WIE MUHAGI DEN PLATZ
DER NEUEN HAUPTSTADT SUCHTE
Eines war sicher: die neue Hauptstadt, die König T’ädscho[15] gründen wollte, sollte »Hanyang«[16] heißen. Kaum war der Einsiedler Muhagi, den der König hatte rufen lassen, vor diesem erschienen, so befahl ihm der König, einen geeigneten Platz für die Hauptstadt zu suchen. Der Einsiedler ging hierhin und dorthin, betrachtete die Gegend und die Verkehrsverhältnisse. Eines Tages gelangte er an den Ort, der heute Wangsimni heißt. Als er sich genauer umblickte, war er entzückt von der Gegend: vor ihm rauschten die Wasser des breiten Han-kang, der im berühmten Kumkang-san[17] in der Provinz Kangwon seinen Ursprung hat. Zur Linken erblickte er die Waldungen des Namsan[18], und als Muhagi sich umwandte, sah er die drei Spitzen des Samgaksan und den Inwangsan, der in herrlicher Gestaltung wie von selbst das Bild eines Königs zeigte und mit seinen schroffen Gipfeln den Rundblick abschloß. Der Einsiedler war über die schöne Lage hoch erfreut und dachte bei sich: ,Das ist fürwahr ein Platz, würdig, die Hauptstadt des Königs zu werden.‘ Er setzte sich an den Wegrain, um etwas auszuruhen.
Es dauerte nicht lange und ein ehrwürdiger Alter kam an dieser Stelle vorbei; er trieb einen Ochsen vor sich her. Das Tier wollte nicht recht voran und der Alte schimpfte mit den merkwürdigen Worten: »Geh weiter, du Ochse! Du bist wirklich gerade so dumm wie Muhagi!«
Muhagi, der daneben saß, wurde aufmerksam und dachte bei sich: ,Wie kann denn dieser Alte, der mich noch nie gesehen hat und dem ich noch nie begegnet bin, meine geheimen Gedanken kennen? Vielleicht ist es ein Geist in Menschengestalt, durch den mir der Himmel den rechten Weg zeigen will!‘
Also stand Muhagi auf, eilte dem Viehtreiber nach, hielt ihn an, grüßte zuvorkommend und sprach: »Sie haben mich noch kein einziges Mal gesehen und kennen mich doch: gewiß kennen Sie auch die in meinem Herzen verborgenen Dinge! Reden Sie offen!«
Der Alte antwortete und sprach: »Du bist vom König ausgesandt, einen geeigneten Platz für die Hauptstadt zu suchen; aber hier ist nicht der richtige Ort. Gehe noch zehn Li[19] weiter gegen Nordosten, dort wirst du finden, was du suchst und was der König sich wünscht!« Nach diesen Worten waren er und der Ochse spurlos verschwunden.
Muhagi ging in der angegebenen Richtung eine Stunde weiter und befand sich wirklich in einem Talkessel, der für eine Hauptstadt vorzüglich geeignet war. Sogleich meldete er dies seinem Herrn, und der König gab den Befehl, sofort eine zehn Meter hohe Mauer rings um das Gebiet zu errichten.
Nun waren die hundert Ober- und tausend Unterbeamten in großer Sorge, denn sie wußten nicht, wie und wo sie diese Riesenmauer erbauen sollten. Doch in ihrer Not kam ihnen der Himmel zu Hilfe. Als man an einem klaren Morgen hinaustrat, lag rings in dem Kessel bis hinauf zu einigen Bergspitzen weißer Schnee wie eine Mauer. Man erkannte das als den Willen des Himmels und begann sogleich mit dem Bau der Stadtmauer, die einen Umfang von vierzig Li[20] bekam. Sodann wurden die Königspaläste in Angriff genommen, und der Ruhm der Stadt verbreitete sich nicht allein durch das ganze Land, sondern darüber hinaus bis an die Grenzen der Meere. Mit Rücksicht aber auf die merkwürdige Erscheinung der Schneemauer wurde damals schon der Name Hanyang in »Kyongsong«[21] geändert, und so heißt die Stadt bis heute.
Der Sänger hatte geendet und ließ sich die Pfeife reichen, die ihm der Hauswirt mittlerweile gestopft und angeraucht hatte. Sodann ergriff Im Tschangsu selbst das Wort und sagte erklärend: »Fürwahr, die Lage unserer Hauptstadt mit ihren Palästen und Regierungsgebäuden, den vier gewaltigen Toren und der Stadtmauer, die über Felsen hinweg bis zu den höchsten Gipfeln des Inwangsan geführt wird, ist einzigartig. In der Mitte der Stadt an der Kreuzung der Hauptstraßen[22] steht die große[23] Glocke; sie wurde früher abends angeschlagen, dann wurden die schweren Stadttore geschlossen und die Männer mußten in ihre Häuser gehen; die Frauen aber, die tagsüber zu Hause bleiben mußten und sich nicht sehen lassen durften, konnten nun für einige Stunden ausgehen und mit ihren Verwandten und Bekannten plaudern. Heute ist diese Sitte in Vergessenheit geraten.«
Meister Im schwieg; die Frauen aber, die in den Nebenräumen auf ihren Matten saßen und gelauscht hatten, kicherten und lachten, denn sie freuten sich, daß sie nicht mehr so abgeschlossen leben mußten wie die Frauen früherer Zeiten.
Nun legte der P’ansu seine Pfeife wieder beiseite, nahm die Flöte zur Hand, intonierte einige Takte, dann sang er das Lied