Märchen aus aller Welt: Korea by Tr. Albrecht Huwe - HTML preview

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Das sonderbare Taschentuch




Vor Zeiten überquerte einmal ein alter Mann in aller Ruhe bei Sonnenuntergang einen Paß. Ihm folgte jedoch auf Schritt und Tritt ein faustgroßes Ding. Anfangs schenkte er dem wenig Beachtung. Nach und nach aber wurde er arg¬wöhnisch. Er schaute angestrengt hin, konnte indessen we¬gen des Dämmerlichts nichts Genaues erkennen. Darum schleuderte er seinen Stock, auf den er sich gestützt hatte, mit aller Kraft in die verdächtige Gegend. Sogleich ertönte ein kurzes, plötzliches Bellen, und jählings ergriff ein Fuchs vor Furcht die Flucht.

Als das Tier verschwunden war, blickte sich der alte Mann um und entdeckte gerade vor sich, an dem gebogenen Ast einer Kiefer, ein weißes Taschentuch.

»Ei, sieh an! Das scheint das Taschentuch des Fuchses zu sein«, sprach der alte Mann zu sich, steckte das Tüchlein in seine Westentasche und kehrte heim.

Nachdem der alte Mann sein Abendmahl eingenommen hatte, erzählte er seinem Weib, was ihm auf dem Paß begeg¬net war und zog das Taschentuch hervor. Aber wie sehr sie auch schauten, dieses unterschied sich in keinem Punkt von denen der Menschen.

»Hm, wenn man sich dieses Taschentuch ansieht, kann man es überhaupt irgendwo als das eines Fuchses bezeichnen?« fragte sich der alte Mann murmelnd und untersuchte es ge¬nau, indem er es hin und her wendete. Schließlich legte er das Taschentuch auf seinen Kopf — allein es geschah nichts.

»Ein solches Taschentuch sollten wir fortwerfen. Ich kann es nicht benutzen, weil ich mich unwohl dabei fühle«, meinte die Frau zu ihrem Mann, denn es bereitete ihr keine Freude mehr.

»Da magst du recht haben.«

Während er ihr nur beiläufig diese Antwort gab, band er sich das Taschentuch einmal um den Hals. Aber was in aller Welt geschah hier?! Der Körper des alten Mannes schrumpfte zu-sammen, daß er innerhalb weniger Augenblicke so klein wie eine Ameise geworden war.

»Oje! Frau, Frau!« schrie der alte Mann, von schrecklicher Angst ergriffen. Jedoch schwand mit seinem Körper auch seine Stimme, die schließlich so fein war wie die einer Mükke.

Anfangs, als den Mann große Angst peinigte, war er gänz¬lich verwirrt. Indem er aber wieder zu klarem Verstand kam und sich besann, erkannte er, daß alles auf das Taschentuch zurückzuführen war und löste es unverzüglich vom Hals. Tatsächlich, kaum hatte er es abgenommen, war er auch schon so groß wie ehedem.

»Alle Wetter! Dies Taschentuch ist wirklich überaus son¬derbar! Der Angstschweiß brach mir aus, als ich glaubte, ich wäre nun ein Insekt geworden!«

Der alte Mann holte tief Atem und sein Weib war dermaßen verblüfft, daß sie mit offenem Munde dastand und vergaß, ihn wieder zu schließen.

Zu jener Zeit drückte den König des Landes eine schwere Sorge. Er hatte sich mit dem König des Nachbarreiches, der ein boshaftes Wesen besaß, im Paduk-Brettspiel gemessen und dabei dreimal hintereinander gewonnen. Darüber hatte sich der böse König furchtbar geärgert: »Heute habe ich zwar im Paduk-Spiel verloren, aber laß uns einmal eine rich¬tige Wette abschließen. Dabei soll der Verlierer ohne Mur¬ren die Hälfte seines Reiches abtreten.«

Da der gute König schlecht hatte ablehnen können, war er wider Willen diese aberwitzige Wette eingegangen.

Er befand sich in einer wahrlich schlimmen Lage. Für die Wette war folgendes vereinbart worden: Jeder der beiden Könige sollte mit einem ihm lieben, unter dem Kleid ver-borgenen Gegenstand am Grenzfluß der beiden Länder er-scheinen und die vom andern mitgebrachte Sache erraten.

Wie das Glück es jedoch wollte, hatte der Nachbarkönig ei¬nen Minister, der die Zukunft genau deuten konnte, so daß er alles, was die Menschen bei sich trugen, ohne es zu sehen, mit Bestimmtheit herausbekam. Weil dem König des alten Mannes indessen ein solcher Minister fehlte, war vorauszu¬sehen, daß er die Wette verlieren würde.

Als der alte Mann davon erfuhr, begab er sich spornstreichs in den Palast zum König. Dieser hatte sich wegen Schmerzen den Kopf eingehüllt und lag darnieder. Kaum hatte er je¬doch gehört, daß ihm der alte Mann zum sicheren Sieg ver¬helfen würde, freute er sich über die Maßen.

»Wenn du mir wirklich dazu verhilfst, die Wette zu gewin¬nen, dann werde ich dich in das höchste Amt des Reiches einsetzen. Willst du es versuchen?« fragte ihn der König vol¬ler Erwartung.

Der alte Mann machte sich nun mit dem Taschentuch des Fuchses so klein wie eine winzige Fliege und ging in das Nachbarreich.

Auch im Nachbarreich war die Wette der Könige in aller Leute Munde. Indessen erstaunte er nicht wenig, als er hör¬te, daß die große Wahrsagefähigkeit des Ministers von ei¬nem Muttermal unter der Achsel abhinge.

Der alte Mann suchte geradenwegs das Haus des Ministers auf und versteckte sich in den Bettdecken, die in einem Zimmer aufgestapelt lagen. Nachdem der Minister von einem Fest im Palast, auf dem er viel Wein getrunken hatte, zurückgekehrt war, sank er in tiefen Schlaf.

Diese Gelegenheit benutzte der alte Mann, um die Achsel des Ministers zu betrachten. In der Tat hing da ein großes Muttermal. Er zog ein kleines Taschenmesser hervor, schnitt es restlos ab und machte sich mit ihm schnell aus dem Staube. Sodann betrat er den Palast und hielt sich unbe¬merkt im Schlafgemach des bösen Königs auf.

Als dieser am nächsten Morgen seine Gewänder anlegte, kroch der alte Mann in sie hinein. Zum Schluß steckte der König noch einen kostbaren Gegenstand unter sein Hemd und stellte sich beim Flußufer ein. Außer ihm gab es indes¬sen noch jemanden, der das Geheimnis kannte: es war na¬türlich der kleine Mann.

Die beiden Könige stellten sich gegenüber. Der böse sollte als erster raten. Aber weil sein Minister, der neben ihm mit zitternden Knien stand, außerstande war, ihm zu helfen, wußte er nichts zu sagen. Es war ein kleines, goldenes Mes¬ser, das der gute König mitgebracht hatte.

Nun war dieser an der Reihe.

Der alte Mann ließ sich vorsichtig aus dem Kleid des Geg¬ners fallen und lief wie der Wind zu seinem König.

»Herr König, es ist ein Tuschwassertropfer, ein Wassertrop¬fer aus Porzellan!« flüsterte er ihm nach Atem ringend ins Ohr.

Auf diese Weise gewann der König des Landes, in dem der alte Mann lebte, die Wette glänzend. Der alte Mann selbst trat das höchste Amt des Reiches an, und man sagt, daß er sehr glücklich lebte.