Die Katastrophale Metamorphose des Ovid by Jo Krall / Hugo C - HTML preview

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Tag 10 – Freitag 25. Juni

Am Morgen wachten wir früh auf. Im Halbschlaf kuschelte ich mich an Angelika. Der Wachheitsgrad meines Gehirns erhöhte sich langsamer als der meines Körpers. Sobald es den kritischen Punkt erreicht hatte, legte es einen Sprint ein und ich war hellwach. In diesem Bett schmiegte sich nicht der gute, alte Jo an seine gute, alte Angelika. Stattdessen bedrohte eine gefährliche Replika Ovid durch ihre Nähe. Ruckartig rückte ich weg und Wut ergriff mich.

"Pseudo-Angelika, elende Fälschung, du. Ich anständig!"

Das Wesen blickte mich ratlos an. Die Maschine war eine hervorragende Schauspielerin. Erstaunlich, wozu die Technik fähig war. Hollywood-Spezialeffekte in meinem Schlafzimmer. Ohne Spezialwissen hätte ich nie geglaubt, dass unter dem Fleisch Metall lag.

"Du kein Mensch!"

"Jo, das ist nicht witzig!"

"Kann beweisen, brauche Messer."

Auf der Arbeitsplatte der Küche lag ein Fleischmesser, das ich ergriff und mit dem in der Hand ich zum Bett zurückkehrte. Sobald sie uns sah, wollte die Maschine fliehen. Asimovs drittes Gesetz in Aktion. Lächelnd hielt ich sie am Arm fest.

"Lass mich los, bist du verrückt geworden?"

Angst, dass ich sie enttarnen könnte, lag in ihren Augen. Sie versuchte, sich meinem Griff zu entwinden.

"Unter deinem Fleisch, wahres Selbst. Bergbau in dir. Glück auf!"

Mit maschinellem Geschick entzog sie sich meiner Umklammerung, stolperte und fiel hin. Sie verharrte wimmernd in Embryonalstellung. Das Werkzeug weiterhin haltend, stand ich über das Wesen gebeugt. Sollte ich sie vivisezieren und ihr und aller Welt die Wahrheit beweisen? Andererseits, welches Interesse sollte ein NT an der Meinung von Neandertalern oder gar einer Maschine haben? Im Moment war sie dysfunktional, das war nicht gut. Das Messer war ihre Stand-By-Taste. Sie hatte Aufgaben in meinem Haushalt, die erfüllt werden mussten. Andernfalls musste ich sie verschrotten, um nicht für einen nutzlosen Apparat sorgen zu müssen. Um ihre Funktion wiederherzustellen, legte ich das Messer weg und zog sie hoch. Sie aß kein Frühstück, was fair war, sie hatte sich schließlich nicht nützlich gemacht. Stattdessen saß sie am Esstisch, ihre Beine an die Brust angezogen, Arme verschränkt und schaukelte leicht vor sich hin. Die ganze Zeit war sie schweigsam, sprach nur einsilbig auf Aufforderung und vermied jeden Augenkontakt. Einige Steuerungskreise waren offensichtlich im Energiespar-Modus. Clevere Konstruktion.

Ich nahm meinen Koffer und verstaute ihn im Auto. Bei meiner Rückkehr saß das Ding weiterhin am Esstisch. Es machte keine Anstalten, mitzukommen. Ich befahl ihm, sich die Schuhe anzuziehen. Wortlos gehorchte es und folgte mir zum Auto. Ursprünglich hatte ich die Maschine das Auto fahren lassen wollen, ihrem katatonischen Zustand war daran nicht zu denken. Sie hätte mich gefährdet und Resetknopf sah ich keinen an ihrem Chassis. Daher setzte ich mich auf den Fahrersitz. Entgegen meinem Befehl, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, legte sie sich unfolgsam auf die hintere Sitzbank. Die Füße der Apparatur waren angezogen, leise murmelte sie vor sich hin. Am Flughafen angekommen, verharrte sie störrisch in der fötalen Position auf der hinteren Sitzbank. Ich legte die vordere Sitzlehne um, beugte mich über sie und schüttelte sie.

"Steh auf, wegfahren, Parkverbot."

