griff gierig den Gesprächsfaden auf. „Ich kenne Malachit oder cristalla rossa nicht — aber meiner Ansicht nach müßten solche Korallen Ihnen am allerbesten stehen.“
„Da können Sie hören, Ahlin — Sie wollten mich ja immer dazu verleiten, die Malachitkette zu kaufen. Heggens Schlipsnadel ist aus Malachit — bitte gib sie mir einen Augenblick, Gunnar. Und Jennys Perlenhalsband besteht aus cristallo rosso — nicht rossa — rotem Bergkristall, wissen Sie?“
Sie reichte ihm die Nadel und die Halskette. Die Kette war warm von ihrem Hals. Helge betrachtete sie einen Augenblick. In jeder Perle waren gleichsam kleine Spalten, die das Licht aufsogen.
„Sie müßten Korallen tragen, Fräulein Jahrmann. Wissen Sie, ich glaube, Sie sehen dann selbst aus wie eine römische Contadina.“
„Da könnt ihr’s hören.“ Sie lächelte leicht zu Helge hinüber und summte vergnügt vor sich hin. „Da könnt ihr’s selbst hören.“
„Sie haben ja auch einen italienischen Namen,“ fuhr Helge eifrig fort.
„Ach, der stammt noch von der italienischen Familie, bei der ich im vorigen Jahre wohnte, sie veränderten den häßlichen Namen, den ich von meiner Großmutter geerbt habe, und so behielt ich den italienischen bei.“
„Francesca,“ sagte Ahlin leise.
„Ich kann mir Sie nur als Francesca denken — Signorina Francesca.“
„Warum denn nicht Fräulein Jahrmann. Wir können leider nicht italienisch miteinander sprechen. Sie können ja die Sprache nicht.“ Sie wandte sich an die anderen. „Jenny und Gunnar, morgen kaufe ich also die Korallen.“
„Ja, das haben wir schon gehört,“ meinte Heggen.
„Aber ich will sie für neunzig haben.“
„Ja, man muß aber handeln,“ sagte Helge erfahren. „Ich war heute Nachmittag irgendwo in der Nähe der Peterskirche in einem Laden und erstand dies hier für meine Mutter. Er verlangte sieben Lire, ich bekam es aber für vier. Finden Sie es nicht billig?“ Er stellte den Gegenstand auf den Tisch.
Franziska betrachtete ihn verächtlich.
„Die kosten anderthalb auf dem Fischmarkt. Ich habe im vorigen Jahre zwei von der gleichen Art für jedes unserer Mädchen zu Hause mitgebracht.“
„Der Mann behauptete, es sei antik,“ wandte Helge unsicher ein.
„Das sagen sie immer, wenn sie merken, daß die Leute kein Verständnis dafür haben. Und nicht Italienisch können.“
„Es gefällt Ihnen also nicht?“ fragte Helge niedergeschlagen und hüllte es wieder in das rosa Papier. „Finden Sie nicht, daß ich es meiner Mutter schenken kann?“
„Ich finde es greulich,“ sagte Franziska. „Aber ich kenne ja den Geschmack Ihrer Mutter nicht.“
„Was soll ich denn nun aber mit diesem Ding anfangen?“ seufzte Helge.
„Schenken Sie es getrost Ihrer Mutter,“ meinte Jenny Winge. „Sie freut sich gewiß, daß Sie ihrer gedacht haben. Und außerdem — zu Hause haben die Leute Gefallen an solchen Dingen. Wir hier unten, wir sehen zuviel.“
Franziska griff nach Ahlins Zigarettendose, aber er weigerte sich, sie ihr zu geben. Einen Augenblick flüsterten sie heftig miteinander. Dann schleuderte sie das Etui von sich:
„Guiseppe.“
Helge begriff, daß sie beim Wirt Zigaretten bestellen wollte. Ahlin fuhr auf:
„Liebes Fräulein Jahrmann — ich meinte ja nur — Sie wissen doch, daß Sie das viele Rauchen nicht vertragen.“
Franziska erhob sich, Tränen in den Augen.
„Das ist gleichgültig, ich gehe nach Haus.“
„Fräulein Jahrmann — Francesca.“ Ahlin hielt ihr den Mantel, während er leise bettelte. Sie trocknete ihre Augen mit dem Taschentuch.
„Doch — ich will heim. Kinder — ihr seht doch, daß ich heute Abend unmöglich bin. Nein, ich will nach Haus — allein — nein Jenny, du darfst nicht mit mir gehen.“
Heggen erhob sich ebenfalls. Helge saß verlassen am Tisch.
„Du bildest dir doch wohl nicht ein, daß wir dich zu nächtlicher Stunde allein gehen lassen,“ meinte Heggen.
