Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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DAS DRACHENSPIEL

 

Der Sommer des Jahres Musin[152] war außergewöhnlich naß. Die Regenzeit hatte Monate gedauert; die Flüsse waren angeschwollen und jeder Verkehr stockte. Auf einer kleinen Insel des Hong-Flusses wohnte in einem armseligen Hause eine brave Familie. Die Mutter der drei Kinder war sterbenskrank und kein Arzt konnte kommen, keine Arznei war zu erreichen. Die Mutter glaubte schon sterben zu müssen; die einzige Sorge war die Zukunft ihrer Kinder.

Der älteste Sohn war erst zwölf Jahre alt, aber er war vernünftig genug, an der Krankheit der Mutter den tiefsten Anteil zu nehmen. Schwere Sorgen legten sich bereits auf das kindliche Herz, und unruhig verbrachte Kapsongi die Nächte.

Als endlich doch der Schlaf seine müden Augen geschlossen hatte, träumte der Kleine allerhand Schreckliches: bald sah er die Fluten des Roten Flusses (Hong-kang) sich dahin wälzen, bald saß er am Boden neben dem Lager seiner innigstgeliebten kranken Mutter. Plötzlich erblickte er hoch in den Lüften einen weißen Habicht, der seine Kreise über den Fluten des schmutzigen Flusses zog. Scharf blickte der Knabe hinauf und sah, wie der Habicht langsam über den Fluß flog und drüben sich zu den Häusern niedersenkte, dann aber sich wieder in die Lüfte hob und herüberkam und sich auf dem Dache seiner Hütte niederließ. Goldene Helle flimmerte ihm plötzlich vor den Augen, er wußte nicht, wie ihm geschah und er erwachte.

Verwundert schaute er sich um; was war denn geschehen? Im Nebenzimmer stöhnte die kranke Mutter und draußen rauschten die Wasser. Wie ein Blitz durchfuhr ihn ein Gedanke, der ihn mit jäher Gewalt packte. Mit einem Schlage waren seine Sorgen wie verschwunden.

Kaum tönte der erste Hahnenschrei, so erhob er sich, wusch sich am Bache und ging dann ans Werk. Er spaltete ein kleines Bambusrohr, schabte es mit einem alten zerbrochenen Porzellanstück dünn und glatt, schnitt Papier zurecht — und bald war ein richtiger Papierdrachen fertig. Nur einige Minuten gönnte er sich zum Frühstück, dann zog er mit seinem Drachen hinaus an den Fluß. Dort befestigte er an ihm einen zusammengerollten Zettel, auf den er mit kindlicher Hand die Worte geschrieben hatte: »Meine Mutter ist sehr schwer krank, schickt uns mit dem Drachen Arznei!«

Jetzt ließ er seinen Papierdrachen steigen und steuerte ihn über den Fluß. Drüben senkte er sich langsam. Die Dorfbewohner hatten den weißen Vogel wohl bemerkt und ahnten, daß es sich um eine Botschaft handeln müsse. Sie fanden den Zettel, falteten ihn auseinander, lasen und berieten sich. Damit der Fluß den Drachen nicht forttrug, schnitten sie ihn ab und Kapsongi konnte die Schur hinüberziehen.

Man kannte im Dorfe die Krankheit der Frau und es war nicht allzu schwer, die richtige Arznei herzustellen. Dann rief man einen sehr geschickten Drachenspieler, Yang Wonp’il, befestigte die Arznei am Drachen, und Yang ließ ihn wieder über den Fluß zurückfliegen. Wie groß war die Freude des Knaben, als er seiner Mutter das Päckchen mit der kostbaren Ginseng-Arznei übergeben konnte!

Noch einige Male flog der Papierdrache hinüber und herüber, und das ganze Dorf beteiligte sich daran. Die Medizin half und die Mutter wurde wieder gesund.

Herr Pak hatte seine Erzählung beendet, und freudig bewegt brachte der Kamerad seinen Beifall über das kluge Verhalten des Knaben zum Ausdruck. »Ich bin gewiß kein schlechter Jäger und weiß in vielem Bescheid, aber auf den Gedanken, daß man durch Papierdrachen dem leidenden Mitmenschen helfen könne, wäre ich schwerlich gekommen. So bieten die Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählten, Nachdenkliches und Unterhaltendes. Doch heute müssen wir wieder Schluß machen. Das Feuer ist überdies erloschen!«

Herr Kim stimmte zu, und beide Jäger stiegen die wacklige Leiter hinauf in ihre Baumhütte, holten den Holzklotz hervor und nahmen ihn als Kopfstütze, dann wickelten sie sich in ihre Decken ein und bald verkündete lautes Schnarchen den festen Schlaf.

Als am nächsten Morgen Herr Pak erwachte, fragte er: »Hat mein älterer Bruder heute nacht das angstvolle Brüllen des Tigers vernommen? Horch! jetzt wieder! Ein Tiger scheint in die Falle geraten zu sein!« rief der Jäger und erhob sich schnell. Herr Kim folgte seinem Beispiel; beide nahmen schnell ein Bad, dann eilten sie zur Stelle, wo die mehrere Meter tiefe Grube, verdeckt von losem Buschwerk, einem Tiger tatsächlich zur Falle geworden war. Ein Pfeilschuß ins Auge, ein anderer in die Brust machte ihm ein rasches Ende.

Mühsam wurde die schwere Last aus der Grube gezogen. Die Füße wurden zusammengebunden, und an langer Stange trugen freudig die beiden Jäger ihre wertvolle Beute in ihr Heimatdorf.