Märchen aus Korea by tr.Hans-Jürgen Zaborowski - HTML preview

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NACHWORT




»Müßig lauft ihr da hinein. Rundherum seht ihr euch um. Da, ein Auge, das zu uns guckt!« — als Geschichte in einer Geschichte wird dies am Anfang unserer Sammlung koreanischer Märchen erzählt (Nr. 1). Eine Geschichte, die etwas bewirkt, die einen Dieb vertreibt und für alle Zeiten andere Diebe fernhält. Wort, das wirkt, magisches Wort — das ist ein altes Thema in der koreanischen Literatur.

Schon in einem ihrer ältesten Texte findet die magische Wirkung des Wortes dichterischen Ausdruck — im Lied des Ch’óyong aus dem Jahr 879 n. Chr. Ch’óyong, Sohn des Drachenkönigs aus dem Ostmeer, lebte am Hofe des Königs Hóngang (Regierungszeit 875-886 n. Chr.), verheiratet mit einer hübschen Hofdame. Eines Nachts kam er von einem Trinkgelage spät nach Hause zurück und fand dort, in seinem Bett, vier Beine. Der Pockengeist hatte sich in einen Mann verwandelt und Ch’óyongs Frau Gewalt angetan. Wie sollte er den Geist vertreiben? Kämpfen? Nein — er improvisierte ein Lied, tanzte dazu und verjagte so den Pockengeist, der noch dazu gelobte, nie mehr zurückzukommen. Andere hörten davon, hefteten ein Bild des Ch’óyong an ihr Haustor, um den Pockengeist und alle anderen bösen Geister fernzuhalten (zur Vertreibung des Pockengeistes vgl. auch Nr. 63). Das Lied des Ch’oyong ist später Teil des Hofzeremoniells geworden. Jeweils am Neujahrstag ist es von einem Tänzer in der Maske des Ch’óyong am Königshof vorgetragen worden, um im neuen Jahr das ganze Land vor bösen Geistern zu beschützen.

Dieser Bericht geht zurück auf eine Volksüberlieferung, die im Samguk yusa, den »Überlieferungen der Drei Reiche« — einem 1279 von dem buddhistischen Mönch Iryón zusammengestellten Geschichtswerk — in chinesischer Sprache aufgezeichnet ist. Es enthält eine Fülle von volkskundlich interessantem Material, ist die älteste und wichtigste Quelle für im koreanischen Volk überlieferte Mythen, Sagen und Märchen.

Gleichzeitig sind die »Überlieferungen der Drei Reiche« ein historisches Quellenwerk, dem älteren, von einer Gelehrtenkommission unter der Leitung Kim Pusiks kompilierten und 1145 fertiggestellten Samguk sagi »Historische Aufzeichnungen der Drei Reiche« gleichwertig, in manchen Punkten überlegen. Beide Werke berichten über die Geschichte Koreas etwa des ersten nachchristlichen Jahrtausends, beide Werke stützten sich auf zum großen Teil heute verlorene Quellen sowohl aus Korea selbst als auch aus China.

Das erste nachchristliche Jahrtausend, das ist in etwa die Zeit der drei Teilstaaten auf der koreanischen Halbinsel: Kogoryó im Norden, weit in die heutige Mandschurei reichend, der Tradition nach 32 v. Chr. gegründet; Silla im Südosten, 57 v. Chr. gegründet, und Paekche im Südwesten, 18 v. Chr. begründet. Zwischen Silla und Paekche lag das kleine, unter starkem japanischem Einfluß stehende Kaya (jap. Mimana).