„Ahso, du verbietest mir’s vielleicht?“
„Ja, allerdings.“
„Still doch, Gunnar,“ sagte Jenny Winge. Sie schob beide Herren zur Seite — sie setzten sich schweigend nieder — während Jenny, den Arm um Franziskas Hüfte gelegt, diese mit sich zog und leise mit ihr sprach. Kurz darauf kamen beide wieder an den Tisch zurück.
Die Gesellschaft war jedoch verstimmt. Franziska lag halb in Jennys Arm — sie hatte ihre Zigaretten bekommen, rauchte und schüttelte den Kopf zu Ahlins Versicherungen, daß die seinen besser wären. Jenny hatte eine Schale mit Früchten bestellt; sie verzehrte eine Mandarine und schob hin und wieder eine Scheibe in Franziskas Mund. Oh — wie hübsch Franziska doch war, wie sie dalag, mit einem kleinen betrübten Kindergesicht und sich von der Freundin füttern ließ. Ahlin starrte sie ununterbrochen an, und Heggen zerbrach abgebrannte Zündhölzer in kleine Stümpfchen und steckte sie in die Mandarinenschalen.
„Sind Sie schon länger in Rom, Kandidat Gram?“ fragte er.
Helge versuchte humorvoll zu sein:
„Ich pflege zu sagen, daß ich heute Vormittag mit dem Zuge aus Florenz kam.“
Jenny lachte höflich — Franziska jedoch lächelte ersterbend.
Im gleichen Augenblick trat ein barhäuptiges, dunkelhaariges Mädchen mit einem frechen, fetten bleichen Gesicht zur Türe herein. In der Hand trug sie eine Mandoline. Hinter ihr her trippelte ein kleiner, verwitterter Bursche von schäbiger Eleganz mit einer Guitarre.
Jenny plauderte — wie zu einem Kinde.
„Sieh nur, Cesca, das ist Emilia — jetzt bekommen wir Musik.“
„Das bringt Leben herein,“ sagte Helge. „Ziehen diese Volkssänger hier in Rom wirklich immer noch von Osteria zu Osteria?“
Die Volkssänger begannen mit einem modernen Gassenhauer. Das Mädchen hatte eine seltsam hohe, klare, metallische Stimme.
„O pfui, nicht doch!“ Franziska erwachte: „Das wollen wir doch nicht hören — wir wollen natürlich etwas Italienisches haben — ‚la luna con palido canto‘ — nicht wahr?“
Sie schlüpfte zu den Musikanten hinüber und begrüßte sie wie alte Freunde — lachte und gestikulierte, ergriff die Guitarre und schlug ein paar Töne an, während sie die eine oder andere Melodie dazu summte.
Die Italienerin sang. Süß und schmeichelnd flatterte die Melodie, begleitet vom Klingen der Metallsaiten, durch den Raum, und Helges Freunde sangen den Kehrreim mit. Das Lied handelte von amore und bacciare.
„Es ist ein Liebeslied, nicht wahr?“
„Ein feines Liebeslied,“ lachte Franziska. „Uebersetzt darf es nicht werden, aber auf italienisch klingt es wunderhübsch.“
„Ach, so häßlich ist es doch nicht,“ sagte Jenny Winge. Sie wandte sich mit ihrem zuvorkommenden Lächeln an Helge: „Nun, Kandidat Gram, finden Sie es nicht gemütlich hier? Ist der Wein nicht gut?“
„Ja, ausgezeichnet. Und das Lokal ist gewiß sehr charakteristisch.“
Er hatte jedoch den Mut vollständig verloren. Jenny Winge und Heggen wandten sich hin und wieder an ihn, er vermochte aber nicht, ein Gespräch in Fluß zu halten. Schließlich begannen die anderen, sich miteinander zu unterhalten — über Gemälde. Der schwedische Bildhauer saß nur da und betrachtete Franziska. Die fremdartigen Melodien schwirrten von den klingenden Metallsaiten auf — an ihm, Helge, vorüber — als ein Gruß an die anderen. Der Raum, in dem er sich befand, war, wie er sein mußte: der Fußboden aus gelbem Backstein, die Wände und die Deckenwölbung, weißgekalkt, ruhten auf einer dicken Mittelsäule, die Tische waren vorschriftsmäßig ungestrichen, und die Stuhlsitze aus grünen Weiden geflochten. Die Luft war säuerlich durchzogen von gegorenem Brodem, der aus den Weinfässern hinter dem marmorenen Schenktisch aufstieg.
Künstlerleben in Rom! Es war ungefähr, als betrachte er ein Bild oder lese eine Beschreibung darüber in einem Buch. Nur mit dem Unterschied, daß er sich hier überflüssig fühlte — so hoffnungslos einsam. Solange man es in den Büchern oder auf den Bildern erlebte, konnte man im Traume mit dabei sein. Er war jedoch davon überzeugt, daß er sich unter diesen Leuten nie einleben würde.
