An der Mündung eines Flusses ins Meer wohnte einst ein junger Fischer. Er war ein fleißiger Mann, doch lebte er trotz seines genügsamen Wesens in großer Armut.
Jeden Tag stand der junge Fischer früh morgens auf, fing Fische und sorgte liebevoll für seine alte Mutter. So brachte er sein Leben zu.
Es war an einem Frühlingstag. Sonderbarerweise biß kein einziger Fisch an. Bis der Tag zur Neige ging, hatte nicht einmal eine kleine Karausche an der Angel des jungen Fischers gehangen.
»Was ist das nur für ein Tag! Das hat es doch noch nie gege¬ben, daß ich keinen einzigen Fisch gefangen habe. Ob ich noch einmal woanders die Angel auswerfen soll?«
Der junge Fischersmann versuchte es ein letztes Mal. Und siehe, da hatte auch schon ein Fisch angebissen. Wie schwer er sein mochte? Tief bog sich die Angelrute durch die Last. Der Fischer war überglücklich und zog die Angel daher langsam und vorsichtig aus dem Wasser. Und ein dicker Karpfen, so groß wie ein kleines Kind, kam zum Vorschein. »Es stimmt, dieser große Fisch wollte gefangen werden, da sonst den ganzen Tag über kein anderes Tier angebissen hat. Der ist aber wirklich riesig!«
Behutsam zog er den stattlichen Karpfen an Land. Hell leuchteten dessen rote und grünblaue Schuppen. Im Rot der untergehenden Sonne funkelnd, sahen sie genauso herrlich wie das Gewand eines Königs aus. Da der Karpfen gar groß und prächtig war, beklemmte es dem Mann das Herz, daß er ihn wie einen alltäglichen Fisch gefangen hatte.
»Du bist so groß, du wirst kein gewöhnlicher Fisch sein. Ob du nur ganz zufällig an der Angel hängenbliebst?« murmelte er vor sich hin und betrachtete den Karpfen genauer. Da bemerkte er, daß die Augen des Karpfens voller Tränen standen und dieser den Mund bewegte, als wolle er dem Fi¬scher zuraunen: »Bitte laßt mich zurück!«
Dem jungen Fischer schienen es genau diese Worte zu sein. Er empfand Mitleid mit dem Karpfen und setzte ihn ins Wasser zurück mit den Worten: »Nun, dann will ich dich wieder freilassen. Doch gib von jetzt an acht. Wenn du an einer Angel hängen bleibst oder in ein Netz gerätst, wirst du sterben.«
Der Karpfen schaute sich, indem er wie aus Dankbarkeit mit dem Schwanz winkte, noch einige Male nach dem jungen Fischersmann um und verschwand in die Tiefe des Meeres.
Als sich der Fischer am darauffolgenden Tag wieder anschickte, an jener Flußmündung zu angeln, spritzte das Wasser des Flusses plötzlich hoch auf, und ein schöner Junge, der ein blaues, wasserfarbenes Kleid trug, ergriff die Angel und trat aus den Fluten ans Ufer.
Der junge Fischer erschrak so heftig, daß er die Angel von sich warf und rücklings zu Boden stürzte.
»We..., we..., wer in aller Welt bist du?« fragte er stotternd. Der Junge in dem blaugrünen Kleide erwiderte sehr höflich und mit einer tiefen Verbeugung: »Ich bin der Bote des Drachenkönigs, des Gebieters über das Wasser. Habt Dank, daß Ihr seine jüngste Prinzessin lebendig zurück¬schicktet. Da der Drachenkönig den Wunsch äußerte, Euch einmal zu sehen, erweist ihm diesen Gefallen und begleitet mich zum Drachenpalast.«
Hierauf wandte er sich dem Wasser zu und murmelte etwas vor sich hin. Da teilte es sich zum Erstaunen des Mannes, und ein breiter, geräumiger Gang tat sich vor ihnen auf, in den der Fischer dem Meeresjungen folgte.
Der Gang führte zunächst am Bett des Flusses dahin und setzte sich ins Meer fort. An den Wasserwänden zu beiden Seiten und der Decke schwammen zahllose Fische, die alle den jungen Fischer willkommen hießen. Felsen und viele Arten von Wasserpflanzen bildeten eine zauberhafte Landschaft.
Nachdem sie eine Weile gegangen waren, zeigte sich wahrhaftig ein herrlicher, in Regenbogenfarben schillernder Palast. Der blaugrün gekleidete Knabe geleitete den jungen Fischer vor den Drachenkönig. Sobald dieser ihn gesehen hatte, kam er ihm, ohne an die Zeremonie zu denken, zwanglos auf Strümpfen entgegen und begrüßte ihn herzlich.
»Einen weiten Weg hattet Ihr auf Euch genommen. Ihr seid der Wohltäter, der unserer Tochter das Leben geschenkt hat.« Und mit den Worten: »Ach bitte, kommt herauf und setzt Euch«, wies der Drachenkönig ihm den Platz neben sich. Er gab ein herrliches Fest und bewirtete den Gast drei Tage und drei Nächte.
