Es war einmal vor langer Zeit ein kleiner Junge, der hörte Märchen unsäglich gerne. Deswegen hatte er sich einen Beutel gemacht, den er jedesmal öffnete, wenn Märchen er¬zählt wurden, um ihn danach wieder fest zuzuschnüren. Dann freute er sich, daß wieder ein Märchen darinnen war. Der Junge sammelte sie zwar in dieser Weise fleißig, doch kam es niemals vor, daß er auch nur eines der Märchen ir¬gend jemandem wiedererzählte.
Er wuchs heran und kam schließlich in das Alter, in dem seine Eltern ihn verheirateten. Es war genau ein Tag vor der Hochzeit. Morgen würde sich der Bräutigam in das Haus der Braut begeben, um sie heimzuholen. In Haus und Hof herrschte daher geschäftiges Treiben. Die ganze Familie und die Diener liefen umher und machten Lärm. Die Vorbe¬reitungen waren in vollem Gange.
In jenem Haus lebte auch ein besonders treuer Diener. Mitt-lerweile war es Nacht geworden. Der Diener hatte im Herd ein Feuer angezündet, und eben wollten ihm vor Müdigkeit die Augen zufallen, als ein sonderbares Gewisper an seine Ohren drang. »Ja, morgen wird dieser ungeratene Sohn hei¬raten. Der Tunichtgut hat uns so grausam in den Beutel ein¬gesperrt und erzählt uns nicht. Weil er uns unterdrückt und trübsinnig gemacht hat, werde ich mich morgen aus Rache in eine verlockende, schmackhafte Erdbeere am Wegesrand verwandeln. Sollte mich der Kerl auch nur anbeißen, ich werde ihn auf der Stelle töten.«
»Das ist ein Wort! Falls du keinen Erfolg hast, fließe ich als kla-res Quellwasser. Wenn er mich trinkt, fällt er sogleich tot um.«
»Nun, dann kann ich nicht tatenlos zusehen. Ich werde ein glühend heißer Eisenklumpen und verstecke mich genau an der Stelle, an welcher der Bräutigam, vor dem Haus der Braut angelangt, vom Esel steigen wird. Dem Bösewicht will ich die Füße abbrennen.«
»Und ich bin auch dabei! Aus mir entstehen einige hundert Schlangen, die sich im Zimmer der Braut auf die Lauer legen, um dann mitten in der Nacht Braut und Bräutigam mit einem Male zu verschlingen.«
Der Diener, zutiefst erschrocken, riß die Augen auf und schaute in die Ecke, aus der das Geflüster kam. Dort hing der Märchenbeutel des Jungen, und die Stimmen kamen gerade aus diesem heraus.
Am nächsten Morgen bot sich der Diener dem Herrn beim Aufbruch des Bräutigams als Eseltreiber an. Dadurch, daß er das Tier am Zügel führte, wollte er die Gefahren, die dem Sohn seines Herrn drohten, abwenden.
»Heute gibt es im Hause viel zu arbeiten. Bleibe du daher hier und lasse einen anderen als Treiber gehen!« Obwohl der Herr nicht einwilligte, bat ihn der Diener doch so entschieden darum, als wolle er sein Leben dafür einsetzen. Also ließ ihn der Herr notgedrungen ziehen.
Die beiden machten sich auf zum Hause der Braut. Sie waren an einem Bergvorsprung angelangt, als der Bräutigam am Wegesrand eine köstliche Erdbeere erblickte, die so groß war, daß sich der Stengel, an dem sie hing, zu Boden neigte.
Kaum hatte er die Frucht gesehen, als ihm auch schon vor Appetit das Wasser im Munde zusammenlief.
»Oh, diese Erdbeere wird schmecken! Komm, laß sie uns essen!«
»Herr! Hat ein junger Edelmann, der zu seiner Braut geht, für so etwas Zeit? Nur schnell, eilen wir uns!« Der Diener tat sehr verwundert und gab dem Esel die Peitsche.
Inzwischen hatte die Sonne ihren höchsten Stand am Himmel erreicht, und von der Stirn des Bräutigams rann der Schweiß. Nach einer geraumen Weile kamen sie an einen silberhellen Quell, der unter einem Felsen hervorsprang.
»Ach, ich habe einen schrecklichen Durst! Schöpf mir doch etwas von dem Wasser da!« bat er den Diener, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
»Aber, aber, lieber Herr! Nur eine kurze Strecke noch, und Ihr könnt im Hause Eurer Braut einen erfrischenden Fruchtsaft zu Euch nehmen. Drum sagt bitte nicht, daß Ihr ausgerechnet dieses Wasser hier trinken wollt!« Der Diener stellte sich, als habe er nur mit halbem Ohre hingehört, und versetzte dem Esel einen kräftigen Peitschenhieb.
Schließlich erreichten sie das Haus der Braut, und der Bräutigam stieg vom Esel. Aber in dem Augenblick, da er den Boden berühren wollte, ergriff der Diener seine Hand und zog mit einem so kräftigen Ruck, daß er weitab von der gefährlichen Stelle zu Fall kam.
»Du dummer Kerl! Was erdreistest du dich, mich heute zu behandeln, wie ich es nicht länger dulden kann. - Nun laß uns ins Haus gehen!« sagte er, und seine Augen standen vor Scham voll Tränen.
Die Nacht war hereingebrochen. Der Diener hatte sich mit einem Messer unter der Tür des Brautzimmers versteckt. Doch als das junge Paar das Licht löschen wollte, um zu ruhen, trat er blitzschnell mit dem Messer in der Hand hervor und stieß die Tür auf.
»Junger Herr, den Grund will ich Euch nachher ausführlich erklären, nur kommt jetzt mit Eurer Frau geschwind aus dem Zimmer heraus.«
Überrascht stand der Bräutigam auf und führte seine Braut nach draußen. Als der Diener danach die Matratze aufhob, wimmelte es da von aberhundert Schlangen. Er schwang sein Messer und tötete sie alle ausnahmslos.
Der Bräutigam hörte dann aufmerksam dem Bericht des Dieners zu. Sobald dieser geendet hatte, war er voll des Lo¬bes über ihn und belohnte ihn reichlich. Auch bereute er sehr, daß er die Märchen in den Beutel eingesperrt und sie niemandem erzählt hatte.
Und ihr? Habt ihr vielleicht ebenso einen Märchenbeutel, aus dem ihr keines herauslassen wollt?