Keine Reaktion. Erneut schrie ich sie an. Unverständnis im Gesicht, ein abgestürzter Roboter. Sie versuchte den Reboot und schwankte. Ihre Routine blieb hängen, vorwärts, rückwärts, leichte Kopfdrehung links und zurück. Immer wieder. Ich wurde ungeduldig. Die verdammte Maschine sollte endlich funktionieren. Stoßen, kein Erfolg. Leichte Schläge, nichts. Feste Schläge. Sie begann, sich zu bewegen, blieb stecken. Erneutes vorwärts, rückwärts Schaukeln. Es reichte. Ich schleuderte den Automaten fester als geplant gegen die Türe. Ihr Kopf traf das Glas, es brach nicht. Ihr Blick war glasig. Ein nächster Versuch. Ich blieb mit meiner Hand an ihrer Goldkette hängen und würgte sie unabsichtlich. Sie zeigte endlich eine Reaktion, schob die Kette zurecht und rieb ihren Hals. Wut über die defekte Apparatur überkam mich und ich versetzte ihr einen weiteren Hieb, dann noch einen. Endlich war der Widerstand gebrochen, sie straffte sich. Ich setzte sie wie eine Puppe auf den Fahrersitz.

Einige Neandertaler hatten meine Aktivitäten gesehen. Sie blickten weg und gingen weiter. Mangelnde Solidarität oder erkannten sie die Fälschung? Die Ersatz-Angelika hatte sogar eine Tränendrüse eingebaut, pervers diese Detailliebe. Ich sah ihr nach, wie sie das Flughafenareal unangeschnallt im Schritttempo verließ. Sie hatte das Ende ihrer Nützlichkeit erreicht. Tief seufzte ich auf. Es war mir peinlich, die Beherrschung verloren zu haben. Das passte nicht zu einem NT, mehr Souveränität war angesagt. Ich musste an mir arbeiten.

Ich checkte mein Gepäck nach Frankfurt ein und wartete in der Abflughalle auf den Aufruf. Die Maschine war pünktlich und bald saß ich auf meinem Platz im Economybereich. Nach einem ereignislosen Flug holte ich mein Gepäck vom Fließband, begab mich wie verabredet zum SAS-Ticketschalter und reihte mich in die Schlange ein. Bevor ich an die Reihe kam, sprach mich ein Mann an, der in der Hand ein Foto hielt.

"Herr Krall?"

"Ja?"

"Kommen Sie bitte mit mir mit. Sie brauchen nicht einzuchecken. Geben Sie mir Ihren Reisepass."

Draußen stiegen wir in ein Auto, einen kleinen Volvo mit deutschem Kennzeichen. "Wir fahren doch nicht mit dem Wagen nach Schweden?"

Mein Rückfall war beendet, die Normalo-Sprache zurückgekehrt.

"Keine Angst, wir haben den Treffpunkt geändert. Keine drei Stunden Fahrt."

Der Fahrer, ein unauffälliger Mann um die 30, Träger eines ebenso unauffälligen Anzugs mit blauer Krawatte, blieb für den Rest der Fahrt stumm. Ich nickte ein und erwachte erst beim Stehenbleiben des Fahrzeugs. Wir standen in einem engen Burghof. Das Areal war dreieckig, an seiner Spitze befand sich ein runder Turm. Der Mann sah sich um und verschwand durch eine der auf den Innenhof führenden Türen. Ich war alleine, Vögel kreisten am Himmel. 11 Türen, 34 Reihen mit Pflastersteinen, jede Reihe im Mittel mit 114 Steinen. War das Ergebnis durch 17 teilbar? Schließlich waren wir in Deutschland, 13 entsprach der Schweiz. Natürlich ging das. Wie viele Türen waren verschlossen? Mist, 7. Das war schlecht. Mein Puls beschleunigte sich, zu viele negative Omen. Lungenrasseln, Keuchen, Schweiß. Eng presste ich mich an die Mauern und berührte einen Metallpfeiler. Die Erdung half. Nach Eliminierung der statischen Ladung griffen kybernetische Steuerungsmechanismen in mein System ein und normalisierten es. Ein tiefer Seufzer, umstellen auf Bauchatmung. Erneuter Rückfall. Ich testete mein Sprachmodul und deklamierte:

"Burg Stein. Großer Hof, viele Türen."

