Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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VII.

Eines Tages — es war in der Weihnachtswoche — kam Gram in eine Trattoria, wo auch Jenny und Heggen saßen. Sie sahen ihn jedoch nicht, und während er seinen Mantel an den Nagel hängte, hörte er Heggen sagen:

„Er ist weiß Gott ein gefährlicher Bursche.“

„Ja, abscheulich,“ seufzte Jenny.

„Und dann verträgt sie das nicht, Teufel auch! In diesem scirocco — morgen ist sie natürlich wieder ganz entkräftet. Ans Arbeiten denkt sie wohl auch nicht und treibt sich nur mit diesem Kerl herum.“

„Nein, arbeiten? Aber ich kann doch nichts dazu tun. Sie marschiert gern von hier nach Viterbo mit ihm, in ihren kleinen, dünnen Lackschuhen trotz scirocco und allem, nur weil der Mensch ihr von Hans Herrmann erzählen kann.“

Gram grüßte im Vorübergehen. Jenny und Heggen machten eine Bewegung, als erwarteten sie, daß er sich zu ihnen setzen sollte. Er tat jedoch, als sähe er nichts und ließ sich weiter oben im Lokal an einem Tisch nieder, den Rücken ihnen zugekehrt.

Er verstand, daß sie von Franziska sprachen.

Beinahe täglich ging er hinauf zur Via Vantaggio. Er konnte es nicht unterlassen. Jetzt saß Jenny fast immer allein zu Hause und nähte oder las. Es schien, als freute sie sich, wenn er kam. Im übrigen fand er, daß sie sich in letzter Zeit ein wenig verändert hatte. Sie war nicht mehr so keck und sicher in ihren Aeußerungen, nicht mehr so aufgelegt zum Diskutieren und Dozieren. Sie schien traurig. Eines Tages fragte er, ob sie sich nicht wohl fühle.

„Wohl — oh doch. Wieso?“

„Ich weiß nicht recht — ich finde, Sie sind so still geworden, Fräulein Winge.“

Sie hatte eben die Lampe angezündet, so daß er sehen konnte, daß sie errötete.

„Ich werde vielleicht bald nach Hause reisen müssen. Meine Schwester hat Lungenspitzenkatarrh bekommen, und Mama ist so unglücklich.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Und da bin ich freilich etwas betrübt. Wo ich doch so gern hier bleiben wollte — jedenfalls den Frühling hindurch.“

Sie nahm ihr Nähzeug zur Hand und begann zu arbeiten.

Helge grübelte darüber nach, ob Gunnar Heggen der Anlaß sei — er war sich niemals darüber klar geworden, ob zwischen den beiden etwas spielte. Zurzeit war Heggen, der, wie Helge gehört hatte, ein ziemlich leicht entzündbares Herz haben sollte, für eine junge dänische Krankenschwester entflammt, die sich als Pflegerin einer alten Dame in Rom aufhielt. — Jennys Erröten fand er so merkwürdig, es war ihm so neu an ihr.

An diesem Abend kam Franziska heim, ehe er ging. Er hatte sie seit Weihnachten wenig zu Gesicht bekommen und er wußte nun, daß er ihr vollkommen gleichgültig war. Von Launen oder kindischer Ungezogenheit konnte keine Rede mehr sein. Es war, als sähe sie andere Menschen nicht mehr — irgend etwas erfüllte sie vollständig. Mitunter ging sie umher wie eine Nachtwandlerin.

Er fuhr dennoch fort, Jenny aufzusuchen, entweder in der Trattoria, wo sie zu speisen pflegte, oder daheim auf ihrem Zimmer. Er wußte selber kaum, warum er es tat. Es war ihm aber, als verlange ihn danach, sie zu sehen.

An einem Nachmittag ging Jenny in Franziskas Zimmer, um nach einer Terpentinflasche zu suchen. Da lag Franziska auf ihrem Bett und erstickte ihr Schluchzen in den Kissen. Sie mußte sich heraufgeschlichen haben, Jenny hatte sie nicht kommen hören.

„Aber liebes Kind — was ist geschehen? Bist du krank?“

„Nein, geh nur, Jenny — liebe Jenny, geh. Nein, ich kann es dir nicht sagen; du sagst ja doch nur, es sei meine eigene Schuld.“

Jenny sah ein, daß es ihr nichts nützte, mit ihr zu reden. — Doch am Abend, als sie im Bett lag und las, schlüpfte Franziska plötzlich herein — im Nachthemd. Ihr Gesicht war rotfleckig und geschwollen vom Weinen.

