Unter dem Odong-baum, Koreanische Sagen und Märchen by Tr.​Andrea Eckardt - HTML preview

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TANGUN ALS GRÜNDER VON TSCHOSON

 

Hoang-ung, der Sohn des Himmelskaisers Hoang-in, wurde von unendlicher Langweile geplagt und erhielt die Erlaubnis, zur Erde herabzusteigen und ein irdisches Königreich zu gründen. Ausgerüstet mit göttlicher Vollmacht, erschien er mit dreitausend himmlischen Geistern auf dem Täbäksan[9], dem heutigen Myohyang-san in der Provinz P’yongan-Süd. Es war das fünfundzwanzigste Jahr des (legendären) Kaisers Yao von China[10].

Im Schatten eines alten Paktal[11]-Baumes versammelte er seine Genossen und rief sich selbst als König des Weltalls aus. Er regierte mit Hilfe seiner drei Statthalter, dem »Windgeneral«, dem »Regenverwalter« und dem »Wolkenlehrer«, aber da er noch keine menschliche Gestalt angenommen hatte, fand er es schwierig, die Aufsicht über ein rein menschliches Königreich auszuüben. Auf der Suche nach einem Weg zur Menschwerdung kam ihm eine Begebenheit zu Hilfe.

An einem frühen Morgen trafen sich ein Tiger und ein Bär auf dem Berge und unterhielten sich. »Könnten wir doch Mensch werden!« sagten sie zueinander.

Hoang-ung hörte dies und antwortete mit hohler Stimme, wie von weit her: »Hier sind zwanzig Knoblauchzwiebeln und Wermut für jeden von euch. Eßt dies, und zieht euch für dreimal sieben Tage vom Licht der Sonne zurück — und ihr werdet Menschen!«

Beide aßen nach diesem göttlichen Rat die Pflanzen und verkrochen sich in eine Höhle. Doch der Tiger konnte es infolge der Lebhaftigkeit seiner Natur nicht so lange aushalten und kam vor der festgesetzten Zeit wieder ans Tageslicht, während der Bär, mit mehr Geduld und Standhaftigkeit ausgestattet, die dreimal sieben Tage abwartete und dann als vollkommene Frau aus der Höhle heraustrat.

Ihr erster Herzenswunsch war, Mutter zu werden, und laut schrie sie: »Gib mir einen Sohn! Gib mir einen Sohn!«

Hoang-ung, der Geisterkönig, begab sich auf Windesflügeln zu ihr, blickte sie an, da sie am Ufer eines Flusses saß, umkreiste sie und überströmte sie mit kraftvollem Hauche. So ward ihr Flehen erhört und sie gebar einen Sohn. Die Mutter legte dieses ihr Kind, in Moos gewickelt, unter den gleichen Sandelbaum, unter dem Hoang-ung einst seine Genossen versammelt hatte, und hier war es auch, wo viele Jahre später das damals noch unkultivierte Volk jenes Landes ihn sitzend fand und ihn zu seinem Könige ausrief. Sein Name aber war Tan-kun, [12] »Fürst des Sandelbaumes«.

Wieder nahm Im Tschangsu, nachdem der Sänger seine Sage beendet hatte, den Faden der Erzählung auf und berichtete von dem Tangun-Altar, der auf der Spitze des Mari-san auf der Insel Kang-hoa[13], errichtet ist, sowie von einer Höhle auf dem Myogosan, die heute noch den Namen Tangun-kul[14] führt. Der Myogosan gilt darum heute noch als einer der fünf heiligen Berge Koreas. »Daß der Bär und der Tiger in dieser Sage eine besondere Rolle spielten, hängt«, so fuhr Im Tschangsu fort, »von dem häufigen Auftreten dieser Raubtiere im Norden unseres Tschoson-Reiches ab. — Tschoson ist der alte Name unserer Heimat. Wir schreiben das Wort mit chinesischen Zeichen und nennen es ,Land der Morgenfrische‘. In Wirklichkeit ist es ein altes Wort unserer Sprache und heißt ,schön‘, denn unser Tschoson ist wirklich ein schönes Land . . . Aber nun, P’ansu, erzählen Sie weiter!«

Der blinde Sänger nahm wieder die Flöte zur Hand und blies einige Takte, wie um sich in das Reich der Phantasie zu versetzen, dann legte er die Bambusflöte beiseite und erzählte