Die Katastrophale Metamorphose des Ovid by Jo Krall / Hugo C - HTML preview

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Tag 11 – Samstag 26. Juni

Viel zu früh erwachte ich. Angst, ohne Wecker zu verschlafen. Die Gemeinschaftsdusche war menschenleer. Erinnerungen an Jos Schulzeit stiegen in mir auf, anderes Land, gleiches Ambiente. Der Frühstücksraum, der aussah wie das Gemeindezentrum einer Kirche, öffnete um sechs Uhr dreißig. Gierig verschlang ich Brötchen, Käse und Wurst. Der Kaffee war wässerig, aber heiß. Nach der Mahlzeit begab ich mich auf einen Spaziergang. Die Sonne kämpfte vergeblich gegen den Dunst an.

Um Punkt acht Uhr öffnete ich ohne Anklopfen die Tür zum kleinen Festsaal im ersten Stock. Das kleinbürgerliche Wirtschaftswunder-Dekor war dem Raum erspart geblieben. Der Saal war frühbarock; militärisch nüchtern mit Einsprengseln historischen Prunks. Die Wände waren originalbelassen, der Geruch feucht und modrig. An der Mauer hingen Fackelhalter und der Kamin wies Gebrauchsspuren auf. In der Mitte des Raums stand ein Holztisch, umringt von mehreren spartanisch gepolsterten Holzstühlen im spätmittelalterlichen Stil. An der Wand zwischen den Fenstern befanden sich Sessel für die abwesende Dienerschaft.

Ich ging zum Tisch und schüttelte den beiden sich erhebenden Männern die Hand. Der Kleinere, korpulent, Halbglatze mit darüber drapierten Haaren, dunkle Stahlbrille, leichter Pferdebiss, schlecht sitzender Anzug, blauer Nicki, dunkelblaue Krawatte, schwitzend, sich windend und die Hände aneinander pressend, hieß mich willkommen. Der Andere, groß, hager, in den 50ern, ein Wollsakko ohne Krawatte tragend, gleichfalls Nicki, blieb stumm. Der Dicke hieß Wolfgang, der Dünne N.N. Der eine stand, der andere setzte sich. Pat lächelte unsicher, Patachon blickte ernst.

Ovid nahm Platz, die Freizeitjacke anbehaltend, es war kühl in dem Raum. Pats Mund sonderte Geräusche ab, während Patachon mich weiterhin leichenbitter beobachtete. Pat erinnerte mich an einen Marktstandschreier. Mit verlegenem Lächeln, abgegriffenen Witzeleien, umhüllt von der Aura des Versagens, wollte er Hausfrauen vom Kauf seines Küchengerätes überzeugen. Insofern passte er gut zu der Firma. Vielleicht mehr der Mann für die Diskontlinie, während der andere einzugreifen hätte, falls der Kunde Interesse an der teuren Serie bekundete.

"Vielen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind. Es freut uns, Sie als mögliches neues Familienmitglied begrüßen zu dürfen. Unsere Aufgabe hier ist es, Sie auf Ihre zukünftige Aufgabe als Onkel vorzubereiten. Die Ausbildung erfolgt in mehreren Kursen, wobei Theorie und Praxis sich bei uns abwechseln. Dieses Wochenende findet der erste theoretische Teil statt. Abhängig vom Verlauf dieser zwei Tage gestaltet sich der Unterrichtsstoff der nächsten Woche. Wir halten nicht viel von offiziellen Prüfungen. Im Alltag sagt Ihnen niemand: ‚Wenn Sie dieses und jenes morgen nicht können, werden Sie entlassen.’ Es geschieht ohne Vorankündigung."

Kurze Pause.

"Ihnen würde das natürlich nie passieren, da bin ich mir sicher."

Schmieriges Grinsen. Patachons skeptischer Blick schien anzudeuten, dass ihm das nicht so unmöglich erschien.