Zum Teufel, das war auch das Beste! Im Grunde taugte er ja gar nicht dazu, unter Leuten zu sein — erst recht nicht unter Menschen dieser Art. Wie gedankenlos Jenny Winge nun nach dem dicken, undurchsichtigen Glas mit dem dunkelroten Weine griff! — Für ihn war es eine Sehenswürdigkeit — sein Vater hatte davon erzählt — ihn auf das Glas aufmerksam gemacht, das jenes Mädchen auf Marstrands Römischem Bilde, im Kopenhagener Museum, in der Hand hielt. Nach Jenny Winges Ansicht taugte das Bild sicher nichts. — Diese jungen Damen hatten sicher niemals vom Hofraum des Bramante in der Cancelleria gelesen — „dieser Perle der Renaissancearchitektur“. Sie hatten ihn vielleicht zufällig eines Tages entdeckt, als sie auf dem Flohmarkt waren, um sich Perlen und anderen Staat zu kaufen — hatten wohl begeistert ihre Freunde herbeigeholt, um ihnen diese neue Herrlichkeit zu zeigen, die sie sich nicht hätten träumen lassen. — Die hatten wohl kaum in den Büchern nachgelesen über jeden Stein und jeden Ort, bis die Augen davon schmerzten, und all der Schönheit ringsum sich verschlossen, die sie nicht schon in den Träumen daheim erschaut. Sie konnten sich vielleicht an irgendeiner weißen Säule erfreuen, die zum blauen Südhimmel emporragte, ohne pedantische Neugier, welcher Tempel und welchen vergessenen Gottes Heiligtum einst dort gestanden hatte.
Geträumt hatte er — und gelesen. Und er machte die Erfahrung — nichts sah in Wirklichkeit dem gleich, was er erwartet hatte. Alles wurde so grau und hart in des klaren Tages Licht — der Traum hatte sein Phantasiegebilde in ein weiches Halbdunkel gehüllt, es harmonisch abgerundet zu einem Ganzen vereint und über die Ruinen Sommergrün gebreitet. Er war nun gekommen, um nachzuschauen, ob all das, worüber er gelesen, auch auf seinem rechten Platze stand. Später könnte er es auf der Höheren Töchterschule aus den Büchern aufzählen und sagen, daß er es gesehen — und doch würde er nichts berichten können über Dinge, die er selbst entdeckt. Nichts würde er kennenlernen außer dem, wovon er gelesen. Wenn er auf lebendiges Material stieß, versuchte er, unter ihnen eine der toten, erdichteten Gestalten zu finden, wie er sie kannte — ob einer wie sie dabei war. Wie sollte er auch etwas von lebendigen Menschen wissen, er, der niemals gelebt ....
Heggen dort, mit dem dicken roten Mund, träumte jedenfalls kaum von romantischen Abenteuern à la Romanbibliothek aus dem Familienjournal, wenn er Abends auf Roms Straßen mit einem kleinen Mädchen anbändelte.
Helge begann zu verspüren, daß er Wein getrunken hatte.
„Wenn Sie jetzt gehen und sich zu Bett legen, so haben Sie morgen Kopfweh,“ sagte Jenny Winge zu ihm, als sie wieder draußen auf der finsteren Gasse standen. Die drei anderen gingen voraus; Helge folgte mit ihr in geringem Abstand.
„Ehrlich gesagt, Fräulein Winge, finden Sie nicht, daß Sie da einen schrecklich langweiligen Burschen mitbekommen haben?“
„Nein, mein Lieber. Es liegt ja nur daran, daß Sie uns nicht kennen und wir Sie nicht — noch nicht jedenfalls.“
„Mir wird es so schwer, mich anzuschließen — es gelingt mir eigentlich niemals. Ich hätte nicht mitgehen sollen, als Sie so liebenswürdig waren, mich heute Abend einzuladen. Zum Amüsieren scheint man auch Uebung haben zu müssen.“ Er versuchte zu lachen.