Der junge Fischer lebte in aller Pracht und Herrlichkeit, denn noch nie hatte er so auserwählte Speisen zu sich genommen und so kostbare Gewänder angelegt. Er erfreute sich der Musik und des Tanzes. Glückselig verbrachte er die drei Tage. Am vierten richtete der Drachenkönig folgende Worte an ihn: »Ihr seid ein herzensguter, bescheidener und anständiger Mann. Auch seid Ihr von großer Ehrfurcht, Rücksichtnahme und Anhänglichkeit gegenüber Eurer Mutter erfüllt und habt meine Tochter am Leben erhalten. Nehmt sie zur Frau.«
Also lebte der junge Mann mit der Drachenprinzessin herrlich und in Freuden zusammen. Darüber vergaß er sogar heimzukehren. Unversehens waren drei Monate verstrichen. Dann entsann er sich seiner zu Hause wartenden Mutter. >Sie weiß nichts davon, daß es mir hier so gut geht. Welche Sorgen wird sie sich um mich machen? Auch die Vorräte dürften aufgezehrt sein. Wie mag es ihr jetzt ergehen?<
Der junge Fischer ängstigte sich um seine alte Mutter. Darum sagte er, daß er einmal seine Heimat besuchen wolle. Der Drachenkönig, die Königin und die Prinzessin gaben ihm für seine Mutter viele Geschenke mit. Und die Prinzes¬sin sprach, indem sie ihren Gemahl zum Portal führte: »Auf Wiedersehen. Komme wohlbehalten wieder. Bitte, kehre bald zurück.« Mehrmals wiederholte sie dies.
Draußen vor dem Palast war das Meer. Die Prinzessin zog ein Kästchen hervor und berührte es mit den Worten: »Wasserweg, öffne dich!«
Sofort zeigte sich wie ehedem die Öffnung in einen Wassergang. Die Prinzessin überreichte ihm das Kästchen und teilte ihm dabei mit: »Wenn du wiederkommst, dann sprich zu dem Kästchen indem du es berührst: >Wasserweg, öffne dich!< Hierauf wird wie jetzt ein Weg entstehen. Doch hüte dich unbedingt davor, es zu öffnen und hineinzusehen. Hebst du den Deckel ab, so kannst du es nie mehr gebrauchen.«
»Mache dir keine Sorgen. Wie du, Prinzessin, mir sagtest, werde ich tun.« So sprach er und trat aus dem Drachenpalast.
Nachdem der junge Fischer den Weg zurückgelegt hatte, erreichte er seine Hütte. Freudig war das Wiedersehen mit seiner alten Mutter. Mit den Schätzen aus dem Drachenpalast bauten sie sich ein schönes Haus und lebten nun unbeschwert und glücklich.
Aber der Fischer wurde von quälender Unrast erfüllt, denn er wollte wissen, was in dem Kästchen steckte. Doch gab es keine Möglichkeit, hineinzuschauen, weil ja die Prinzessin davor gewarnt hatte. >Was wird darin sein, daß sie verbot, es zu öffnen? Welcher Grund liegt dafür vor?< dachte er und wurde noch unruhiger.
>Soll ich ganz heimlich, nur einen winzigen Augenblick, hineinspähen?<
Das Kästchen war nicht größer als eine Bohne. Der junge Fischer hatte es ganz hinten im Wandschrank verstaut. Dennoch plagte ihn die Neugierde. >Die Prinzessin hatte ge¬sagt, daß sich das Meer öffne, wenn man dies zierliche Käst¬chen berühre und dazu ‘Wasserweg, öffne dich!’ spräche. Wie in aller Welt, wird ein Ding, das so etwas kann, gemacht sein?<
Je mehr er darüber grübelte, desto mächtiger wurde sein Verlangen, es aufzumachen, Eines Tages faßte er für sich den Entschluß: >Morgen laß uns in den Drachenpalast zurückkehren! Bis heute warst du sehr standhaft. Drum wird wohl nichts einzuwenden sein, wenn ich nur einen flüchtigen Blick hineinwerfe.< Verstohlen hob er das Deckelchen ab. Aber das Kästchen war leer. Lediglich so etwas wie ein blauer Rauch kam heraus und stieg zum Himmel.
>Merkwürdig, das war ja nichts Besonderes.<
Als er in dumpfen Gedanken dasaß, fing leise der Kummer an ihm zu nagen. Die Prinzessin, die er im Drachenpalast zurückgelassen hatte, fiel ihm wieder ein, und ihre Stimme, die >Bitte, kehre bald zurück< gesprochen hatte, klang in seinen Ohren. Auch gedachte er der Worte >Schaue nicht in das Kästchen hinein<. Schreckliche Angst packte den jungen Fischer. Von innerer Unruhe gehetzt, verabschiedete er sich von seiner Mutter und stürzte Hals über Kopf zum Flußufer. >Nun habe ich das Kästchen geöffnet, ob es nicht weiter schlimm ist?< Wegen der Befürchtungen, die ihn so fragen ließen, zitterten ihm die Beine. Am Flußufer angekommen, strich er mit zitternder Hand über das Kästchen. »Wasserweg, öffne dich!« brachte er zagend hervor. Doch ein Weg, der zum Drachenpalast führte, kam nicht zum Vorschein.
»Ach, weil ich das Kästchen auftat, ist es jetzt ein nutzloses Ding geworden!«
Zu dieser Einsicht gelangt, gab es ihm einen heftigen, tiefen Stich ins Herz. Vor dem inneren Auge des jungen Fischers tauchten die Gestalt der anmutigen Prinzessin und der prächtige Drachenpalast auf. >Bitte, kehre bald zurück.< - In seinen Ohren war ihm ganz so, als ertönte die Stimme der liebreizenden Prinzessin, die sich von ihm nicht hatte trennen wollen.
»Oh! Ich habe eine Torheit begangen! Warum hörte ich nicht auf die Prinzessin und habe hineingeschaut!«
Der junge Fischer stampfte mit dem Fuß auf den Boden und wehklagte. Er stellte sich die Drachenprinzessin vor, die er nun nicht mehr wiedersehen konnte. Zwar bereute er seine Tat zutiefst, doch es war zu spät.
»Wasserweg, öffne dich!«
»Ihr Wasser des Flusses, tut euch auf!«
Er hielt das nutzlose Kästchen in der Hand und rief, am Flußufer umherirrend, die Worte ohne Unterlaß.