"Nein, bei uns ergibt sich das organisch aus Ihrem Gesamtverhalten. Meistens haben unsere Probanden die gleiche Einschätzung wie wir. Die Besten sehen sich meist kritischer, als wir es tun. Am Ende des Tages wissen wir alle, woran wir sind, ohne darüber viele Worte verlieren zu müssen. Es gibt bei uns keine Zeugnisse und keine Prüfungskommissionen, aber auch keine Berufungen, Wiederholungsantritte oder Quotenerfordernisse. Es gibt nur uns drei."

Sein öliges Lächeln beschmutzte meinen Körper. Ich rutschte von ihm weg.

"Zuerst wollen wir Sie kennenlernen. Am Besten erzählen Sie uns über sich. Wir versuchen, zu verstehen, wie Sie Probleme lösen; so ähnlich wie ein Bewerbungsgespräch."

Was wollten NTs hören? Das Leben eines Neandertalers ist eklig, tierisch und kurz. Bald stellten sie kontroversielle und intime Fragen. "Wie masturbieren Sie? Welche Mörder bewundern Sie?" Meine Antworten waren präzise, akkurat und neutral, frei von jeder Gemütsregung. Warum auch? Jo war Vergangenheit. Je mehr sie mich unter Druck setzen wollten, desto gestärkter fühlte ich mich. Wie beim Judo nutzte ich ihre kinetische Energie, transformierte sie und richtete sie gegen meine Inquisitoren. Ihre eigene Kraft wurde zu ihrem Feind, meine Speicherkapazität hatte kein Ende. Während die beiden Männer schwitzten, stöhnten und erregt aufstanden, um sich kurz darauf erschöpft wieder hinzusetzen, genoss ich die Prozedur. Puls und Blutdruck blieben bei mir im Idealbereich.

Zur Mittagszeit öffneten die beiden eine Campingbox, die in einer Ecke des Zimmers stand. Aus ihr holten sie mehrere in Plastik eingeschweißte Sandwiches und Getränkedosen. Das Essen, bei einer Tankstelle mitgenommen, schmeckte nicht besser, als es aussah. Lediglich die Notwendigkeit einer ausreichenden Kalorienzufuhr ließ mich hineinbeißen. Patachon verzehrte seine Portion nur teilweise, während Pat die in der Kühlbox befindlichen Reste vertilgte. Nach dem Essen nahmen ihre unbeabsichtigten Fragepausen an Häufigkeit zu. Die Talgdrüsen der Männer operierten auf höchstem Aktivitätsniveau, ihre Haare fetteten sich minütlich mehr ein und die Gesichtshaut glänzte. Mir bereitete es Vergnügen.

Unter dem Vorwand eines Toilettebesuches nahmen sie eine gemeinsame Auszeit, um sich zu besprechen. Ich ging in den Hof, der Sauerstoff würde das erhöhte CO2-Niveau meines Systems normalisieren. Bei meiner Rückkehr registrierte ich die wiedergewonnene Contenance der beiden, sie waren sichtbar erfrischt. Der Hagere setzte an:

"Der Tag ist fortgeschritten. Wir danken Ihnen für Ihre Unterstützung, die es uns ermöglicht hat, ein klares Bild von Ihnen zu gewinnen. Als Abschluss des heutigen Tages haben wir uns eine kleine Aufgabe für Sie überlegt, deren Ergebnis wir morgen früh um acht Uhr besprechen können."

Pat übernahm:

"Wir brauchen keine Nobelpreisträger, auch keine Kernphysiker. Wir suchen praktische Denker. Schauen Sie sich diese Zeichnung an und sagen Sie uns morgen, ob sie für uns relevant ist."

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Aufmerksam begutachtete ich die Zeichnung. Das Symbol kam mir vage bekannt vor. Die beiden erhoben sich und verabschiedeten sich von mir. Bestand der Sinn des Tests darin, mir eine Aufgabe zu geben, die ich lösen, oder eine, die ich nicht lösen konnte? Ich hätte anstelle der beiden Männer ein Rätsel ohne eindeutige Antwort gestellt, um mir meine Hochmütigkeit auszutreiben. Vielleicht waren sie jedoch weniger an meiner Beugsamkeit als vielmehr an meiner Unbeugsamkeit interessiert, deren Brechung kontraproduktiv für Ihre Zwecke wäre. Warum hatte ich gerade dieses Zeichen erhalten? Denkbar, dass es in einem Zusammenhang mit dem eigenartigen Bauwerk stand, in dem ich mich befand. Ich nahm den Ausdruck und ging zu der ausnahmsweise besetzten Rezeption. Dort zeigte ich das Symbol her und war überrascht über den abfälligen Gesichtsausdruck der hinter dem Schalter stehenden Matrone.