Es funktionierte nicht. Erneute Pause, Konzentration.

"Wir befinden uns in einem Burghof aus dem 14. Jahrhundert. Die verspachtelten Wände rahmen ein spätmittelalterlich romantisierendes Areal ein …" Ich verstummte, es klappte. Probeweise lächelte ich. Die meisten Gesichtsmuskeln waren gut koordiniert, lediglich die Augenwinkel machten die üblichen Probleme. Ich musste die Neandertaler genauer studieren. Sie kommunizierten intensiv mit dieser kleinen Fläche, das hatte ich früher nicht realisiert. Wie ineffizient, diese Spezies. Bei einer Körperoberfläche von mehr als 10.000 Quadratzentimetern nutzten sie nur ein Prozent zur emotionalen Informationsübermittlung.

Der Mann kehrte wieder und glaubte, das Lächeln gelte ihm. Ich korrigierte seinen Irrtum nicht. Er ging durch eine unbeschriftete Tür. Das erinnerte mich an eine alberne Show aus meiner Kindheit. Hinter welcher Türe ist die Ziege? Das populärste mathematische Problem seiner Zeit hatte das Fermattheorem übertrumpft, das außer mir ohnehin niemand verstanden hatte. Sollte ich ihm Geld zum Ausprobieren einer anderen Türe anbieten? Endlich kam er zurück und retournierte den Reisepass zusammen mit einem Bartschlüssel an einem voluminösen Holzanhänger.

"Sie haben das Zimmer 9, eigentlich ein Lehrerzimmer, aber derzeit ist die Herberge schwach belegt."

Gute Zahl für ein Zimmer, falls die Türen aus Holz waren. Ich folgte ihm mit meinem Gepäck. Der Raum war klein, kalt und spartanisch ausgestattet. Holztür, Holzbett, grüner Plastikfaltkasten mit Metallgestell, Holzschreibtisch und Stuhl mit Bast-Sitzfläche. Abgeschlagene Kalkfarbe an den Wänden, Jugendherbergsgrau.

"Dusche und WC sind am Ende des Gangs. Es kann sein, dass wir heute auf Sie zukommen, also bleiben Sie in der Burg. Sollte das nicht der Fall sein, gehen Sie morgen um acht Uhr morgens pünktlich zum kleinen Festsaal. Auf Wiedersehen." Sprach es, drehte sich um und fuhr weg.

Zimmer gleich Gefängniszelle minus Toilette. Meine Gastgeber stürzten sich nicht in Unkosten. Sobald ich das Geräusch des abfahrenden Autos hörte, stand ich auf und öffnete das enge Fenster. In dem Raum war es wegen der meterdicken Wände trotz des beginnenden Sommers kühl. Die Außenmauer hinab blickte ich auf eine verwilderte Böschung und eine öde Umgebung.

Ich ignorierte den Wunsch meines Gastgebers und verließ meine Unterkunft. Die Rezeption war unbesetzt. Laut plastifiziertem Ausdruck an der Wand brachte es die Burg im Zweiten Weltkrieg als Hauptsitz der SS zu zweifelhafter Berühmtheit. Seitdem war es ein Vielzweckbau mit Jugendherberge und Heimatmuseum. Jeden Juni diente es als sonnwendliche Pilgerstätte. Die Möbel waren institutionelle Massenware, in der Speisehalle Plastiksessel, Resopal und Heimwerkermarkt-Fliesen. Die überbordende Banalität erweckte den Eindruck, als wäre sie beabsichtigt. Grauen übertüncht mit Biederkeit, Heinrich Himmler trägt eine Heinz-Erhardt-Maske. Mit spitzen Fingern begutachtete ich die in der Toilette liegende Seife und die Lampenschirme im Vorraum. Das Dorf stellte sich als Schlafsatellit heraus, eine Bushaltestelle war die einzige Infrastruktur. Verlassene Bauernhöfe und schweigsame Einfamilienhäuser mit leeren Gärten. Unbefriedigt brach ich meinen Ausflug ab und ging ernüchtert in mein Zimmer zurück, wo ich bald einschlief.