Hervorgegangen sind diese Staaten aus Stammesfürstentümern, deren ethnische Herkunft noch nicht gesichert ist. Eine Besiedlung der koreanischen Halbinsel ist durch Funde aus der Altsteinzeit für die Zeit etwa seit 30000 Jahren nachgewiesen. Diese Funde, sowie solche aus der Mittelsteinzeit, sind jedoch spärlich. Für die Jungsteinzeit dagegen, die in Korea etwa im 4. vorchristlichen Jahrtausend einsetzt, gibt es eine Vielzahl von Funden, bei denen sich besonders in der Keramik zwei verschiedene Kulturen unterscheiden lassen. Kamm-Keramik, oft mit Steinmessern und -schabern und Stein- oder Knochenharpunenspitzen vorkommend, wurden vor allem an der Küste und entlang der Flußläufe gefunden. Die Wirtschaft der Träger dieser Kultur war wohl weitgehend vom Fischfang bestimmt, aber seltene und dann geringe Reste von Getreide lassen auf Anfänge des Ackerbaus schließen. Die Kamm-Keramik hat Entsprechungen in Sibirien und der Mandschurei.

Ausgeprägter war der Ackerbau bei den Bewohnern des Inlandes, die Glatt-Keramik herstellten. Hier sind auch Ackerbauwerkzeuge anzutreffen, deren Formen neolithischen Steinmessern aus Nordchina ähneln, Anzeichen für eine frühe Ausbreitung chinesischer Kulturelemente auf die koreanische Halbinsel. Interessant ist das Auftreten von Dolmen und Steinkistengräbern, die sonst in Europa, Südostasien und der Mandschurei vorkommen. Der Dolmentyp des südlichen Teils Koreas und die Glattkeramik sind von dort nach Japan weitergegeben worden und haben Anstoß gegeben zur Entwicklung der japanischen Yayoi-Kultur (ca. 300 v. Chr. bis 300 n. Chr.). Spätere Einwanderer nach Korea brachten die Technik der Bronze-Herstellung mit, erhaltene Gegenstände aus dieser Metallegierung weisen skytische Einflüsse auf.

Die Religion der ältesten Zeit ist sicher der Schamanismus gewesen. Der Name des sagenhaften Gründers Koreas, Tan’gun, ist der eines Schamanen-Königs. Tan’gun ist, nach dem in den »Überlieferungen der Drei Reiche« aufgezeichneten Gründungsmythos, Sohn eines vom Himmel auf die Erde herabgestiegenen Wesens und einer in menschliche Gestalt verwandelten Bärin (dazu vgl. Nr. 57). Sowohl die Rolle des Bären im koreanischen Mythos als auch der Schamanismus sind Indizien für den Zusammenhang der Bewohner Koreas mit sibirischen und zentralasiatischen Völkerschaften, wo, wie auch in Korea, bis in die Neuzeit, ja Gegenwart hinein, der Schamane oder die Schamanin Mittler ist zwischen Mensch und der Geister- und Götterwelt. Glaube an eine Vielzahl von Geistern, Weiterleben der Seele nach dem Tode, oft in anderer als menschlicher Gestalt, gehören hierher, eine Anzahl von Texten der vorliegenden Sammlung legen davon Zeugnis ab (Nr. 2, 19, 27, 56, 62, 71). Einige in den »Überlieferungen der Drei Reiche« aufgezeichnete Mythen weisen auch der Sonne eine verehrungswürdige Rolle zu. 

Verbindungen zwischen archäologischen Funden und schriftlicher Überlieferung lassen sich erst für die Zeit des zweiten vorschristlichen Jahrhunderts knüpfen. Um diese Zeit flüchteten Tausende von Chinesen vor der repressiven Herrschaft des Ch’in-Kaisers Shih-huang-ti (reg. 221-210 v. Chr.) in den Nordteil Koreas. Einer dieser Flüchtlinge, Wei-man (kor. Wiman), gründete 194 v. Chr. in der Gegend des heutigen P’yóngyang ein Staatsgebilde Ch’ao-hsien (kor. Chosón), dessen Bevölkerung teils aus autochthonen Völkerstämmen dieses Gebiets, teils aus Chinesen bestand. Die Technik der Eisengewinnung wurde zum ersten Mal in Korea bekannt, gleichzeitig etwa der Reisanbau. Nur knapp hundert Jahre konnte sich der kleine Staat entwickeln, dann unterlag er der expansiven Politik des mächtigen chinesischen Han-Reiches, das 108 v. Chr. Teile des nördlichen Korea und der Mandschurei besetzte und dort vier Präfekturen gründete. Viele Bewohner Wiman Chosóns flüchteten in den Süden, manche bis nach Japan.