"Also so einer sind Sie, das hätte ich von Ihnen nicht gedacht. Sie haben vorhin so seriös gewirkt, nicht wie einer von diesen Spinnern."

"Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Das Symbol haben mir ein paar Kollegen gegeben und mit mir um ein Bier gewettet, dass ich nicht herausfinde, was das ist."

"Prosit, das Bier haben Sie gewonnen." entgegnete die Wirtin, "Gehen Sie in den Obergruppenführersaal. ‚Schwarze Sonne‘, so heißt es."

Ich machte mich auf den ausgeschilderten Weg zu dem berühmtesten Raum der Burg. Das dunkelgrüne Ornament mit einem Durchmesser von fast zwei Metern war in der Mitte der runden Halle in den Boden eingelassen. Der Obergruppenführersaal war eigentümlich, eine Kreuzung aus Tempel und Weißem Haus. Am Boden lagen zahlreiche Polster verstreut. Ob hier in der Nacht Orgien und schwarze Messen abgehalten wurden? Laut der Frau am Empfang wusste niemand, was das Symbol darstellen würde und ob es schon vor der SS-Zeit angebracht worden war. Mittlerweile hätte es sich zu einem Wahrzeichen der Neonaziszene entwickelt.

"Wenn einer eine Schwarze Sonne auf seiner Kleidung hat, weiß ich sofort, das ist ein Wahnsinniger. Die meisten sind harmlos, aber es gibt auch andere. Besonders schlimm ist es zur Sommersonnenwende. Vor einer Woche waren sowohl die rechten wie die linken Deppen bei uns. Im Winter ist es zu kalt, da ist es ruhiger."

Mit dem Bus fuhr ich zur nächsten Stadt und suchte das nächste Internetcafé. Eine Stunde Surfen brachte eine Vielzahl illustrer Informationen zum Thema ‚Schwarze Sonne‘ zutage, ohne mir die Antwort auf die gestellte Frage zu geben. Das Symbol war bis zum Ende des Dritten Reichs nahezu unbekannt gewesen. Erst in den 1950ern gewann es an Popularität. Die Ähnlichkeit mit dem verbotenen Hakenkreuz reichte aus, um als Erkennungszeichen der Neonazis dienen zu können. Die Unterschiede ermöglichten eine plausible Verleugbarkeit dieser Affinität. Besondere Anziehungskraft übte die Schwarze Sonne auf den spintisierenden Teil der Rechtsradikalen aus, die sich auf das Erbe der Tempelritter beriefen. Was hatte das bloß mit Staubsaugern zu tun?

Vielleicht war der Schlüssel nicht die politische Bedeutung, sondern das Symbol selbst. Was war eine Schwarze Sonne? Ein Himmelskörper, der schwarz schien, war ein Paradoxon. Schwarz ist die Absenz des Lichts. Ein schwarzer Gegenstand kann folglich nicht leuchten. War es eine Negation des Sonnengottes, dessen satanistischer Gegenentwurf? Schwarz als Farbe des Bösen, der Nacht, des Teufels, des Todes? Mir kam eine Idee. Was passierte mit einem besonders großen Stern? Nach einiger Zeit wurde er von einer Mid-Life-Crisis ergriffen. Er plusterte sich zunehmend auf, verhielt sich erratisch und schließlich fiel er in sich zusammen. Der Überrest hörte auf, zu leuchten und wurde zum schwarzen Loch. Fortan saugte er alle Materie und alles Licht in seiner Umgebung ein, wie ein gigantischer, himmlischer Staubsauger.

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Die Analogie war offensichtlich. Garidans war möglicherweise eine Organisation, die als Lichtspender begonnen hatte, mittlerweile jedoch alles vernichtete, was in ihre Reichweite, ihren Ereignishorizont, kam.