„Darf ich heute Nacht bei dir schlafen, Jenny, ich kann nicht allein sein.“

Jenny machte Platz. Sie schwärmte nicht für diese Sitte, aber Franziska pflegte zu kommen und zu bitten, bei ihr schlafen zu dürfen, wenn sie ganz unglücklich war.

„Nein, lies nur Jenny — ich werde dich nicht stören, ich liege ganz still an der Wand.“

Jenny tat, als lese sie eine Weile. Franziska schluchzte ab und zu trocken auf. Dann fragte Jenny:

„Kann ich das Licht löschen, oder willst du lieber, daß es brennt?“

„Lösch es nur!“

Im Dunkeln schlang sie die Arme um Jenny und erzählte schluchzend.

Sie war mit Hjerrild wieder in der Campagna gewesen. Da hatte er sie dann geküßt. Erst hatte sie nur ein wenig gescholten, da sie geglaubt, es wäre ein Scherz. „Aber dann wurde er verletzend in seiner Zudringlichkeit. Und schließlich wollte er, daß ich heute Nacht mit in sein Hotel gehen sollte. Er sagte es so, als lade er mich in eine Konditorei ein. Da wurde ich rasend, und auch er wurde zornig. Darauf sagte er mir dann einige gemeine, ekelhafte Dinge ins Gesicht.“ Sie lag einen Augenblick still da, im Fieber erschauernd. „Er sagte dann — ja, du kannst dirs wohl denken — etwas von Hans. Hans hatte von mir erzählt, als er Hjerrild mein Bild zeigte, so daß Hjerrild glauben mußte ... Verstehst du es, Jenny,“ sie schmiegte sich dicht an die andere, „ja, ich tue es nicht mehr — ich will mich nicht länger an diesen Schuft hängen — Hans hatte natürlich nicht meinen Namen genannt, weißt du,“ sagte sie nach einer Weile. „Und er konnte selbstverständlich nicht ahnen, daß Hjerrild mir jemals begegnen und mich nach der Photographie wiedererkennen würde, die gemacht wurde, als ich achtzehn Jahre alt war.“

Am siebzehnten Januar hatte Jenny Geburtstag. Sie und Franziska wollten eine Gesellschaft geben, ein Mittagessen draußen in der Campagna, in einer kleinen Osteria an der Via Appianuova. Sie hatten Ahlin, Heggen, Gram und Fräulein Palm, die dänische Krankenschwester, eingeladen.

Sie gingen paarweise von der Straßenbahnhaltestelle die weiße Landstraße hinauf, die im Sonnenschein gebadet dalag. Der Frühling wob in der Luft und die fahle, braune Campagna war von einem graugrünen Schimmer übergossen, all die Tausendschön, die den ganzen Winter über ihr Blühen nicht eingestellt hatten, begannen sich in silberschimmernden Teppichen auszubreiten. Auch die Büschel ungeduldiger lichtgrüner Knospen auf den Hollundersträuchern längs der Gitter waren größer geworden.

Lerchen schwebten zitternd hoch oben in dem blauweißen Himmel. Die Wärme hüllte alles ein — drinnen über der Stadt und über den häßlichen rotgelben Häuserblocks, die über die Ebene verstreut waren, lag der Dunst. Die Felsen der Albaner Berge mit den weißen Städtchen schimmerten hinter den gewaltigen Bogenreihen der Aquaedukte durch den Nebel.

Jenny und Gram schritten voran, er trug ihren hellgrauen Staubmantel. Sie war strahlend schön, in schwarze Seide gekleidet — er hatte sie vorher nie anders gesehen als in dem grauen Kleid oder in Kostüm und Bluse. Aber heute war es ihm, als ginge er mit einer neuen fremden Frau dahin. Die Linie des schlanken Leibes war weich und rund in dem blanken schwarzen Kleide, das oben in einem schmalen tiefen Viereck bis auf die Brust ausgeschnitten war. Die Haut und das Haar hoben sich leuchtend hell dagegen ab. Sie trug auch einen großen schwarzen Hut, mit dem Helge sie früher schon gesehen hatte, ohne jedoch weiter darauf zu achten. Sogar ihr rosa Perlenhalsband sah anders aus zu diesem Gewand.

Man speiste draußen im Sonnenschein unter den nackten Weinranken, die ein feines, bläuliches Schattennetz auf das Tischtuch zeichneten. Fräulein Palm und Heggen hatten den Tisch mit Tausendschön geschmückt; die Makkaroni waren lange fertig, und die anderen hatten warten müssen, bis die beiden mit der Dekoration kamen. Doch das Essen war gut und der Wein vorzüglich, die Früchte hatte Franziska selbst in der Stadt ausgewählt und mit hinausgenommen, ebenso den Kaffee, den sie selbst zubereiten wollte, darauf bestand sie, um sicher zu gehen, daß er auch gut würde.