In den vier chinesischen Präfekturen, wichtigste war die mit Lolang (kor. Nangnang) als Verwaltungssitz, entfaltete sich eine prächtige chinesische Kolonialkultur, unter der eine eigenständige koreanische Kulturentwicklung unmöglich war. Gleichzeitig gingen jedoch von diesem Zentrum Anstöße zur politischen und kulturellen Entwicklung der nicht von den Chinesen besetzten Teilen des Landes aus — im Norden entstand Koguryó mit einer weitgehend tungusischen Bevölkerung, im Süden bildeten sich aus Stammesverbänden Paekche und Silla, zwischen beiden das kleine Kaya. 

Das chinesisch beherrschte Gebiet wurde mehr und mehr eingeengt, bis es 313 n. Chr. Koguryó gelang, die chinesische Besatzungsherrschaft zu beseitigen. Die drei Staaten auf der koreanischen Halbinsel konsolidierten sich, übernahmen Elemente der chinesischen Kultur. Von besonderer Bedeutung war die Übernahme der chinesischen Schrift und Sprache als Bildungs- und Verwaltungssprache. Die klassischen Texte des chinesischen Konfuzianismus wurden studiert, der Buddhismus zuerst in Koguryó, dann in Paekche, zuletzt in dem durch Berge isolierten Silla eingeführt.

Zuerst nur Religion höfischer Kreise, überlagerte der Buddhismus langsam, im Verlauf mehrerer Jahrhunderte, den im Volk verwurzelten Schamanismus, konnte ihn aber nicht verdrängen. In den Märchen treten zwar hin und wieder buddhistische Mönche auf, manche Märchen zeigen Anklänge an die buddhistische Lehre (Nr. 2, 4, 15, 24, 25, 34, 37, 55, 76), überall ist aber zu erkennen, daß der Buddhismus Kompromisse mit der Volksreligion schließen mußte (besonders in Nr. 72). Rein buddhistische Märchen sind selten (Nr. 56).

Auch der Taoismus wurde in dieser Zeit in Korea bekannt, selbst aus schamanistischem Erbe entstanden, beeinflußte er den koreanischen Schamanismus und wurde in diesen integriert. Vom Taoismus und seinem Weltbild sprechen ebenfalls einige Märchen (Nr. 14, 39, 47, 57).

Zum mächtigsten der Drei Reiche entwickelte sich Silla, dem es im 7. Jahrhundert gelang, zum erstenmal die gesamte koreanische Halbinsel zu vereinigen. Das Vereinigte Silla-Reich, auch Groß-Silla genannt (661-935) wurde zu einer der glanzvollsten Perioden der koreanischen Geschichte. Rege Kontakte zum T’ang-Reich in China bewirkten eine immer stärkere Beeinflussung durch die chinesische Hochkultur. Koreaner studierten in China, bestanden dort die höchsten Staatsprüfungen, erwarben sich sogar Ruhm durch ihre in chinesischer Sprache geschriebenen literarischen Werke. Trotzdem blieb das Bewußtsein der Eigenständigkeit; gerade in dieser Zeit wurden die ersten Versuche unternommen, die eigene Sprache aufzuzeichnen. Dabei verwendete man chinesische Wortzeichen ihrem Lautwert nach zur Schreibung der anders strukturierten koreanischen Sprache. Die Hauptstadt Sillas, Kyóngju, war nach dem Vorbild der T’ang-Hauptstadt Ch’ang-an erbaut worden. Der Buddhismus kam zu hoher Blüte, Tempelgründungen in allen Teilen des Landes zeugen davon. Das Verwaltungssystem wurde ebenfalls nach chinesischem Vorbild reformiert. Die Konzentrierung der Macht auf die Hauptstadt führte dazu, daß die Vornehmen dort reicher und reicher wurden; die Sucht nach Vergnügen, nach immer mehr Reichtum führte zur Dekadenz. Machtkämpfe innerhalb der herrschenden Familien ermutigten Aufstände in verschiedenen Teilen des Landes. Das letzte Jahrhundert der Silla-Zeit war eine Periode des Niedergangs.