In der christlichen Lehre entsprach das Luzifer, dessen Name "Lichtmacher" bedeutet. Später änderte er seine Natur und wurde als "Fürst der Finsternis" tituliert. War Garidans eine Ansammlung spätpubertärer Satanisten? Schrecklicher Gedanke. Ovid war nicht unmoralisch wie Luzifer, er kämpfte nicht als ewiger Teenager gegen seinen himmlischen Vater. Ovid stand über diesen Dingen. Bestand Garidans aus Neandertalern statt NTs?

Es gab einen zweiten Aspekt. Die Schwarze Sonne war als Symbol der SS-Mythologie genutzt worden, allerdings nur auf dieser Burg. Den engsten Kreis der SS, der Zugang zu dem Obergruppenführersaal hatte, einte die Schwarze Sonne. Keine geheime Vereinigung, aber eine Vereinigung mit Geheimnissen. Geheime Gruppen sind in ihrer maximalen Mitgliederzahl eng limitiert. Gruppen mit Geheimnissen können durch große Mitgliederzahlen eine hohe Wirksamkeit erreichen. Der verborgene Aspekt wird nicht kompromittiert, da er sich nur dem engsten Kreis der Mitglieder voll erschließt.

Die zweite Interpretation hatte zu stimmen. Falls Garidans eine satanistische Vereinigung von Neandertalern wäre, könnte ich mit dem nächsten Flieger nach Hause zurückkehren. Garidans hätte den Aufnahmetest nicht bestanden. Träfe die Interpretation mit dem Geheimsymbol des inneren Kreises zu, könnte ich diese Erkenntnis für meinen beschleunigten Aufstieg in der Garidans-Hierarchie nutzen.

Zufrieden stand ich auf, zahlte und ging in Richtung Stadtzentrum. Die Sonne stand bereits tief, es wurde kühl und die Bürgersteige waren voller Menschen, die heimwärts eilten. Ich fühlte, dass mich etwas erwartete. Die Erregung des Jägers durchfloss mich. Eine schmale Gasse führte links von der Hauptstraße weg und ich bog ein. Nach 20 Metern machte sie einen Knick nach links, dem nach wenigen Häusern ein weiterer folgte. Die Geräusche der Stadt verebbten, die Gasse war menschenleer. Bisher hatte der Ort das typisch deutsche Stadtbild aufgewiesen. Fachwerkbauten wechselten sich mit anonymen Betonburgen der Wirtschaftswunderzeit ab, die notdürftig die Karieslöcher der Kriegsjahre verdeckten. Dieser Straßenzug hingegen hatte einen unverkennbar süditalienischen Charakter. Um mich herum tollten wilde Katzen, die den zahlreichen weißen Tauben nachjagten. Aus den offenen Fenstern war Radiomusik zu vernehmen. Die Luft war heiß und von mediterranen Gerüchen geschwängert, selbst eine Prise Seeluft schien ich zu verspüren. Die engen Gassen waren von Wäscheleinen überspannt.

Nach meiner Berechnung hätte ich auf die belebte Straße stoßen müssen, von der ich abgebogen war. Stattdessen stieg der schmale Pfad, der für Autos zu eng geworden war, steil einen nirgends verzeichneten Berg empor. Auf dem Gipfel angekommen, versengte mich die glühende, im Zenit stehende Sonne. Durch die flirrende Luft erkannte ich auf dem Plateau eine weiße Stadtmauer, hinter der sich Palmen erhoben. Meine Schuhe füllten sich auf dem Weg zu ihr mit heißem deutschem Wüstensand. Die Helligkeit zwang mich, die Augen zuzukneifen. Stolpernd erreichte ich die rote Erde des Stadttors.

