Die Katastrophale Metamorphose des Ovid by Jo Krall / Hugo C - HTML preview

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Tag 2 – Donnerstag 17. Juni

Sinuskurven mit erhöhter Amplitude brechen über mir zusammen. Durch den Wellenkamm schimmern unzählige zuckende Leiber hindurch. Das Wasser rammt mein Boot, die Kreaturen versuchen, zu entern. Mit einem Paddel verteidige ich mich und schlage auf die Wogen. Vergeblich, die Fluten übersteigen den Rand. Das zappelnde Zooplasma schwimmt zwischen meine Beine. Mit einem Eimer schöpfe ich erfolglos, ein Tantalus der See. Sie beißen sich an dem Plastik fest, schnappen nach meiner Kleidung, wühlen sich einen Weg zu meinem Rumpf. Menschliche Körper treiben mit schwarzer Haut und geblähten Bäuchen in der Ferne an der Oberfläche. Die Überreste ihrer Gesichtszüge sind mir vage bekannt.

Ich flüchte, springe in das Gewässer. Es geht mir bis zur Hüfte. Im Dunkel der stürmischen Nacht erahne ich die Uferböschung und schleppe mich hin. Auf dem Strand hebt eine Krabbe ihre fünf Meter lange Schere. Sie klemmt den Arm eines angeschwemmten Leichnams ein. Knackende Geräusche, er lässt sich nicht abtrennen. Sie schneidet erneut, immer und immer wieder. Blut fließt. Die Krabbe nimmt die zweite Schere zu Hilfe. Weiteres Knacken. Nun schaut sie mich mit ihren Stielaugen an und eilt auf mich zu. Ich haste den Strand hoch, gelange aus ihrer Sicht. Auf der Böschung angekommen, überfällt mich Müdigkeit. Während ich einschlafe, vermischen sich die knirschenden Geräusche der sich mir nähernden Panzer mit dem ihrer Scheren.

***

"... und jetzt ein wenig Amore und Urlaubsstimmung aus Italien." Die Sonne brannte früh am Morgen durch die Fenster, ein weiterer heißer Junitag. Neben mir nahm ich Angelika wahr, schlaftrunken. In die Note aus ungewaschener Haut und Rauch mischte sich ein Hauch von Alkohol.

"Wann Hause?"

Sie blickte mich mit offenen Augen an wie ein im Bett kriechendes Insekt, antwortete jedoch nicht.

"Wo gestern?"

Sie blieb stumm. Ich packte sie leicht am Arm und schüttelte ihn. Jetzt sah sie mir in die Augen, als ob sie mich vorhin nicht erkannt hätte.

"Ich ging aus."

"Dachte ich. Wohin?"

"Was soll das? Ich traf mich mit Corinne."

Eine Freundin meiner Frau, mir von Beginn an unheimlich. Seit ich sie kannte, hatte Corinne nie einen Freund gehabt. Lesbische Zicke. Und ihr Verhalten, wenn sie zusammen waren. Freud sagt, wir seien amorph pervers. Bei Corinne traf das unbedingt zu. Sie personifizierte Angelikas schlechte Gesellschaft. Meine Frau weigerte sich, über Corinne zu sprechen. Sie wusste, dass ich sie verabscheute.

Wortlos stand ich auf und duschte. Beim Frühstück las ich mehrmals den gleichen Artikel in der Zeitung, konnte mich nicht konzentrieren. Angelika 2.0 hinderte mich daran. Als ich ging, machte das Simulacrum Gymnastikübungen. Tat so, als bemerke es mein Weggehen nicht. Ich versuchte nicht, es zu küssen, war ja nicht verrückt.

Die U-Menschen vermehrten sich stetig, die U-Bahn war voller als am Vortag. Es gelang mir, unversehrt auszusteigen. Kaffee und Zeitung. Keifende Stimmen aus dem Warteraum. Die Anwesenden konnten sich nicht einigen, wer als Erster da gewesen war. Ich hatte vor Jahren angeregt, ein Wartenummernsystem zu installieren. Frau Malowas hatte von Budgetzwängen gemurmelt und das Thema nie wieder angesprochen. Erstmalig genoss ich den Kampf der Bestien bei der Fütterung. Eine hässliche alte Frau setzte sich dank einer Mischung aus Keifen und Handtascheneinsatz durch. Bevor ich mich hingesetzt hatte, fing sie zu sprechen an.

"Aaronowitsch. Wissen Sie, vor einigen Monaten kam ein freundlicher Mann zu mir. Er erzählte mir, dass er vor Kurzem aus dem Gefängnis entlassen worden wäre und jetzt ernsthaft versuchte, ein ehrliches Leben zu führen. Er habe eine Tätigkeit als Vertreter angenommen. Sein Chef hätte ihm erklärt, dass er aus Einsparungsgründen bald gekündigt würde, falls er nicht mehr verkaufte. Deswegen bräuchte er meine Hilfe. Er habe nie etwas Legales gelernt und wäre daher im Gefängnis gelandet. Wenn er an dem Tag noch einen einzigen Staubsauger verkaufte, hätte er die Probezeit bestanden. Sollte ihm der Verkauf des letzten Staubsaugers nicht gelingen, wäre er arbeitslos. Um sich und seine Familie zu ernähren und seine geliebte Mutter wäre ein Pflegefall in einem teuren Heim, nur das Beste für sie, müsse er sonst wieder auf die schiefe Bahn geraten. Ein Auto könne er jederzeit stehlen, davon stünden genügend auf der Straße, aber das wollte er nicht. Es läge also an mir, ihm eine gesicherte Existenz zu verschaffen oder ihn zur Weiterführung seiner Verbrecherlaufbahn zu verdammen."