Schließlich übergab der letzte Silla-König die Macht an den mächtigsten der vielen Rebellen, der seinen Hauptstützpunkt in Kaesóng hatte — das Silla-Reich wurde Vergangenheit. Eine neue Dynastie, Koryó mit der Hauptstadt in Kaesóng, 918 gegründet, regierte von 935 an die ganze Halbinsel. Der Name dieser Dynastie ist es, von dem sich die europäische Bezeichnung Korea herleitet.

Während der Koryó-Dynastie (918-1392) war der Buddhismus Staatsreligion, oft sogar Mittel der Politik. So hat das Königshaus zweimal versucht, durch besondere Verdienste um die buddhistische Religion Schutz für das Land vor fremden Invasionen zu erflehen. Zweimal wurde der gesamte Kanon der buddhistischen Schriften in chinesischer Sprache zusammengefaßt und in Holzdruckplatten geschnitten — zuerst, um das Land vor den Khitan zu schützen. Diese Druckplatten sind während des Eindringens der Mongolen in Korea im Jahre 1232 verbrannt worden. In den Jahren 1237 bis 1251 wurden noch einmal Druckstöcke des gesamten Kanon geschnitzt, diesmal, um den Beistand Buddhas bei der Vertreibung der Mongolen zu erwirken.

Die Mongolen hatten die gesamte Halbinsel besetzt und wollten von Korea aus Japan erobern. Der König war mit seinem Hofstaat auf die Insel Kanghwa vor der koreanischen Westküste geflohen, dort wurden auch die Arbeiten an der neuen Druckausgabe unternommen und beendet. Die 81137 Druckplatten wurden später zum Tempel Haein-sa in der Nähe von Taegu gebracht, wo sie noch heute vollständig aufbewahrt sind.

Ebenfalls während der Koryó-Zeit wurden in Korea die ersten Drucke mit beweglichen Drucktypen angefertigt, lange Zeit bevor in Europa Gutenberg den Druck mit beweglichen Lettern erfand. In der Kunst der Koryó-Dynastie erreichte die Herstellung von Porzellan eine seltene Blüte, die Koryó- Seladone waren bei Zeitgenossen in ganz Ostasien berühmt, heute sind sie seltene und gesuchte Raritäten auf dem Kunst- und Antiquitätenmarkt.

Durch Aufstände, Rebellen war die Koryó-Dynastie begründet worden, durch Rebellion fand sie auch ihr Ende. In China hatten die Mongolen ihren Einfluß verloren, eine nationale chinesische Dynastie, die der Ming (1368-1644) war dort an die Macht gekommen. Die Beamtenschaft in Korea spaltete sich — ein Teil wollte weiterhin loyal zu den Mongolen stehen, die anderen wollten sich der Ming-Dynastie anschließen. Als dann der Koryó-König den Befehl zu einer militärischen Intervention zugunsten der Mongolen gab, verweigerte einer der profiliertesten Generale, Yi Sónggye, der sich in Kämpfen sowohl gegen die vielen japanischen Seeräuber als auch gegen nomadische Völkerschaften in der Mandschurei ausgezeichnet hatte, den Befehl. Er marschierte mit seinen Truppen in die Hauptstadt Kaesóng und entthronte den König. Vier Jahre später proklamierte er dann eine neue Dynastie, die Yi-Dynastie (1392-1910), als deren erster Herrscher er den Thron bestieg. Die Hauptstadt wurde nach dem heutigen Seoul verlegt.