Die Pforte war geöffnet, kein Wächter zu sehen. Im Inneren erblickte ich einen Teich, der von reich tragenden Dattelpalmen umzäunt war. Der Aufstieg hatte mich ausgetrocknet und eilig lief ich zu dem Gewässer und trank gierig. Dann blickte ich mich um. Ich sah mit einem Seil festgebundene Kamele lässig kauen. Sie waren gesattelt, trugen hingegen keine Waren. Die Mauer verlief kreisförmig, der Durchmesser betrug nicht mehr als 100 Meter. Die einzige Öffnung war der Eingang, durch den ich gekommen war. In der Mitte der Oase befand sich die Wasserstelle, die von Sand und Dattelpalmen gesäumt war.

Ovid legte sich erschöpft vom Anstieg in den Schatten einer Palme und schlief ein. Leise Stimmen schreckten ihn auf. Zischend flüsterten sie in einer mir unbekannten Sprache. Die Worte wurden schnell hervorgestoßen. Ich roch Feuer und scharf gegrilltes Fleisch. Vorsichtig hob ich ein Augenlid. Mehrere Männer mit bunten Kopftüchern saßen in weißen Umhängen etliche Meter entfernt von mir an einem Lagerfeuer. Sie drehten einen Spieß mit einem gehäuteten Tier, das ich nicht identifizieren konnte. Seine Umrisse flößten mir Unbehagen ein. Der Ton der Männer änderte sich, sie mussten mich gesehen haben. Mein Atem setzte aus. Nach einer Minute führten sie ihre Unterhaltung fort. Sie sprachen gedämpft, als hätten sie Angst, jemanden zu stören. Dabei störte es sie nicht, gesehen zu werden, sonst hätten sie kein rußendes Feuer angezündet.

Ich setzte mich langsam auf und mit ruhigen, gut sichtbaren Bewegungen, die Arme neben mich haltend, die Handflächen offen nach vorne zeigend, schritt ich zu den Männern. Einer von ihnen gestikulierte kurz in meine Richtung, als ob er einem kleinen Kind bedeuten wollte, nicht zu stören. Hinter den Männern befand sich in einiger Entfernung ein rotes Prunkzelt. Als ich mich ihm nähern wollte, stand einer der Wächter auf. Mit der umgehängten Flinte gab er mir zu bedeuten, mich zurückzuziehen. Sobald ich wieder auf meinem Platz saß, beachteten sie mich nicht weiter. Mein Magen knurrte, aber niemand machte Anstalten, mir eine Portion des rätselhaften Wesens abzugeben.

Gesättigt legten sie sich unter den Palmen nieder und schliefen ein. Lediglich einer blieb mit der Büchse in der Hand im Schatten sitzen. Nach einiger Zeit schien er ebenfalls einzunicken und ich stand vorsichtig auf. Sorgfältig achtete ich darauf, im Sand zu bleiben, um keine Geräusche zu erzeigen. Bei meinem zweiten Schritt schreckte der Mann trotzdem auf und beobachtete mich argwöhnisch. Um meinen Bewegungen einen Sinn zu geben, begab ich mich zu einem entfernt gelegenen Teil der Mauer und erleichterte mich. Ich ließ mir viel Zeit, in der Hoffnung, dass der Wächter einschlafen würde. Vergeblich.

Aus dem Zelt war der Klang eines Glöckchens zu vernehmen. Immer wieder zu mir sehend, rief der Wächter unverständliche Worte aus. Er stieß einen der schlafenden Männer an, weckte ihn mit einigen Worten und gab ihm sein Gewehr. Entschlossen trat er in das Zelt ein. Ich setzte mich auf meinen angestammten Platz zurück. Aus dem Zelt war nichts zu hören und der Wächter blieb verschollen. Nach einer Weile vernahmen wir erneut das Glöckchen. Der neue Wachhabende weckte einen Kollegen, überreichte diesem seinerseits die Waffe und ging hinein.

Die Zeit verging, nichts geschah. Nur hoch oben am Himmel erblickte ich zahlreiche große, schwarze Vögel, die über uns kreisten. Ich betrachtete das Zelt von meinem Sitzplatz aus genauer. Das Muster des Stoffes hatte nicht die abstrakt geometrische Struktur, die ich erwartet hätte. Der dunkelrote Hintergrund mit den schwarzen Farbpunkten ergab ein gegenständliches Bild ähnlich einem Liechtenstein’schen Siebdruck, nur in viel geringerer Auflösung. Ich versuchte, das zugrunde liegende Motiv zu erkennen. Es gelang mir nicht. Immer wieder fingen die Punkte an, sich zu sammeln und an Sinn zu gewinnen. Letztlich zerstoben sie regelmäßig im farbigen Rauschen.