„Ja gewiß.“ Helge konnte an ihrer Stimme hören, daß Jenny lächelte. „Ich war fünfundzwanzig, ehe ich begann, mich zu üben, und weiß Gott, der Anfang war auch für mich nicht leicht.“
„Sie? Ich glaubte, daß Sie Künstlerleute immer ... Uebrigens dachte ich, Sie hätten es noch weit bis fünfundzwanzig.“
„Oh, Gott sei Dank, ich bin schon weit darüber.“
„Und da sagen Sie Gott sei Dank? — Und ich dagegen als Mann. — Ich weiß nicht — jedes Jahr, das gleichsam von mir abbröckelt, hinabsinkt in die Ewigkeit, ohne etwas gebracht zu haben — außer der demütigen Erkenntnis, daß die Mitmenschen mich nicht brauchen, mich nicht zu den ihren rechnen —“ Helge hielt plötzlich erschrocken inne. Er fühlte wie seine Stimme zitterte, hatte auch die Empfindung, als sei er ein wenig angetrunken, da er so zu einer Dame sprach, die er nicht einmal kannte. Er fuhr jedoch, gegen seine eigene Scheu ankämpfend, fort: „Ich finde, es ist völlig hoffnungslos. Wenn mein Vater von der Jugend seiner Zeit erzählte — sie führten große Worte im Munde von goldenen Illusionen und dergleichen. Zum Teufel, ich habe in all den Jahren nicht eine einzige Illusion gehabt, von der ich hätte Wesens machen können. Und die Jahre sind verflossen — verloren — nicht wiederzuerlangen.“
„Das dürfen Sie nicht sagen, Kandidat Gram. Nicht ein Jahr unseres Lebens ist verloren, solange man es nicht so weit getrieben hat, daß Selbstmord der einzige ist. Ich glaube nicht, daß die Alten aus der Zeit der goldenen Illusionen besser daran waren — ihre Jugendillusionen verschlossen ihnen das Leben. Wir — die meisten jungen, die ich kenne, begannen ohne Illusionen — wir wurden hinausgeschleudert in den Kampf um die Existenz, fast alle, ehe wir recht erwachsen waren. Wir waren von Anfang an auf das Schlimmste gefaßt. Doch eines Tages lernten wir erkennen, daß wir uns dennoch mancherlei Gutes herausholen könnten. Dies und jenes geschah, wobei wir dachten, erträgst du das, so hältst du auch das Messer aus. Bekommt man auf die Weise erst ein wenig Selbstvertrauen, dann gibt es keine Illusionen, deren uns zufällige Verhältnisse und Mitmenschen berauben können.“
„Ach — Verhältnisse — oder Zufall! Wenn sie stärker sind als wir selbst, so hilft uns auch das Selbstvertrauen nicht!“
„Ja,“ sie lachte. „Natürlich — wenn ein Schiff in See geht — so kann der Zufall wollen, daß es havariert. Ein Gußfehler im Rade und alles zerspringt. Ein Zusammenstoß ... Aber die ziehen wir nicht in Betracht. Und was die Verhältnisse betrifft, so müssen wir sie zu bekämpfen suchen. Meist findet man am Schluß doch einen Ausweg.“
„Sie sind also durchaus optimistisch, Fräulein Winge?“
„Ja.“ Sie schwieg. „Ich bin es geworden, als ich so nach und nach die Erfahrung machte, wieviel die Menschen wirklich ertragen können, ohne den Mut zum Weiterkämpfen zu verlieren — und ohne schlecht zu werden.“
„Das ist es ja eben — ich finde, sie werden schlecht. Verdorben — oder jedenfalls verkleinert.“
„Nicht alle. Und der Umstand, daß einige sich vom Leben nicht verderben oder — verkleinern lassen, finde ich, genügt, um uns optimistisch zu machen. — Wir wollen hier einkehren,“ sagte sie.
„Dies gleicht eher einer Montmartrekneipe oder ähnlichem, finde ich — nicht wahr?“ Helge sah sich um.
An den Wänden des winzigkleinen Lokales entlang liefen schmale plüschüberzogene Bänke. Kleine Marmortische standen umher, und auf dem Schenktisch brannte eine Flamme unter zwei großen Nickelkochern.
„Oh. Derartige Lokale sind wohl überall gleich,“ sagte Jenny. „Kennen Sie Paris?“
„Nein — ich dachte nur —“
Er wurde plötzlich ohne jeden Anlaß verwirrt. So ein kleines Kunstmädel, das sich natürlich nach eigenem Gutdünken in der Welt umhertummelt — Gott übrigens mochte wissen, woher ihresgleichen das Geld nahm. Es schien ebenso natürlich, daß man in Paris gewesen war wie eines Abends im Café Dronningen in Kristiania. — Für diese Art von Menschen war es weiß Gott ein Leichtes, von Selbstvertrauen zu sprechen. Ein kleiner Liebeskummer in Paris, den sie in Rom vergaß, das war vielleicht das Schwerste, das sie durchgemacht. Und nun fühlte sie sich so verteufelt keck und übermütig und erfahren, daß sie meinte, das ganze Leben ertragen zu können.
Ihre Figur war eigentlich unschön, obgleich sie ein frisches Antlitz hatte mit wunderbaren Farben.
Am meisten reizte es ihn aber, mit Franziska Jahrmann zu plaudern. Sie sprühte jetzt vor Lebendigkeit, war jedoch von Ahlin und Heggen völlig in Anspruch genommen. Unterdes verzehrte Jenny Winge Spiegeleier mit trockenem Brot und trank kochend heiße Milch dazu.