Der Buddhismus, fast tausend Jahre in Korea verwurzelt, wurde nun verdrängt, Staatsdoktrin wurde der Neu-Konfuzianismus, der im China der Sung-Dynastie (960-1278) entstanden und schon in den letzten Jahren der Koryó-Dynastie von koreanischen Gelehrten fleißig studiert worden war. Bewegliche Metalldrucktypen wurden benutzt, der Buchdruck erhielt ungeahnten Auftrieb, denn die neue Lehre sollte schnell und weit verbreitet werden. Die Moralvorstellungen des Konfuzianismus führten zu einer grundlegenden Veränderung des sozialen Systems. Auch im Märchen finden die konfuzianischen Tugenden ihren Niederschlag: Loyalität des Untertanen; ergebene Liebe der Kinder zu ihren Eltern; Gehorsam des Jüngeren dem Älteren gegenüber; Treue, die von der Frau ihrem Mann gegenüber verlangt wird; Treue in der Freundschaft (Nr. 6, 13, 20, 29, 33, 42, 48, 51, 52, 62, 73, 80, 87).

Doch die Aufnahme des chinesischen Neo-Konfuzianismus bedeutete nicht Aufgabe der koreanischen Kultur — um dem Volk das Erlernen der schwierigen chinesischen Schriftzeichen zu ersparen, wurde eine eigene koreanische Schrift geschaffen. Eine Gelehrtenkommission entwickelte auf Befehl des vierten Königs Sejong (reg. 1418-1450) in mehrjähriger Arbeit eine einfache Buchstabenschrift, die einzige ihrer Art in Ostasien. Eine rege Übersetzungstätigkeit setzte ein, die konfuzianischen Klassiker und andere Werke der chinesischen Literatur wurden ins Koreanische übertragen, auch einige buddhistische Werke.

Aber gerade die Einfachheit der Schrift war es, die ihren Gebrauch einschränkte. Von den Gelehrten wurde sie verachtet, als Sklavenschrift bezeichnet, die chinesische Schrift (und Sprache) wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorgezogen.

Die ersten zweihundert Jahre der Yi-Dynastie verliefen friedlich, ungestört konnte sich ein reiches kulturelles Leben entfalten. Dann überrollte 1592 plötzlich und unerwartet eine japanische Invasion das Land, die sieben Jahre währte und für die koreanische Kultur verheerende Folgen hatte. Die meisten alten Bauwerke wurden zerstört, Bücher verbrannt, bewegliche Kulturgüter nach Japan mitgenommen. Handwerker wurden dorthin entführt, besonders Töpfer, die von da an in Japan wirkten und dazu beigetragen haben, in dem Inselreich eine Porzellanmanufaktur zu schaffen, die bis in die Gegenwart fortdauert.

Die japanischen Invasoren, geschwächt vor allem durch die koreanische Marine, die unter Admiral Yi Sunsin die ersten gepanzerten Schiffe der Welt einsetzte, nahmen den Tod ihres Führers Hideyoshi im Jahr 1598 zum Anlaß, sich zurückzuziehen und die Kampfhandlungen einzustellen.

Schon wenige Jahre später wurde das Land erneut von fremden Eindringlingen heimgesucht, 1627 und 1636 waren es die Mandschu, die einfielen und deren Oberherrschaft der koreanische König anerkennen mußte.

Von da an schloß sich das Land gegen die Außenwelt ab, die einzigen offiziell erlaubten Kontakte nach draußen waren Gesandtschaften an den Hof der Mandschu-Kaiser in China. Bei solchen Gelegenheiten kamen koreanische Gelehrte zum erstenmal mit europäischem Gedankengut in Berührung. Die Begegnung mit christlichen Missionaren vermittelte ihnen Kenntnisse über den damaligen Stand der Naturwissenschaften in Europa, und einige Gelehrte begannen, christliche Texte in chinesischer Sprache zu studieren. Aus dem philosophischen Interesse am Christentum wurde Glaube, Gemeinden wurden gebildet, eine koreanische Kirche begann zu wachsen, ohne daß jemals Missionare koreanischen Boden betreten hatten.