Nach dem Essen gingen Heggen und Fräulein Palm umher und studierten die Marmorstümpfe — Ueberreste von Reliefs und Inschriften, die auf dem Grundstück gefunden und in die Hauswand eingemauert waren. Kurz darauf verschwanden sie um die Ecke. Ahlin blieb am Tisch in der Sonne sitzen und rauchte mit halbgeschlossenen Augen.

Die Osteria lag am Abhang eines Hügels. Gram und Jenny klommen aufs Geratewohl die Böschung hinauf. Sie pflückte einige von den kleinen wildwachsenden Ringelblumen, die aus dem rotgelben Sand des Abhangs hervorlugten.

„Von diesen gibt es viele auf dem Monte Testaccio. Sind Sie dort einmal gewesen, Gram?“

„Ja, öfter. Ich war vorgestern drüben, um den protestantischen Kirchhof zu sehen. Die Kamelienbäume sind übersät mit Blüten. Und auf dem alten Teile fand ich Anemonen im Gras.“

„Ja, die kommen jetzt hervor.“ Jenny seufzte ein wenig. „Draußen vor der Ponte Molle, irgendwo an der Via Cassia, gibt es eine Menge Anemonen. Ich bekam von Gunnar heute früh blühende Mandelzweige — man hat sie schon an der Spanischen Treppe. Sie sind aber sicher künstlich zum Blühen gebracht worden.“

Sie waren auf der Höhe angelangt und gingen über Feld. Jenny sah zur Erde. Es sproß überall auf dem kurzen, struppigen Grasboden. Rosetten von bunten Distelblättern und irgendwelchen großen silberfarbenen Blättern standen und ließen sichs wohl sein in der Sonne. Jenny und Gram schlenderten auf eine einsame Mauermasse zu, die sich aus niedergestürztem Schutt mitten auf dem Anger erhob, formlos und namenlos.

Fahl, graugrün dehnte sich die Campagna rund um sie her in sanften Wellen unter dem hellen Lenzhimmel mit den trillernden Lerchen. Ihre Grenzen verloren sich im Dunst des Sonnenglanzes. Die Stadt dort hinter ihnen wurde zu einer hellen Luftspiegelung, Felsen und Wolken liefen ineinander, und die gelben Bögen der Aquädukte ragten aus dem Lichtnebel, um nach der Stadt zu wieder zu verschwinden. Die zahllosen Ruinen waren nur noch kleine schimmernde Mauerreste, im Grünen verstreut, während Pinien und Eukalyptusbäume vor den rosenroten und ockergelben Häuschen grenzenlos einsam und düster und verlassen in dem lichten Vorfrühlingstage standen.

„Erinnern Sie sich des ersten Morgens, als ich hier unten war, Fräulein Winge? Ich war enttäuscht und ich meinte, es käme von meiner großen Sehnsucht und meinen heißen Träumen, deren Welt so reich war, daß die Wirklichkeit fade und armselig erscheinen müßte. — Haben Sie einmal an einem Sommertage mit geschlossenen Augen in der Sonne gelegen? Schlägt man sie wieder auf und blickt umher, so erscheinen alle Farben plötzlich grau und erloschen. Die Augen sind geschwächt und daher außerstande, die Mannigfaltigkeit der Farben aufzufangen, die sich ihrem ersten Blick darbietet. Der erste Eindruck ist unvollkommen und kläglich. Verstehen Sie, was ich meine?“

Jenny nickte vor sich hin.

