Die Katastrophale Metamorphose des Ovid by Jo Krall / Hugo C - HTML preview

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Tag 3 – Freitag 18. Juni

Felsen schneiden scharfkantig in meinen Rücken. Im fahlen Licht überprüfe ich meinen nackten Körper. Mager, zerschürft, aber vollständig. Ich liege in einer Vertiefung auf der meeresabgewandten Seite der Sanddüne. Die Landschaft erinnert mich an die holländische Nordseeküste. Vereinzelte Pflanzen krallen sich im Sand fest. Der Rand der Mulde verdeckt meinen Blick auf das Meer. Der Weg zum Landesinneren ist durch eine überhängende Böschung blockiert. Ich muss mich der See nähern, um ihr dauerhaft zu entfliehen. Angst vor den Krebsen ergreift mich. Mit ihren riesigen Scheren werden sie mich ermorden. Hier bleiben kann ich nicht, wenn die Flut kommt. Angestrengt lausche ich mit geschlossenen Augen, ob ich das Scharren von Zangen oder das Schleifen von Panzern höre. Nichts. Langsam, ganz behutsam, um keine Geräusche oder Bodenvibrationen zu erzeugen, richte ich mich auf und spähe mit den Augen über den Rand der Vertiefung Richtung Meer. Weiterhin nichts.

In meinen Augenwinkeln nehme ich einen einzelnen Krebs wahr, der die Begrenzung meines Sandbetts erklommen hat. Das Krustentier macht kein Geräusch. Stattdessen hebt es einen seiner meterlangen Arme steil in die Höhe und verharrt in dieser Position. Das Meeresrauschen nimmt zu. Falsch, es ist nicht die See. Es ist das Geräusch von Silikatdioxid an Chitin gerieben. Das Rasseln und Schleifen der Panzer wird unerträglich laut und übertönt das Meer. Erst einer, dann zehn, hundert, letztlich hunderttausende Riesenkrebse umringen mich und eilen auf mich zu. Sie heben ihre Riesenscheren und öffnen sie weit. Jetzt haben sie mich erreicht.

***

Das schrille Geräusch des Weckers drängte mir Angelikas neue Geruchsnote penetrant auf. Bisher war sie kaum wahrnehmbar gewesen, mittlerweile hatte sie Leittoncharakter. Die Ehefrauensimulation öffnete ihre Augen und blickte mich unfokussiert an.

"Jo, wir müssen reden. Ich weiß nicht, ob du dich geändert hast, oder ich."

Prüfend blickte ich sie an. Ein außerirdischer Automat hatte Angelika ersetzt und sie fragte, ob das wirklich passiert sei. Wollte sie ironisch sein? Damit hatte ich oft Probleme. Es war schwer, Witze von Fakten zu unterscheiden. Sie bewegte ihre Gesichtsmuskulatur nicht in der für ironisches Lächeln charakteristischen Weise. Sie meinte es folglich ernst. Vorsichtig lauschte ich den Worten von Angelika 2.0, bereit, jederzeit aufzuspringen und davon zu laufen, wenn sie mich ebenfalls austauschen wollte.

"Ich mag dich sehr. Aber jeder Tag ist so wie der andere und ich weiß genau, wie es in einem Jahr, in fünf Jahren, selbst in 30 Jahren sein wird. Versteh mich nicht falsch. Ich weiß, dass du anders bist als die anderen und ich finde das Okay. Daran liegt es nicht. Doch du bist immer mit dem zufrieden, was du hast. Mir reicht das nicht. Du lebst in deiner kleinen, zufriedenen Welt, hast deinen kleinen, angenehmen Job und willst eine kleine, nette Frau. Ich bin weder klein, noch sehr nett - zumindest gerade eben nicht - und will das nicht sein. Ich will Bäume ausreißen, Abenteuer bestehen, mich intellektuellen Herausforderungen stellen, kurz: Ich will leben! Ich habe mit Freundinnen gesprochen und immer wieder fragen sie mich, wie ich bloß dauerhaft mit einem wie dir leben kann. Sei mir nicht böse, das sagen wirklich alle. Du bist einfach so ... bescheiden."

Verwirrt blickte ich sie an und zögerte, zu antworten. Sie fuhr fort: "Selbst jetzt kannst du aus deinem Käfig des kleinen, netten Mannes nicht ausbrechen. Du glaubst nicht, dass deine Frau so etwas sagen, geschweige denn meinen könnte. Es bleibt dabei: Ich will kein Zuckergussleben!"

Mit diesen Worten stand sie auf, ging ins Badezimmer und sperrte zu. Normalerweise hätte ich versucht, sie zu beruhigen, auf sie geduldig einzureden und die Harmonie wiederherzustellen. Gutti, Gutti-Modus, Doppel-X sind leicht zu bedienen. Bei Angelika 2.0 war das nicht möglich. Der Ersatz-Angelika fehlten die leicht zugänglichen Schalter des Originals. Zuerst die Szene in dem Restaurant, die Abende an denen sie nicht aufgetaucht war und jetzt dieser letzte Ausbruch.