„Hier scheint mir verdächtiges Publikum zu verkehren,“ wandte Helge sich an sie. „Die reinen Verbrechertypen alle miteinander, finde ich.“
„O ja, hier findet man Menschen von jeder Sorte. Sie dürfen nicht vergessen, Rom ist eine moderne Großstadt. Es gibt viele Leute, die in Nachtschicht arbeiten. Und dieses Lokal ist eines der wenigen, die um diese Stunde noch geöffnet sind. Sind Sie nicht hungrig? Ich werde mir jetzt schwarzen Kaffee kommen lassen.“
„Halten Sie immer solange aus?“ Helge sah nach der Uhr. Es war um die vierte Stunde.
„Aber nein“, sie lachte. „Nur hin und wieder. Wir sehen uns den Sonnenaufgang an und essen dann zusammen unser Frühstück. Heute Abend ist es nun Fräulein Jahrmann, die nicht nach Hause will.“
Helge wußte selber kaum, weshalb er sitzen blieb. Man trank irgendeinen blaugrünen Likör, der ihn ganz taumelig machte, indes die anderen lachten und plauderten. Um ihn her schwirrten Namen von Menschen und Orten, die er nicht kannte.
„Nein, hört mal, Douglas mit seinen Moralpredigten, kommt mir nicht damit! Ihr müßt nämlich wissen — eines Morgens waren wir allein oben im Aktsaal, er und der Finne. Ihr entsinnt euch doch, Lindberg und ich, und wir beide gingen hinunter, um etwas Kaffee zu trinken — es war im Juni vergangenen Jahres. Als wir zurückkamen, saß Douglas da, das Mädel im Arm. Nun, wir taten, als sei nichts vorgefallen. Er lud mich aber seitdem nie mehr zum Tee ein.“
„Herrgott,“ meinte Jenny, „war es denn so gefährlich?“
„Mitten im Frühling — in Paris,“ lachte Heggen. „Laß dir’s gesagt sein, Cesca: Norman Douglas war ein feiner Kerl — du darfst nicht das Gegenteil behaupten, und geschickt; er zeigte mir einige wunderhübsche Sachen von den Befestigungswerken draußen.“
„Ja — und besinnst du dich auf das Bild vom Père Lachaise — mit den violetten Perlenkränzen links unten?“ sagte Jenny.
„Ja gewiß, das war verflucht hübsch — und das kleine Mädchen am Klavier.“
„Ach, aber stellt euch doch vor, das häßliche Modell,“ sagte Franziska wieder. „Es war obendrein die fette, ältliche, mit dem hellen Haar. Und dabei hat er sich doch so tugendhaft angestellt.“
„Er war es auch,“ sagte Heggen.
„Pah. Und ich war eben im Begriff, mich aus diesem Grunde in ihn zu verlieben.“
„Ah so, das ändert die Sache allerdings erheblich.“
„Ja, er hatte oftmals um mich angehalten,“ sagte Franziska gedankenvoll. „Und ich hatte mich eigentlich entschlossen, Ja zu sagen. Nun war es freilich ein Glück, daß ich es nicht tat.“
„Hättest du ihm dein Jawort gegeben,“ meinte Heggen, „so hättest du ihn niemals mit dem Modell im Arm zu sehen bekommen.“
Franziskas Antlitz veränderte sich mit einem Male vollständig. Ein blitzartiges Zucken lief über die weichen Züge. Dann lachte sie:
„Ach — ihr seid alle miteinander gleich — ich traue nicht einem von euch, basta. Per bacco.“
„So dürfen Sie nicht denken, Francesca.“ Ahlin hob einen Augenblick den Kopf.
Sie lachte wieder.
„Ach, ich will mehr Likör haben, Herrschaften.“
Gegen Morgen ging Helge an Jennys Seite durch dunkle, ausgestorbene Straßen. Einmal machte die Gesellschaft vorn Halt. Auf einer Steintreppe hockten zwei halbwüchsige Burschen. Franziska und Jenny sprachen mit den Jungen und gaben ihnen Geld.
„Bettler?“ fragte Helge.