Zwischen den Palmen lag ein ausgebleichter Tierschädel im Sand. Groß, mit zwei gedrehten Hörnern. Der Wind wehte mehrere vertrocknete, kugelförmige Pflanzenteile an ihm vorbei, wie aus einem Western. Ich schüttelte den Kopf. Auch als frischgebackener NT verstand ich nicht, wie ich mitten in einer deutschen Kleinstadt eine Oase finden konnte, die plötzlich im Wilden Westen lag. Leise aus der Entfernung hörte ich das melancholische Spiel einer Mundharmonika. ‚Das Lied vom Tod‘. Das Klingeln des Glöckchens vermischte sich mit der Melodie.

Der nächste Mann stand auf, überreichte seinem Nachbarn seine Waffe und ging in das Zelt. Blieben zwei Wächter übrig. Ich überlegte, was der letzte meiner Aufpasser machen würde, sobald ihn das Glöckchen rief. Er könnte 1a das Geräusch ignorieren. Die teuren Stoffe und das ungewöhnliche Signal wiesen darauf hin, dass sich in dem Zelt eine hochgestellte Frau befand. Ungehorsam könnte für den Betreffenden ernsthafte Unannehmlichkeiten bedeuten, selbst falls er damit seinen Dienstvorschriften gehorchte. Vor meinem Auge erschien das Bild einer hübschen, launenhaften Prinzessin. Sie beschwerte sich bei ihrem Vater über das ungebührliche Betragen und die angedeutete Aufdringlichkeit mit einem hingeworfenen Halbsatz. Keine expliziten Beschuldigungen, keine harten Fakten, nur ein Gespinst aus Blicken, Gesten und Tonfällen. Das sichere Todesurteil für den Wächter.

Alternativ könnte der Wächter 1b mich allein lassen und in das Zelt gehen. Das widersprach allerdings der bisherigen Vorgangsweise. Die Hauptaufgabe der Männer schien es zu sein, auf mich zu achten und mein Eindringen in das Zelt zu verhindern. Ich stellte mir vor, die Prinzessin wäre eine reiche Dame der Gesellschaft. Mit ihrer Stretchlimousine war sie in einem verödeten Slum in Chicago stehen geblieben. Ringsherum Menschenleere, ich, der einzige, höchst suspekte Passant, ein vermeintlicher Crackhead, der an der Straßenecke saß. Die Leibwächter hätten mich keine Sekunde aus den Augen gelassen. Die Hände nahe der Waffe, jederzeit von mir einen Angriff erwartend, den Versuch, die Autofenster einzuschlagen und der Prinzessin die Handtasche zu klauen. Sie würden mich nicht prophylaktisch erschießen, das wäre übertrieben. Stattdessen würden sie mich verjagen und im Fall des Misslingens kampfunfähig machen.

Das war es, Plan 1c! Bei Gettobewohnern würden sie Drogenkonsum plausibel finden. Welche Laster waren in Oasenslums verbreitet? Ich sah nichts, was drogen- oder alkoholartigen Charakter hatte. Das Nächstbeste nach Morphium war Morpheus. Ich legte mich auf meinen Platz und mimte den Einschlafenden. Die innere Überzeugungskraft meiner Strategie war bemerkenswert, bald lag ich wirklich in tiefem Schlummer.

Erwachend registrierte ich die unverändert im Zenit stehende Sonne. Ich bewegte mich so wenig wie möglich, um meine Wachen nicht zu alarmieren. Ich blinzelte. Sie waren weg, das Zelt sah unverändert aus. Einige Zeit lang lag ich ruhig und achtete auf alle Geräusche und Bewegungen in meiner Umgebung. Es blieb still. Lediglich die am Himmel kreisenden großen, schwarzen Vögel schienen deutlich tiefer zu fliegen.