Frau Aaronowitsch machte eine kurze Pause, schnappte nach Luft und holte ein Aerosol aus ihrer Tasche, das sie mehrmals inhalierte. Darauf wartend, dass sie fortfuhr, betrachtete ich sie. Sie war klein,, in den Sechzigern, üppig gebaut und ihr großer Busen wallte auf und ab. Ihre Kleidung war ärmlich, die Haare schlecht von ihr Selbst dunkel gefärbt, mit einer deutlich auffrischungsbedürftigen Dauerwelle, die den schütteren Charakter ihres Haarwuchses betonte. Das Gesicht war weitgehend ungeschminkt, lediglich ein zu greller Lippenstift, der besser zu ihrer Enkelin gepasst hätte und eine Fettcreme, die ihrer Haut das speckige Glänzen eines halb garen Spanferkels verlieh, waren aufgetragen.

"Natürlich wollte ich dem Herren helfen und kaufte ihm einen Staubsauger ab. Eigentlich hätte ich keinen gebraucht und von der Firma Garatans hatte ich nie gehört."

"Garidans" korrigierte ich automatisch.

"Ah, Garidans, sehr richtig, Sie kennen das Unternehmen also. Dann ging mein Sohn wieder in …, na ja jedenfalls konnte er mich nicht mehr unterstützen und ich habe nur eine Mindestpension. Als nach drei Monaten die erste Rechnung kam, konnte ich sie nicht bezahlen. Ich rief bei der Firma an und fragte nach dem freundlichen Herrn. Seinen Namen hatte ich vergessen und da konnten sie mir nicht weiterhelfen. Was soll ich bloß machen?"

"Frau Aaronowitsch, Mindestrentnerin kann nichts passieren. Wenn Klage, keine Angst, bei Ihnen nichts zu pfänden."

Frau Aaronowitsch weitete ihre Augen und ihr Gesicht lief rot an.

"Da hilft man einem ehemaligen Sträfling und als Belohnung soll ich angezeigt und verurteilt werden und Sie sagen mir, das sei ganz in Ordnung und ich solle zufrieden sein, mit all der Schande in der Nachbarschaft und das nachdem mein Sohn sogar ... Ich sage Ihnen jetzt etwas: Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dies einer rechtschaffenen Staatsbürgerin nicht passieren kann. Doch was machen Sie? Gar nichts! Pfui!"

Sagte es und verließ ächzend das Büro. Die Türe schloss sich erst gar nicht, der Nächste trat ein. Kurz murmelte ich, dass ich gleich käme und ging auf die Toilette. Dort sperrte ich mich ein, setzte mich und verbarg den Kopf in den Händen. Nach mehreren Minuten blickte ich hoch, stand auf und wusch mir das Gesicht.

Herr Gargolan war in die Hände von Kredithaien geraten. Er hatte sein Auto mithilfe eines ‚progressiven Darlehens‘ finanziert, das ihm der Gebrauchtwagenhändler empfohlen hatte. Wie sich herausstellte, war das Progressive an dem Kredit die Tatsache, dass die Kreditraten von Monat zu Monat stiegen. Bald würde er das Auto und die Vorauszahlung verlieren. Außer bedauernden Worten konnte ich wenig Konstruktives beitragen.

Beim Mittagessen kam ich neben Frau Malowas zu sitzen. Sie fragte mich, wie es ginge und ich erzählte ihr von den Garidans-Staubsaugern. Meine Chefin war zutiefst verwundert: "Wissen Sie, Herr Krall, das erstaunt mich sehr. Ich habe Sie für einen tüchtigen Mitarbeiter gehalten, der den Konsumenten bei ihren Problemen mit Rat und Tat zur Seite stehen kann. Anscheinend habe ich mich in Ihnen getäuscht."

Sie machte eine bedeutungsvolle Pause.

"Außerdem verstehe ich nicht, warum Sie gerade auf der Firma Garidans herumpicken. Ich habe selbst seit einem Monat einen Garidans-Staubsauger zu Hause und muss sagen, er funktioniert hervorragend. Wenn ein Mensch nicht viel Geld hat, darf er sich eben kein exklusives Gerät der Spitzenklasse zulegen. Aufwendiges Zubehör und eine innovative, niedrigfrequente, variabel gesteuerte Umlufttechnologie kosten ihren Preis. Ein einfaches Gerät aus dem Elektromarkt sollte für diese Leute ausreichen."

Mit diesen Worten stand sie auf und ließ mich verdutzt sitzen. Der Nachmittag hatte außer drei Garidans-Staubsaugern keine Höhepunkte zu bieten und pünktlich um 17.30 Uhr verließ ich das Büro. Zu Hause fand ich auf dem Esstisch eine kurze Notiz meiner Frau. Sie sei mit Corinne weggegangen und käme erst spät nach Hause. Ich machte mir ein paar Brote, sah fern und ging zu Bett.