„Ich weiß es nicht — der große sagte, er trüge Zeitungen aus.“
„Die Bettler hierunten sind wohl im Grunde nur Simulanten?“
„Ich weiß nicht — einige vielleicht — oder die meisten. Viele schlafen jedoch auf der Straße, sogar mitten im Winter. Mancher ist verkrüppelt.“
„Ich sah es in Florenz. Es ist ein Skandal, daß Leute mit so scheußlichen Wunden oder furchtbar verunstaltet umhergehen und betteln dürfen! Das Armenwesen müßte sich dieser Jammergestalten annehmen.“
„Ich weiß nicht recht. Es ist nun einmal so hier unten. Wir Fremden können ja nicht darüber urteilen. Es geht ihnen vielleicht besser so — sie verdienen mehr auf diese Art.“
„Auf dem Piazzale Michelangelo beobachtete ich einen Bettler ohne Arme — die Hände saßen ihm oben auf den Schultern. Ein deutscher Doktor, mit dem ich zusammen wohnte, sagte, er besäße eine Villa bei Fiesole.“
„Na also, ist das nicht sehr gut?“
„Daheim bei uns lernen die Krüppel arbeiten,“ wandte Helge ein, „so daß sie sich auf ehrliche Weise durchschlagen können.“
„Zu einer Villa reicht es aber kaum,“ sagte sie und lachte.
„Dennoch — ist etwas Demoralisierenderes denkbar, als davon zu leben, daß man seine Verkrüppelungen zur Schau stellt?“
„So oder so, das Bewußtsein, daß man ein Krüppel ist, wirkt sicher immer demoralisierend.“
„Trotzdem, — davon zu leben, daß man das Mitleid der Leute anruft —.“
„Wer ein Krüppel ist, weiß ja doch, daß er bemitleidet wird und Hilfe annehmen muß — von Menschen oder Gott.“
Jenny stieg ein paar Treppenstufen hinan und hob den Zipfel eines Türvorhanges in die Höhe, der einer schlottrigen Matratze ähnlich sah. Sie standen in einer winzig kleinen Kirche.
Auf dem Altar brannte Licht. Der Schein brach sich mannigfaltig in den Messingstrahlen des Glorienkranzes über dem Monstranzschrank, flimmerte unruhig auf Leuchtern und Metallgegenständen und ließ die Papierrosen in den Vasen auf dem Altar blutigrot und goldgelb erglühen. Ein Priester las, mit dem Rücken gegen das Publikum, lautlos in einem Buche; ein paar Chorknaben huschten hin und her, neigten und bekreuzten sich und machten Bewegungen, deren Sinn Helge nicht verstand.
Sonst war der kleine Kirchenraum dunkel — in zwei Seitenschiffen flackerten winzige Nachtlämpchen, an dunkelleuchtenden Metallketten vor Bildern schwebend, die noch düsterer erschienen als die Dunkelheit.
Jenny Winge kniete auf einem Rohrschemel nieder. Sie legte ihre Hände gefaltet vor sich auf das Pult und beugte den Kopf leicht hintenüber, so daß ihr Profil sich scharf gegen den weichen Goldglanz der Lichter abhob, der in dem hochgestrichenen Haarschopf flimmerte und sanft über die schlanke nackte Wölbung des Halses hinfloß.
Heggen und Ahlin holten sich lautlos ein paar Rohrstühle herbei, die um eine der Säulen übereinandergestapelt waren.
Dieser stille Gottesdienst vor Tagesgrauen war eigentlich seltsam und stimmungsvoll. Gram folgte gespannt jeder Bewegung des Priesters am Altar. Einer der Chorknaben hängte ihm ein weißes Tuch mit einem goldenen Kreuz über die Schultern. Jetzt nahm der Priester die Monstranz vom Schrank über dem Altar, wandte sich um und hielt sie hoch ins Licht. Die Knaben schwenkten die Weihrauchkessel; kurz darauf drang scharfer, süßlicher Rauch zu ihnen hinüber. Helge wartete jedoch vergebens auf Musik oder Gesang.
Jenny kokettierte augenscheinlich ein wenig mit dem Katholizismus, indem sie niederkniete. Heggen starrte geradeaus auf den Altar, er hatte den einen Arm um Franziskas Schulter gelegt — sie war eingeschlummert und hatte sich an ihn geschmiegt. Ahlin konnte er nicht sehen, er saß hinter einer Säule und schlief sicher ebenfalls.
Seltsam war es, hier mit diesen wildfremden Menschen zu sitzen. Helge fühlte sich einsam — aber jetzt schmerzte dieser Gedanke nicht. Jene freie, glückliche Stimmung vom vergangenen Abend kehrte zurück —. Er betrachtete die anderen, die beiden jungen Mädchen. Jenny und Franziska — er wußte nun ihre Namen, viel mehr aber auch nicht. Und keine von ihnen ahnte, was es für ihn bedeutete, hier zu sitzen, was er nun alles zurückgelassen hatte, all die schmerzlichen Kämpfe daheim, vor denen er geflohen. Niemand kannte die Hindernisse, an denen er sich müde gearbeitet, die Fesseln, die ihn eingeschnürt hatten. Eine wundersame, fast hochmütige Freude erfüllte ihn bei diesem Gedanken, und seine Augen ruhten mit nachsichtigem Mitleid auf den beiden Frauen. So junge Dinger wie Cesca und Jenny, unverbraucht und frisch, mit kleinen unumstößlichen Ansichten hinter den weißen, glatten Jungmädchenstirnen. Zwei frische hübsche Mädels, die ihren geraden Weg durchs Leben schritten, hier und da, wie zum Zeitvertreib, wohl ein kleines Steinchen beiseite räumen mußten, von Schicksalen wie dem seinen aber nichts wußten.