Natürlich könnte ich in Ruhe aufstehen, die Oase verlassen und in mein Zimmer zurückkehren. Ich wollte nicht, etwas in meinem Inneren hielt mich davon ab. Stattdessen begab ich mich zögerlich zum Zelt. Ich ging sehr langsam. Mein Blick schweifte umher. Wo waren die Männer? Würden sie mich erschießen? Ich erreichte unbehelligt den Eingang und räusperte mich, zuerst leise, dann lauter.

Kein Geräusch drang aus dem Inneren. Die Vögel näherten sich mir Kreis um Kreis. Deutlich konnte ich die Details ihrer blutbesudelten Körper erkennen. Was hing aus ihren Schnäbeln heraus? Ich zog meine Schuhe aus und trat eilig in das Zelt ein. Es war dunkel und mit etlichen Fackeln beleuchtet. Sobald meine Augen sich angepasst hatten, blickte ich umher. Der Innenraum war erheblich größer, als die Außenmaße hätten vermuten lassen. Ich durchschritt die Eingangshalle. Der Boden war belegt mit dunklen Teppichen. Dunkelrote, alte Polster lagen an der Wand. Die Stoffe schienen ein Muster wiederzugeben, das ich erneut nicht erkennen konnte. Mehrmals hatte mein Unbewusstes eine Ahnung, worum es sich handelte. Jedes Mal tauchte das Wissen wieder ab und hinterließ massives Unbehagen auf meiner Bewusstseinsebene. Etwas an den Bildmotiven war fundamental falsch.

Am Ende der Halle befand sich ein Durchgang, den ich ansteuerte. Weder vernahm ich ein Geräusch, noch sah ich Spuren von Menschen. Auffallend war der Geruch oder vielmehr dessen Absenz. Die Teppiche hätten eine eigene Note abgeben müssen, ebenso wie die Fackeln den fenster- und kaminlosen Raum hätten verräuchern müssen. Nichts dergleichen. Um meine Wahrnehmung zu kontrollieren, hob ich kurz die Hand zur Nase. Unmissverständlich nahm ich meine eigene und die in der Oase vorherrschenden Noten wahr, der Raum blieb neutral.

Der weiche, tiefe Teppich schmeichelte meinen Füßen. Um weiterzugehen, musste ich einen schweren Vorhang zur Seite schieben. Ich gelangte in einen kurzen, engen, sehr dunklen Gang, an dessen Ende eine weitere Teppichtüre angebracht war. Dahinter befand sich ein großer lichtdurchfluteter Hof, der wie ein altrömischer Patio aussah. Helle mit Fresken bemalte Wände, ein Kreuzgang mit Säulen aus hellem Marmor abgestützt. In der Mitte unter freiem Himmel ein großes, flaches, Mosaik bedecktes Becken mit Fischen. Ein Unzahl an Katzen lag auf den Steinen, kreiste um mich herum und schmiegte sich an mich. Am Kopfende des Hofs, quer zum Teich, stand eine Liege aus Marmor, auf der ein kleines Mädchen lag. Sie trug eine weiße, halbdurchsichtige Toga mit einem purpurfarbenen, hermelinpelzbesetzten Umhang. In der Hand hielt sie ein silbernes Glöckchen, wie es zur weihnachtlichen Bescherung zum Einsatz kommt, auf dem Kopf ruhte eine Tiara.

Überrascht blickte sie mich an und runzelte die Stirn. Ich ging bedächtig zu ihr hin. Sie beobachtete mich aufmerksam und gab kein Geräusch von sich. Einen Meter von ihr entfernt blieb ich stehen. Sie war etwa fünf Jahre alt mit dunkelblondem, kurzem Haar. Ihre Haut war von einer marmornen Blässe, ihre Lippen auffallend rot. Auf dem Gesicht, wie auch auf ihrer grauen Marmorliege und ihrem Umhang, befanden sich dunkelrote Flecken. Ihre Finger waren von einer schlanken Grazilität, wie die einer mittelalterlichen Madonna. Ihre Züge widerspiegelten klassische Ebenmäßigkeit mit Ausnahme der Augen: Eines war wasserblau, das andere grün. Ihre Gesten waren geprägt von einer gemessenen Eleganz. Ihre fließenden Bewegungen standen im Gegensatz zu den eingerissenen Fingernägeln und den blutigen Händen. In ihren Augen lag eine Mischung aus Hunger und Kälte, wie bei einem Raubtier. Unter der Liege waren rohe Fleischreste verstreut. Ich glaubte, einen menschlichen Finger zu erkennen.