Während das kulturelle Leben blühte, koreanisches Leben Thema der Literatur und der bildenden Kunst wurde (dies wohl nicht zuletzt eine Folge der Abschließung des Landes), wurde die politische Handlungsfähigkeit durch Parteienstreitigkeiten im Inneren immer mehr eingeschränkt. Zwar konnten die ersten Versuche der Amerikaner und Franzosen, 1866 in Korea zu landen, noch zurückgeschlagen werden, aber 1876 mußte Korea sich den Japanern, die das Land gewaltsam zu öffnen suchten, beugen und ihnen wesentliche Rechte zugestehen. Siege Japans im Chinesisch-Japanischen (1894 bis 1895) und im Russisch-Japanischen Krieg (1904-1905) festigten die Rolle Japans in Korea, dessen außenpolitische Vertretung es übernahm. 1910 wurde schließlich Korea vollständig annektiert und in ein japanisches Generalgouvernement verwandelt.

Brutale Militärverwaltung sollte jegliche politische Äußerung eines Koreaners unmöglich machen. Doch die Verelendung weiter Massen, der brennende Haß gegen die Fremdherrschaft führten zu aktivem Widerstand. Am 1. März 1919 kam es zu Demonstrationen in allen Teilen des Landes, bei denen eine Unabhängigkeitserklärung verlesen wurde. Zwar wurde diese Manifestation des Volkswillens niedergeschlagen, aber von da an wurden den Koreanern einige Freiheiten zugestanden: Tageszeitungen in koreanischer Sprache erschienen wieder, eine eifrige Beschäftigung mit der koreanischen Kultur setzte ein, in dieser Zeit wurden auch die ersten Sammlungen koreanischer Märchen von patriotischen jungen Koreanern aufgenommen und veröffentlicht. Literarische Zirkel aller Schattierungen entstanden, beeinflußt von den aktuellen Strömungen der europäischen Literatur.

Aber mit Beginn des Krieges gegen China 1937 wendete sich das Blatt wieder zum Schlimmen. Der Gebrauch der koreanichen Sprache in der Öffentlichkeit wurde verboten, Unterricht in Schulen aller Ebenen nur noch in Japanisch erteilt. Die Bevölkerung wurde gezwungen, die angestammten koreanischen Namen aufzugeben und japanische Namen anzunehmen. Die dunkelste Zeit japanischer Herrschaft, mit Rekrutierung von Koreanern für die japanische Armee, Verschleppung Hunderttausender von Zwangsarbeitern für die japanische Grundstoff- und Rüstungsindustrie endete mit der Niederlage Japans 1945.

Die japanische Besatzung wurde im Norden durch eine sowjetische, im Süden durch eine amerikanische ersetzt. Großmachtinteressen verhinderten eine Vereinigung der beiden Landesteile, in denen selbständige Staaten entstanden. Ein unglückseliger Bruderkrieg, der 1950 ausbrach, vertiefte diese Spaltung. Heute stehen sich beide Teile Koreas feindseliger denn je gegenüber.

Die verschiedenen Epochen der Geschichte haben in den im Volk überlieferten Märchen ihre Spuren hinterlassen. Nicht minder wichtig ist aber der Mensch, über den die Geschichtsbücher nicht berichten. An seinem Leben hat sich im Lauf vieler Jahrhunderte nur wenig geändert. So nimmt es nicht wunder, daß die wichtigsten Lebensabschnitte im Märchen auch widergespiegelt werden.