Er fuhr auf, als Heggen seine Schultern berührte, und errötete; er war eingenickt.
„Nun, Sie haben auch einen kleinen Schlummer getan, wie ich sehe“, sagte Heggen.
Draußen standen die hohen stillen Häuser in der grauen Dämmerung — schliefen mit geschlossenen Läden in allen Stockwerken. In einer Seitenstraße ratterte eine klappernde Straßenbahn vorüber, eine Droschke holperte über das Steinpflaster, und hier und da schlich eine verfrorene, schläfrige Gestalt den Bürgersteig entlang.
Sie bogen in eine Straße ein, an deren Ausgang man den Obelisk vor der Trinitat dei-Monti-Kirche erblicken konnte — er hob sich weiß gegen des Pincio schwarze Steineichen ab. Nicht eine Menschenseele war zu sehen und nicht ein Laut zu hören außer ihren eigenen Schritten auf den Steinen und dem Rieseln einer kleinen Fontäne in irgend einem Hofe. Und weit entfernt durch die Stille plätscherte der Springbrunnen auf dem Monte Pincio gegen das steinerne Becken. Helge erkannte den Ton wieder, und als sie dem Laut nachgingen, schoß in ihm ein feiner zarter Strahl von Glückseligkeit auf — es war, als erwarte ihn seine eigene Freude vom verflossenen Abend da droben an dem springendem Quell unter den Steineichen.
Er wandte sich an Jenny, ohne zu ahnen, daß seine Augen und seine Stimme für seine kleine Freude baten:
„Hier oben stand ich gestern abend und sah die Sonne untergehen. Es war so wunderlich. Jahrelang habe ich dafür gearbeitet — mein Wunsch war es, Archäologe zu werden. Aber nach meinem zweiten Examen mußte ich die Lehrtätigkeit ergreifen. Immer habe ich auf den Tag gewartet, an dem ich hierher kommen würde — mich gleichsam darauf vorbereitet. Und doch — als ich dann hier stand, so plötzlich — war ich gänzlich unvorbereitet.“
„Ja,“ meinte Jenny, „ich verstehe das sehr gut.“
„Uebrigens, als ich gestern aus dem Zug gestiegen war, da sah ich es gleich alles vor mir liegen: die Ruinen der Termen, die schweren, gelben, von der Sonne überfluteten Mauerreste, und mitten unter ihnen die großartigen Neubauten mit Kaffees und Kinematographen, die Straßenbahnen auf dem Platz, die Anlagen und die herrlichen Springbrunnen mit ihren übervollen Wasserbecken ... Die alten Mauern inmitten der modernen Häuserblocks und das Getriebe der Stadt ringsumher — gerade das fand ich so schön.“
„Ja,“ sagte sie mit fröhlicher Stimme und nickte. „Ich liebe es auch sehr.“
„Und dann ging ich hinab. Altertum und Neuzeit vereint! Ueberall Springbrunnen, rieselnd und rauschend und plätschernd. Ich ging geradenwegs zum St. Peter; es dunkelte, als ich dort ankam, und ich stand und betrachtete die beiden Fontänen auf dem Platz. Hier in der Stadt springen sie wohl die ganze Nacht hindurch.“
„Die ganze Nacht — fast überall hört man Springbrunnen. Die Straßen hier sind ja so still des Nachts. Dort, wo wir wohnen, Franziska und ich, ist eine kleine Fontäne unten im Hof. Wir haben einen Balkon vor unseren Zimmern, und wenn es abends milde ist, sitzen wir draußen und lauschen dem Rinnen bis in die tiefe Nacht hinein.“
Sie hatte sich auf das Steingeländer gesetzt. Helge Gram stand am gleichen Ort wie am Abend vorher und sah wieder über die Stadt mit ihren Höhenzügen im Hintergrund, den grauweißen und verwitterten. Und der Himmel spannte sich darüber so hell und klar wie über dem Hochgebirge. Er sog die reine, eiskalte Luft in vollen Zügen ein.