Sie war sich meiner Präsenz bewusst, ließ ihren Blick jedoch durch den Raum schweifen, als hätte sie mich gemustert und für uninteressant befunden. Ihre Haltung blieb unverändert, nur ihre Hände bewegte sie gelegentlich, immer fließend und damenhaft, wie eine anmutige Schlange. Nach langer Zeit begann ich rückwärts zum Eingang des Raumes zu gehen, den Blick auf ihr ruhend, ihrer Hoheit den Anblick meines Rückens nicht zumutend. Bei meinem Verlassen des Raums bewegte sie die Hand mit dem Glöckchen, das leicht schellte. Im Vorraum kam mir ein Mann entgegen, der ähnlich wie die Wächter gekleidet war. Wortlos gingen wir aneinander vorbei. Beim Verlassen des Zeltes glaubte ich, aus der Richtung des Patios ein schlürfendes Geräusch zu hören.

Die Sonne blendete mich und mit Verzögerung realisierte ich die Veränderung in der Oase. Hunderte Vögel hatten sich auf dem Boden niedergelassen. Es waren riesige, geierartige Tiere, deren Köpfe in den Fleischteilen die im Sand lagen. Durch den Lärm und die herumfliegenden Federn irritiert, erkannte ich zuerst keine Einzelheiten. Die Vögel flogen von einem Stück Fleisch zum nächsten, kämpften und hackten aufeinander ein. Es waren viele, zumeist sehr große Fleischstücke. Sie ignorierten mich, ich war weder Nahrung noch Konkurrent. Als einer der Vögel aufflog, konnte ich dessen Mahl genauer betrachten. Es war der Kopf des ersten Wächters, den ich am türkisen Ohrring identifizierte. Vom Gesicht war nichts übrig geblieben. Anhand der Anzahl und Größe der überall verstreuten Körperteile vermutete ich, dass es sich um die Überreste der Wächter handelte. Ihre Körper waren grob zerrissen, wie ohne Besteck tranchiertes Geflügel.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass meine Metamorphose mich nicht von der Sterblichkeit entbunden hatte. Eilig bewegte ich mich auf den Ausgang der Oase zu. Immer schneller wurden meine Schritte, Panik überfiel mich. Außerhalb des Tores lief ich, so schnell ich konnte und hörte die Vögel, die ich aufgescheucht hatte, näherkommen. In rasender Eile rannte ich die Bergstraße hinunter, immer wieder stolpernd und stürzend. Mein Herz schlug kräftig, meine Ohren summten und der Speichel rann mir aus dem angstvoll geöffneten Mund. Der Weg hinab war kürzer als in meiner Erinnerung und mit jedem Schritt wurde es dunkler. Unten bei meinem Ausgangspunkt in der Seitengasse angekommen, war es finster und menschenleer. Laut Anzeige einer Leuchtreklame war es zwei Uhr morgens.

Ich fand einen Taxistandplatz am Bahnhof und stieg in das einzige verbliebene Fahrzeug. In der Jugendherberge öffnete ich mit meinem Schlüssel einen Nebeneingang. Im Dunkel, durch die Beleuchtung der Notausgänge notdürftig erhellt, begab ich mich stolpernd und überall anstoßend in mein Zimmer. Mein Schlaf war unruhig und verschwitzt, mein Magen von Krämpfen geplagt.

 

Lieber Leser,

Hoffentlich hat Ihnen die XXL-Leseprobe gefallen. In diesem Fall würde ich mich sehr freuen, Sie mit der zweiten Buchhälfte zu unterhalten, deren Wendungen Sie nie erwartet hätten. Alles kommt anders, das verspreche ich.

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Hugo C

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