Die Geburt eines Kindes wird oft durch einen Traum der werdenden Mutter angekündigt (Nr. 2). Ist das Kind geboren, bleibt es mit seiner Mutter für hundert Tage von der Außenwelt abgeschirmt (Nr. 53), ein Brauch, der beide vor Krankheiten schützen soll. Ähnliches findet sich auch bei anderen Völkern in Nord- und Zentralasien. Die Ernährung der Wöchnerin ist wichtig, Reis und Seetangsuppe sollen ihr Kraft geben (Nr. 53).

Die wichtige Rolle, die der älteste Sohn einer Familie bei der Verehrung der Ahnen spielt, erklärt die Bevorzugung von Söhnen (Nr. 61, 75). Die Erziehung der Söhne ist von größter Wichtigkeit, sie sind es, die später ihre Eltern ernähren (Nr. 6), nach Ablegen der verschiedenen Staatsprüfungen (Nr. 42) der Familie zu Ruhm und Ansehen verhelfen.

Auch Ehen werden geschlossen, um möglichst den Reichtum zu mehren. Heiratsvermittler bieten ihre Dienste an — oder verweigern sie, weil der zukünftige Bräutigam ein armer Schlucker ist (Nr. 45). Die Hochzeit (Nr. 22, 68, 78) ist ein wichtiger Einschnitt im Leben, ganz gleichgültig, wie alt Braut und Bräutigam sind, vom Tag der Hochzeit an gelten sie als erwachsen. Im alten Korea wurden Ehen früh geschlossen, oft war dabei die Braut um Jahre älter als der Bräutigam (Nr. 33, 87). Seit Beginn der Yi-Dynastie scheidet die Braut mit der Eheschließung aus ihrer Elternfamilie aus, sie lebt im Haus der Schwiegereltern. Wie überall in der Welt ist ihr Los nicht leicht (Nr. 54, 86). Erst wenn sie ein Kind, möglichst einen Sohn, zur Welt gebracht hat, wird das Leben für sie etwas angenehmer.

Da die Frau oft älter war als der Mann, war sie ihm in den praktischen Dingen des Lebens, des Alltags, überlegen, besonders in Märchen aus dem südlichen Teil Koreas und von der Insel Cheju findet das Ausdruck (Nr. 13, 52, 53, 75). Diese Überlegenheit macht es für sie vielleicht auch leichter, sich damit abzufinden, daß ihr Mann irgendwann einmal eine jüngere Nebenfrau nimmt (Nr. 6).

Ein prächtiges Fest wird am 60. Geburtstag gefeiert, Kinder und Enkel versammeln sich, um dem Jubilar Gesundheit und langes Leben zu wünschen. Je größer die Zahl der Gäste, um so höher ist das Ansehen der Familie (Nr. 2, 81).

Alter und Krankheit (Nr. 6, 16, 63, 73, 85) bereiten auf den Tod (Nr. 15, 16, 78) vor. Noch der Leichnam eines Menschen hat Einfluß auf das Wohlergehen seiner Familie. Ein Begräbnis mit allen vorgeschriebenen Trauerriten (Nr. 48, 51, 52) und an einem glückverheißenden Ort, den ein Geomant auswählen muß (vgl. Anmerkung zu Nr. 34, Märchen Nr. 53), sind unabdingbar. Daß eine Frau nach dem Tod ihres Mannes oder auch nur ihres Geliebten (Nr. 75) sich nicht wieder verheiratet, keusch lebt oder gar freiwillig in den Tod geht, ist eine Selbstverständlichkeit.

