Die Kantaten Johann Sebastian Bachs zum Sonntag Jubilate by Axel Bergstedt - HTML preview

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Einleitung: Unter welchen Umständen sind die Kantaten entstanden ?

Zum Sonntag Jubilate, dem dritten Sonntag nach Ostern, schrieb Johann Sebastian Bach drei Kantaten. Für die Komposition derselben lagen entweder direkte Kompositionsaufträge seitens der Kirchenherren vor, die ausdrücklich eine neue Komposition wünschten, oder zumindest lag in der damaligen Zeit immer eine Erwartung vor, dass der Kirchenmusiker nebst Werken anderer Komponisten von Zeit zu Zeit auch eigene, frisch komponierte Werke zu Gehör brächte. Es war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unbedingt üblich, dass an allen größeren Kirchen und fürstlichen Höfen die Musik aktuell komponiert wurde. Der Komponist fühlte sich dabei nach heutiger Auffassung viel stärker als Handwerker als der auf die rechte Intuition wartende Künstler der nachbarocken Zeit und konnte die Stücke an die vorhandenen Besetzungsmöglichkeiten immer aktuell anpassen.

Um die Kompositionen richtig einzuordnen und zu verstehen, stellen wir die Frage nach den Vorgaben, wir untersuchen diese in ihrem Einfluss auf die Musik, wir beleuchten die Zeitumstände und die persönliche Situation des Komponisten.

Danach können wir die Kantaten vergleichend analysieren. Anschließend stellt sich die Frage, welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können. Dabei hoffe ich, dass nicht nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in diesen speziellen Kantaten entdeckt werden, sondern dass darüber hinaus allgemeine Erkenntnisse über Bach aus dieser Arbeit erwachsen.

Wenn ein Musiker den Auftrag zu einer Komposition erhält, fragt er zunächst nach den Vorgaben. Die Vorgabe ergibt sich in diesem Falle aus der Tatsache, dass der Sonntag Jubilate wie alle Sonntage in der lutherischen Kirche ein bestimmtes Thema hat, das sich aus den Lesungen ergibt. Die Lesungen, bereits im Mittelalter im Evangeliar bzw. Lektionar zu einem Jahreszyklus gesammelt, heißen Perikopen und sind in das römische Missale¹ eingegangen und von Luther für die evangelische Messe übernommen worden.²

Damit liegt aber nicht nur die Ordnung der Lesungen fest, sondern auch das Thema der Predigt, denn in der lutherischen Kirche herrschte damals an den Sonn- und Festtagen Perikopenzwang³, der allerdings durch die Prediger des Pietismus bekämpft wurde.

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¹Missale Romanum, Editio Vaticana

² Näheres hierzu in Gottrom: Handbuch der Liturik - Die Liturgischen Bücher

³ Leiturgia, Bd. III, S 292

In der Regel wurde - wie noch heute in der katholischen Kirche - über das Evangelium gepredigt, wobei zumindest gemäß der beigefügten handschriftlichen Notiz aus den frühen zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts die zu komponierende Kantate zwischen Evangelium und Predigt gestanden hat. Dadurch, dass sie das Bindeglied ist, muss sie die Botschaft des Evangeliums bereits vor der eigentlichen Predigt beleuchten und wiederspiegeln. Gelegentlich findet man auch die Auffassung, die Kantate sei damals geteilt worden und hätte die Predigt umrahmt. Auch wenn manche Kantaten wie "Herz und Mund und Tat und Leben" BWV 147 tatsächlich zweigeteilt sind, möchte ich diese u.a. im Vorwort zur Eulenburg-Taschenpartitur vorgetragene These für nicht zweigeteilte Kantaten stark anzweifeln.

Zunächst liegt die in Abbildung gezeigte Handschrift einer Gottesdienstordnung aus Leipzig wie bereits oben erwähnt vor:

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Zweitens war die Predigt sehr lang und wurde nicht nur mit einem Lied, hier dem gesungenen Glaubensbekenntnis, eröffnet, sondern bestand aus einem praeambulum (exordium), das über einen eigens gewählten Text oder kurzen Spruch gehalten wurde und zu einer Art Vorpredigt auswuchs, sowie der explicatio, applicatio und conclusio.¹ Zwischen Exordium und der eigentlichen Predigt soll aber bisweilen sogar noch ein Lied davon

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¹ ebenda, S. 288 ff und S. 297

Lied gesungen worden sein, und das führt Friedrich Smend auch für Leipzig an.¹ Insgesamt dauerte die Predigt mindestens eine Stunde.

So wäre die Kantate sowohl zeitlich als auch inhaltlich sehr zerrissen gewesen. Unsere kurzlebige Zeit empfindet es oft als wohltuend, wenn eine Kantate nicht 15 bis 30 Minuten im Stück erklingt, sondern durch eine Predigt (von vielleicht 10 bis 20 Minuten) unterbrochen wird. Dieser Gesichtspunkt gilt jedoch überhaupt nicht für die Barockzeit.

Der in dem Vorwort der Eulenburg-Partitur feinsinnig angeführte Verdacht, der Prediger würde seine Predigt mit dem Aufruf "So folget Christo nach" beschließen, kann nach unseren Kenntnissen von der Predigtweise der damaligen Zeit auch nicht unbedingt angenommen werden. Gerade der Perikopenzwang und die Predigt Jahr für Jahr nur über den Evangeliumstext ließen die Prediger nach Abwechslung suchen. Während die Pietisten sich gegen den Perikopenzwang aussprachen², suchten die Orthodoxen durch kunstvolle Hilfsgriffe für Abwechslung zu sorgen. So standen neben dem Predigttext oft andere Anekdoten und Sprüche, die aus heutiger Sicht nur mit Spitzfindigkeit in Verbindung mit dem eigentlichen Thema gebracht werden können.³

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¹ Friedrich Smend, Joh. Seb. Bach Kirchenkantaten Bd. I, S.9

² In wieweit sich die Pietisten allerdings in der Praxis auch tatsächlich von dem Perikopenzwang abzuweichen trauten, ist die Frage.

³ Gerade diese Spitzfindigkeit galt als Gelehrsamkeit. Während zum Beispiel ein Lehrwerk für den Trinitatissonntag eine Predigt über den Spruch bringt "Alle guten Dinge sind drei " , ist es