„Aehnlich ging es mir hier im Anfang. Rom überwältigte mich. Da sah ich Sie — groß, licht und fern kreuzten Sie meinen Weg. Franziska beachtete ich nicht sogleich, erst in der Trattoria fiel sie mir auf. Ich kam in Ihren Kreis, zu lauter mir unbekannten Menschen — es war das erste Mal, daß ich mit Fremden zusammen war. Die flüchtigen Begegnungen daheim auf dem Wege zwischen Schule und Haus sind nicht zu rechnen. Mich verwirrte das Neue einen Augenblick, ich glaubte, nie mit Menschen reden zu können. Und da überfielen mich Gedanken an die Heimat. Fast sehnte ich mich nach ihr und nach dem Rom, von dem ich gehört und Bilder gesehen hatte. Sie wissen, mein Vater ...“ er lachte kurz auf. „Ich hatte geglaubt, auf andere Art mich nicht zurechtfinden zu können. Bilder betrachten, die andere gemalt, lesen, was andere geschrieben hatten, die Arbeiten anderer enträtseln und ordnen und mit erdichteten Menschen aus den Büchern leben — darin lag meine Welt und mein Können. In Ihrem Kreis fühlte ich mich so grenzenlos verlassen ... Da hörte ich Sie vom Alleinsein sprechen. Und jetzt verstehe ich Sie. Sehen Sie den Turm da draußen? Dort war ich gestern. Es ist der Ueberrest einer Befestigungsanlage aus dem Mittelalter, der Ritterzeit. Eigentlich ist eine große Anzahl solcher Türme in der Umgebung wie in der Stadt selbst erhalten. Man kann eine in die Fassadenreihe der Straße eingebaute Hauswand fast ohne Fenster finden — das ist so ein kümmerlicher Rest aus dem Rom der Raubritter. Von dieser Zeit weiß man verhältnismäßig am wenigsten. Ich beginne jetzt, mich gerade hierfür am meisten zu interessieren. Ich finde Namen verstorbener Menschen in den Archiven — man kennt von ihnen häufig nicht viel mehr als den Namen. Mich verlangt, mehr über sie zu erfahren. Ich träume von dem Rom des Mittelalters — als sie in den Straßen kämpften und aus heißen, roten Kehlen bluteten, als die Stadt voller Raubburgen war — auf denen sie eingesperrt waren, ihre Frauen, Töchter dieser wilden Tiere, ihres Stammes und Blutes — und es geschah, daß auch sie ausbrachen und ins Leben hinausstürzten, das um die schwarzroten Mauern lockte. Herrgott, welch’ ein Strom von Leben ist doch über dieses Land hinweggebraust! Die Wellen brachen sich an jeder Felsenspitze, die Stadt und Burg trug. Und dennoch erheben sich die Felsen über dem Ganzen nach wie vor nackt und öde. Allein die endlosen Massen von Ruinen nur hier draußen in der Campagna! Und die Berge von Büchern, die über Italiens Geschichte geschrieben sind, ja über die ganze Weltgeschichte! Das ganze Heer toter Menschen, das wir kennen. Wie bitter, bitterwenig ist dennoch als Rest verblieben von all den Lebenswogen, die über die Welt hinweggegangen sind, eine nach der anderen ... Ich finde aber eben das so wunderbar! ... Nun habe ich so viel mit Ihnen gesprochen, Jenny. Und Sie ebenso viel mit mir. Trotzdem aber kenne ich Sie ganz und gar nicht. Wie Sie jetzt dort stehen — Sie sollten sich selber sehen! Wie ihr Haar schimmert! So sind auch Sie ein solcher unbekannter Turm für mich. Und das ist gerade das Wundersame. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, daß Sie niemals Ihr eigenes Antlitz gesehen haben? Nur ein Spiegelbild. Unser Gesicht, wenn es schläft, wenn es die Augen schließt — das können wir niemals sehen. Ist das nicht seltsam? Damals war mein Geburtstag. Heute ist es der Ihre. Sie werden achtundzwanzig. Freuen Sie sich dessen? Sie finden ja, jedes Jahr, das man durchlebt hat, ist kostbar.“

„Das sagte ich nicht. Ich meinte nur, meist hat man in den ersten fünfundzwanzig Jahren vieles durchzukämpfen, so daß man froh sein kann, wenn sie überstanden sind —.“

„Und jetzt?“

„Jetzt —“.

„Ja. Wissen Sie so sicher, was Sie im kommenden Jahre erreichen werden? Wie Sie die Zeit am besten nützen? Das Leben ist so ungeheuer reich an Möglichkeiten — nicht einmal Sie mit all Ihrem Reichtum an Kraft können sich alles untertan machen. Denken Sie daran nie — beunruhigt das niemals Ihr Herz, Jenny?“

Sie lächelte nur, sah nieder und zertrat ein Zigarettenstümpfchen, das sie hingeworfen hatte. Ihre Knöchel schimmerten weiß durch den schwarzen, durchsichtigen Strumpf. Sie folgte mit den Augen einer grauweißen Schafherde, die die Hügelböschung gerade ihnen gegenüber hinablief.

„Aber der Kaffee, Gram! Sie warten natürlich auf uns —“.

Sie gingen nach der Osteria zurück, ohne ein Wort zu sprechen. Der Hügel lief in eine steile, sandige Böschung aus, die sich gerade über dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, erhob.

Ahlin lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch, den Kopf auf den verschränkten Armen. Das Tischtuch war bedeckt mit Käserinden und Obstschalen zwischen Gläsern und Tellern.