Die ältesten uns erhaltenen koreanischen Märchen, Sagen und Legenden sind in den »Überlieferungen der Drei Reiche« aus dem Jahr 1279 nachzulesen. Von dieser Zeit an haben sie immer wieder die Literatur, sowohl in chinesischer als auch in koreanischer Sprache, beeinflußt. Märchenerzähler durchzogen das Land, entwickelten im Laufe der Zeit einen besonderen Stil, den man als Beginn der dramatischen Gestaltung bezeichnen könnte, das P’ansori. Der Erzähler steht, begleitet von einem Trommler, vor seinem Publikum, mit nur einem Fächer als Requisit erzählt er über Stunden seine Geschichte, schmückt die eine oder andere Episode aus, fügt Lieder im Stil der Zeit ein. Aus der vorliegenden Sammlung ist es »Das Schwalbenbein« (Nr. 80), das als Húngbu-ga »Lied von Húngbu« eine solche Gestaltung erfahren hat und noch heute ein begeistertes Publikum findet. Die Einbandzeichnung, von Herrn Hermann Schäfer nach alten koreanischen Vorlagen mit großem Einfühlungsvermögen entworfen, zeigt einen solchen P’ansori-Erzähler.

Koreanische Märchen in deutscher Sprache: die bisher erschienenen Auswahlbände sind entweder nicht aus dem Koreanischen, sondern aus Übersetzungen in europäische Sprachen übersetzt, oder sie sind von Missionaren herausgegeben. Beides konnte nicht ohne Auswirkungen auf Gestaltung, Inhalt und Auswahl bleiben — wie heißt es doch in der Geschichte vom Gelehrten und dem Geomanten (Nr. 5 3): »Weil man sich im Haus so vornehmer Leute wegen so was schämt ...« — Beispiele des Volkshumors, oft recht derbe Schwänke, sie sollten, durften in der vorliegenden Sammlung nicht fehlen.

Ein großer Teil der aufgenommenen Texte stammt aus Sammlungen der letzten Jahre. Daß der Norden Koreas von wenigen Ausnahmen abgesehen, die aus älteren Sammlungen stammen, fast nicht vertreten ist, hat seine einsichtigen Gründe. Besonders reich vertreten ist die folkloristisch besonders interessante Insel Cheju, zwischen Korea und Japan gelegen, mit Märchen von besonderem Reiz. Die meisten Texte sind noch nie in eine Fremdsprache, viele aus Dialektfassungen übersetzt.

Bleiben Worte des Dankes: zuerst an die Sammler und Herausgeber der übersetzten Texte. Herrn Prof. Dr. Zóng In-sóp sei gedankt für seine eigenwillige, aber gerade deshalb anregende Einführung in die koreanische Märchenwelt in manchen Gesprächen. Nicht vergessen werden darf mein Freund Kim Chin, Antiquariatsbuchhändler in Seoul, ohne dessen Hilfe gewiß viele Originaltexte und wichtige Sekundärliteratur mir unerreichbar gewesen wären. Mein DAAD-Kollege von der Seoul National University, Herr Detmar Teggemann, hat freundlicherweise einen Teil des Manuskripts durchgesehen.

Zuletzt und am meisten verpflichtet bin ich meiner Frau Young-cho, geb. Kim. Vieles, was in diesem Band übersetzt ist, war für sie Erzählgut ihrer Kinderzeit. Der Herausgeber konnte diese Geschichten neu in sich aufnehmen — sie hat sie erfahren, ist mit ihnen groß geworden. Wie unschätzbar das für die Arbeit des Übersetzens ist, wird jedermann ermessen können.

Die Sammlung schließt, wie sie begonnen hat, mit einer Geschichte über das Geschichtenerzählen, das Märchensammeln (Nr. 90). Nur — der Herausgeber ist nicht einverstanden mit dem Alten, der Geschichten in einen Topf einsperrt. Wenn aber der Leser den vorliegenden Band als eine Art Märchentopf betrachtet, so wünscht sich der Herausgeber, daß der Deckel möglichst oft aufgehoben wird, um die Geschichten herauszulassen, damit sie zu süßen Erdbeeren und saftigen Wassermelonen werden.

Gewidmet sei dieser Band in Dankbarkeit meinen Eltern im fernen Deutschland.

Seoul, Hankuk University of Foreign Studies Im Jahr des Hasen 1975

Hans-Jürgen Zaborowski