Grundlagen der Komposition
Die Kirchenmusik als Zwillingsschwester der Predigt spielte in der evangelisch- lutherischen Kirche von Anfang an eine bedeutende Rolle, die auf Luther selbst zurück geht. Luther äußert sich nicht nur theoretisch in seinen Schriften in diesem Sinne¹, sondern war bekanntlich sowohl aktiver Musiker, der im Familienkreis musizierte, als auch Komponist und Arrangeur vieler Kirchenlieder². Diese befinden sich zum Teil bis heute in Gesangbüchern der lutherischen, aber auch vieler anderer Kirchen, einschließlich sogar der katholischen Kirche.
So hat die Musik seitdem nicht nur ihren Platz in der Liturgie der lutherischen Kirche, sondern hat in ihr auch die Aufgabe der Verkündigung. Dabei wird der Komponist mit Fortschreiten der kompositorischen Mittel auch zum Ausleger der Textes, indem er einzelne Worte hervorhebt, Verbindungen schafft und Freude, Leid oder andere, meist Empfindungen auslösende Begriffe musikalisch ausdrückt und damit die Bedeutung des Wortes unterstreicht oder in einer bestimmten Weise beeinflusst.
Im Laufe der Zeit entwickeln sich Affekte; musikalische "Symbole" oder "Figuren", die bestimmte grammatikalische oder rhetorische Sachverhalte als Sinnfiguren ausdrücken.³ Somit ist dem Komponisten im Barock die Möglichkeit anhand gegeben, viele Worte in die Musiksprache auf die eine oder andere Art und Weise zu übersetzen. ____________________________________________________________
¹ Vergl. Hierzu unter anderem "Tischreden D. Mart. Luthers", Kap. LXIX, "Von der Musica": u.a. "Musica ist eine schöne herrliche Gabe Gottes und nahe der Theologiae" und "Theologia,der Musica den nehesten Locum und höchste Ehre. Und man siehet, wie David und alle Heilgen ire Gottselige gedancken in Verß, Reim, und Gesang gebracht haben, Quia pacis tempore regnat Musica." (Gedruckt bei Urban Gaubisch, Eisleben, 1566. 8.577 ff.) Außerdem ist von Luther mindestens auch ein mehrstimmiges Chorwerk überliefert.
² Freie Kompositionen sind u.a. "Ein feste Burg ist unser Gott", "Jesaja dem Propheten das geschah" sowie die Litanei von 1528 (Kyrie eleison)
³Vergl. zur grundsätzlichen Unterscheidung der Figuren u.a Arnold Schering: Bach und das Symbol. Bach Jahrbuch 1928, S. 122 ff.
Damit wird der Komponist zum Interpreten, der den Text ähnlich wie ein Prediger auslegt. Dieses Auslegen geschieht mittels dieser Affekte, Symbole oder Figuren und nicht in der Art klassischer oder romantischer Tonmalerei, ist aber eine Sprache, die dem damaligen Hörer wie dem verständigen heutigen Hörer die theologischen Aussagen des Komponisten deutlich erschließt. ¹
Einen weiteren Schritt von der Musik als bloßem Medium zum Verkündigen eines Textes zur Interpretation desselbigen beobachten wir in Bachs Werken schon alleine dadurch, dass der Text selbst Interpretation wird. Wurden vor Bach hauptsächlich Texte der Liturgie und der Bibel sowie Choräle, die meistens bereits bekannt waren, vertont, so entstehen beeinflusst durch den frühen Pietismus religiöse Texte in freier Dichtung, die - oft angeführt durch ein Bibelwort - von den Komponisten des späten 17. Jahrhunderts gerne zu Kompositionen aufgegriffen wurden. So entstehen Kantaten wie Buxtehudes "Das neugeborne Kindelein", aber auch im Grunde "Wie soll ich dich empfangen" , das Buxtehude als freie Strophendichtung von Paul Gerhard bearbeitet oder "Lobet Christen euren Heiland" ("Lauda sion"), das Buxtehude ebenfalls wie eine neue Dichtung ohne Berücksichtigung der Melodie der traditionellen Sequenz behandelt.
War schon die stärkere Zuwendung von Vertonungen des Ordinarium missae² hin zum Proprium ein Schritt zur stärkeren Betonung der Exegese in der Musik, da das Proprium durch seine wechselnden, dem jeweiligen Fest angepassten Texte selbst schon auslegenden
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¹ Vergl. zum Unterschied zwischen barocken Affekten und späterer Programmmusik auch Schering in ebenda, S. 129 f. Ferner Albert Schweitzer: Vorwort zu "Auswahl der besten Klavierwerke" (Bachs), Ed. Wien 1929 (Hrsg. H. Neumayr)
² Ordinarium Missae: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus (incl. Benedictus) und Agnus Dei, die alten traditionellen Bestandteile der Messe, die sich jedes Mal Wort für Wort wiederholen. Im Gegensatz hierzu Proprium Missae, Bestandteile der Messe, die von Tag zu Tag (bzw. heutzutage in den meisten Kirchen von Sonntag zu Sonntag) wechseln wie z.B. die Lesungen. Im Mittelalter bezeichnete man als Proprium missae analog zum Ordinarium folgende fünf Teile: Introitus, Graduale, Alleluia, Offertorium, Communio.)
Besonders diese genannten Teile haben auslegenden Charakter, da sie ja nicht der Bibel entnommen sind, sondern als Lieder oder Gebete erst später in Hinblick auf das Thema geschrieben oder zugeordnet worden waren.
auslegenden Charakter hat, so bildet die Einführung freier, auslegender Texte den vorläufigen Höhepunkt der Entwicklung.
Das beginnende 18.Jahrhundert begegnet mit einer eigenen Form von geistlicher Poetik, die zur Textgrundlage der Kirchenkantaten wird. Diese ist oft ausdrücklich für den Zweck der Vertonung zu gottesdienstlichen Kantaten gedacht. Sie hat sich aus verschiedenen Traditionen gebildet, insbesondere aus dem Madrigal und der italienischen Kammerkantate¹, in der bereits Rezitative und Arien vorlagen.
Wegweisend für die Entwicklung der Kantatentexte, die Bach später verarbeitete, wurde der Theologe Erdmann Neumeister, der als Pastor von