Intensiv spürte ich den Sturz über den Wasserfall, der am Ende der Strömung seit Jahren auf mich gewartet hatte. Wasser auf meiner Haut, die herrliche Schwerelosigkeit des freien Falls, der Aufschlag. Meine Augen schlossen sich. Keine Schmerzen, lediglich das lärmende Bersten des mich einzwängenden Fasses.

Mein Körper trieb in der Lagune. Ruhe kehrte ein. Meine Augen blieben weiterhin geschlossen. Ich tastete mich hervor, verließ meine Kopfhöhle wie ein Einsiedlerkrebs sein Haus. Vieles hatte sich geändert. Nicht die Imitation, ich selbst war es, hatte mich den Anforderungen der modifizierten Umwelt angepasst. Wie eine Flüssigkeit, deren Farbe bei Erreichen einer bestimmten Temperatur in Sekundenbruchteilen wechselt. Meine Wahrnehmung der Umwelt und meiner Person, sonst schemenhaft diffus, war von einer trockenen Klarheit, die Mondaufnahmen auszeichnet.

Meine Augen öffneten sich langsamer als sonst. Die Steuerungsroutine war durch meine Metamorphose beschädigt worden. Ich konzentrierte mich darauf, meinem Nervensystem einen neuen Hebungstreiber aufzuspielen. Das Angelika-Double ignorierte ich, bis ich die Wohnung verließ.

Die U-Bahn war voller als sonst, ungewöhnlich für einen Freitag. Meine Stimmung besserte sich. Mir war, als hätte ich soeben eine schwere Last abgeworfen. Freundlich lächelte ich eine junge U-Frau an. Sie war irritiert, das war nicht vorgesehen. Schnell wandte sie ihren Blick ab.

In der Konsumentenberatungsstelle angekommen, sah ich mich einem wogenden Menschenmeer gegenüber. Alle wollten zu mir. Früher hätte mich bei dieser Herausforderung Panik erfasst. Heute füllte sich meine Brust mit Stolz und dem Bewusstsein, Macht über sie zu besitzen. Wie immer konnten sie sich nicht einigen, wer als Erster hier gewesen sei. Entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten versuchte ich nicht, Einstimmigkeit zu erzeugen. Der Herrschaft Darwins folgte das Urteil Salomos. Kühn suchte ich die schönste Doppel-X heraus: "Sie sind die Erste." Die Zweithübscheste war die Zweite und so weiter. Sobald ich die verbliebenen Doppel-X nicht mehr attraktiv fand, wandte ich mich den Männern zu und ordnete sie nach dem gleichen Schema. Ab einem gewissen Niveau der Unattraktivität nahm ich wahlweise und zufällig eine Doppel-X und einen Mann. Nach zwei Minuten war die Einteilung vorbei. Zuerst hatte es leise Stimmen des Protestes gegeben, angesichts meiner Bestimmtheit verstummten diese rasch.

An diesem Vormittag reagierten die Menschen anders auf meine Ratschläge. Niemand widersprach mir und obwohl ich nicht helfen konnte, beschwerte sich keiner. Mein höchst subjektives Einteilungsverfahren hatte mir ungekannten Respekt verschafft. Alle waren devot. Beim Mittagessen saß ich erneut Frau Malowas gegenüber. Heute war ich redselig und die Normalo-Sprache kam flüssig von meinen Lippen, ohne mich anzustrengen. Einem Kollegen erklärte ich, wie ein kniffliges rechtliches Problem zu lösen sei. Frau Malowas hörte mir interessiert zu. Nach dem Essen nahm sie mich zur Seite und meinte:

"Herr Krall, ich merke, Sie haben sich meinen Rat von gestern zu Herzen genommen. Ich sehe bei Ihnen einen neuen Elan, ein Interesse, für unsere Konsumenten zu kämpfen, ihnen wirklich zu helfen. Das finde ich sehr positiv. Weiter so!"

Am Nachmittag bestimmte ich die Reihenfolge nach dem Haargewicht. Wer die meisten und längsten Haare hatte, kam zuerst. Gleich viele kürzere danach und übrig blieben Glatzen. Ich war mir nicht sicher, wie ich Toupets und Perücken zu behandeln hatte, fand, hier stünde der Wille für das Werk und akzeptierte sie als vollwertigen Ersatz. Nach der Arbeit ging ich in mein Fitnessstudio und nahm mir nach einer kurzen Aufwärmzeit auf dem Rollband die Hanteln vor. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich wesentlich mehr Gewichte stoßen konnte als sonst. Angenehm erschöpft kehrte ich gegen neun Uhr in meine Wohnung zurück.

Meine vorgebliche Frau war zu Hause, wie ich anhand der gedämpften Musik aus ihrem Arbeitszimmer erkennen konnte. Ich machte mir ein paar Brote und setzte mich vor den Fernseher, wo ich im Internet einen Sexfilm ansah. Das hatte ich bisher in ihrer Gegenwart Frau nie getan. Sicherlich wäre sie schockiert gewesen. Diesmal kümmerte ich mich nicht um ihre Reaktion. Die Lautstärke war hoch eingestellt. In der kleinen Wohnung musste sie das mehrstimmige Stöhnen hören. Sie zog es vor, die Provokation zu ignorieren und ich bekam sie bis zum Einschlafen nicht zu Gesicht.

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