„Nirgends auf der Welt,“ sagte Jenny, „ist der Morgen so wie hier in Rom. Ich habe das Gefühl, als schlafe die ganze Stadt — einen Schlaf, der leichter und leichter wird — und plötzlich ist sie erwacht, ausgeruht und frisch. Heggen meint, es käme von den Fensterläden; da sind keine Scheiben, die das Morgenlicht einfangen.“
Sie hatten den Rücken dem Morgengrauen und dem goldenen Himmel zugewandt, gegen den sich die Pinienkronen des Medicigartens und die beiden kleinen Türme der Kirche mit den Wimpeln auf der Spitze hart und scharf abzeichneten. Noch war die Sonne nicht aufgegangen. Die graue Häusermasse dort unten aber begann langsam Farben auszustrahlen — es schien, als würde das Mauerwerk auf zauberhafte Weise von innen her mit Farben durchleuchtet; einige Häuser glühten in tiefem Rot auf, bis dies ganz langsam in einen rosenfarbenen Schein überging, andere schimmerten gelblich, andere wieder weiß. Die Villen draußen auf dem dunklen Höhenzug des Monte Mario erhoben sich leuchtend aus den braunen Grashängen und schwarzen Zypressen.
Bis plötzlich draußen von den Höhen hinter der Stadt ein Blinken kam wie von einem Stern; da war doch eine Fensterscheibe, die den ersten Sonnenstrahl eingefangen hatte. Das dunkle Laub dort drüben flammte auf wie das Gold von Oliven.
Eine kleine Glocke drunten in der Stadt begann zu läuten.
Cesca lehnte sich müde an ihre Freundin:
„Il levar del sole.“
Helge bog den Kopf weit zurück und starrte in das kühle Blau der Himmelskuppel. Jetzt schoß ein Sonnenstrahl hervor, die höchste Spitze der Wassersäule des Brunnens streifend. Die Tropfen da droben funkelten azurblau und golden.
„Ah — Gott segne Euch alle miteinander, ich bin so schauderhaft müde,“ sagte Franziska und gähnte so laut sie konnte. „Uuh, so kalt. Jenny, erfrier dir deinen zarten Körperteil nicht auf den kalten Steinen — nun will ich zu Bett — subito.“
„Ja, müde.“ Heggen gähnte. „Wir wollen heim, Herrschaften. Das heißt, ich trinke erst eine Tasse kochende Milch auf meiner Latteria. Gehen wir also?“
Sie schlenderten die Spanische Treppe hinab. Helge betrachtete all die kleinen grünen Blättchen, die zwischen den weißen Steinstufen hervorlugten.
„Seltsam, daß sie hier gedeihen, wo so viele Menschen gehen und alles niedertreten.“
„Oh ja, es sprießt hier überall, wo sich nur ein wenig Erde zwischen zwei Steinen findet. Sie hätten im letzten Frühjahr das Dach sehen sollen, unter dem wir wohnen. Dort wächst ein kleines Feigenbäumchen zwischen den Dachziegeln. Cesca macht sich solche Sorge, daß es den Winter nicht überdauert — und wovon soll es leben, wenn es größer wird? Sie hat es gezeichnet.“
„Ihre Freundin malt auch, wie ich hörte?“
„Ja, Cesca ist sehr talentvoll.“
„Ich besinne mich jetzt, ich sah im vergangenen Herbst auf der staatlichen Kunstausstellung ein Bild von Ihnen,“ sagte Helge ein wenig zaghaft. „Rosen in einer Kupferschale.“
„Ja, das hab’ ich im Frühling hier unten gemalt. Jetzt bin ich nicht mehr damit zufrieden —. Ich war im Sommer zwei Monate in Paris und finde, daß ich in der Zeit sehr viel gelernt habe. Ich habe es aber verkaufen können, für dreihundert Kronen; das war der Preis, für den ich es ausgeschrieben hatte. Ja, einiges ist übrigens ganz gut daran.“
„Sie malen etwas modern — aber das tun Sie gewiß alle?“
Jenny lächelte leise, antwortete aber nicht.
Die anderen standen am Fuß der Treppe und warteten. Jenny reichte allen die Hand und sagte Guten Morgen.
„Das sieht dir doch wieder ähnlich,“ sagte Heggen. „Ist es dein Ernst, jetzt hinaufzugehen und zu arbeiten?“
„Gewiß.“
„Du bist völlig irrsinnig.“
„Jenny, komm’ mit nach Haus,“ jammerte Franziska.
„Warum soll ich nicht arbeiten, wenn ich nicht müde bin? Ja, Kandidat Gram, jetzt sollten Sie wohl eine Droschke haben und heimfahren.“
„Ja. Uebrigens: ist das Postamt nicht um diese Zeit geöffnet? Ich weiß, es soll nicht so weit von der Piazza di Spagna entfernt sein.“
„Dort muß ich vorüber — dann können Sie ja mit mir gehen.“
Sie nickte ein letztes Mal den anderen zu, die sich anschickten, heimzuziehen. Franziska hing an Ahlins Arm, taumelnd vor Müdigkeit.