Franziska, im laubgrünen Kleide, stand über ihn gebeugt — die Arme um seinen weißen Hals geschlungen — sie versuchte, seinen Kopf in die Höhe zu heben:

„Nicht weinen, Lennart! Ich will dir auch gut sein — ich will mich gern mit dir verheiraten — hörst du, Lennart, aber du darfst nicht so weinen. Ich glaube wohl, daß ich dich liebhaben kann, Lennart, — wenn du nur nicht so verzweifelt sein wolltest.“

Ahlin schluchzte:

„Nein, nein — so nicht — so will ich nicht, Cesca —“.

Jenny wandte sich um und ging denselben Weg zurück. Gram sah, daß sie bis auf den Hals hinab von glühender Röte übergossen war. Der Fußpfad führte am Hügelabhang hin in den Gemüsegarten der Osteria.

Rund um das kleine Wasserbassin jagte Heggen Fräulein Palm. Sie bespritzten sich gegenseitig mit Wasser, daß die Tropfen in der Sonne funkelten, während sie lachend aufschrie.

Wieder floß tiefe Röte über Jennys Hals und Nacken. Helge folgte ihr durch die Gemüsebeete. Heggen und Fräulein Palm schlossen drunten am Bassin Frieden miteinander.

„Der Reigen schließt sich,“ sagte Helge leise.

Jenny nickte schwach und versuchte zu lächeln.

Am Kaffeetisch herrschte keine rechte Stimmung. Franziska versuchte zu plaudern, während sie am Likör nippten. Nur Fräulein Palm war guter Laune. Sobald es irgend anging, schlug Franziska einen Spaziergang vor.

So machten sich denn die drei Paare auf den Weg über die Campagna. Der Abstand zwischen ihnen wurde größer und größer, bis sie sich zwischen den Hügeln verloren. Jenny ging mit Gram.

„Wo wollen wir eigentlich hin?“ sagte sie.

„Wir können ja zum Beispiel zur Egeriagrotte gehen.“ Diese lag gerade in entgegengesetzter Richtung des Weges, den die anderen eingeschlagen hatten. Sie schlenderten aber doch über die sonnenbeschienenen Hügel, auf den Bosco sacro zu; — über den dunklen Kronen der uralten Korkeichen glühte die Sonne.

„Ich sollte wohl lieber den Hut aufsetzen.“ Jenny strich sich übers Haar.

Im heiligen Haine war der Erdboden überdeckt mit Papierabfällen, er strotzte von Unreinlichkeit. Auf einem Baumstumpf am Rande saßen zwei Damen und häkelten, ein paar kleine Jungen spielten Verstecken hinter den gewaltigen Stämmen. Jenny und Gram verließen den Hain und wanderten den Hügel hinab der Ruine zu.

„Eigentlich,“ sagte sie, „was wollen wir da unten,“ und setzte sich auf den Abhang, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Nein, warum auch —“, Helge streckte sich in dem trockenen kurzen Gras zu ihren Füßen aus. Er nahm den Hut vom Kopf und, sich auf die Ellenbogen stützend, sah er zu ihr hinauf, ohne zu sprechen.

„Wie alt ist sie eigentlich? —“ fragte er plötzlich leise. „Ich meine Cesca.“

„Sechsundzwanzig Jahre.“ Sie saß still da und sah in die Weite.

„Ich bin nicht traurig,“ sagte er wieder leise. „Sie verstehen mich, — vor einem Monat wäre es etwas anderes gewesen —. Sie war einmal so lieb, so warm und vertrauensvoll zu mir. — Nun ja, Aufforderung zum Tanz. Aber jetzt —. Ich finde sie sehr lieb. Aber es rührt mich nicht, daß sie mit einem anderen tanzt.“

Er betrachtete sie.

„Ich glaube, Sie sind es, die ich liebe, Jenny,“ sagte er plötzlich.

Sie wandte sich ihm halb zu, lächelte leise und schüttelte den Kopf.

„Doch,“ sagte Helge bestimmt. „Ich glaube es. Genau weiß ich es nicht. Ich habe ja niemals geliebt — das weiß ich jetzt. Trotzdem ich verlobt gewesen bin“ — er lachte leise. „Ja, diese Dummheit beging ich einmal in meiner frühesten Jugend —. Aber, mein Gott, Jenny — es muß wohl wahr sein. Sie waren es, die ich an jenem Abend sah — nicht die andere. Ich sah Sie schon am Nachmittag, Sie gingen über den Corso. Ich stellte Betrachtungen an über das Leben, fand es so neu und abenteuerlich, da gingen Sie an mir vorüber, licht und rank und fremd. Später, nachdem ich in der Dunkelheit rund durch die fremde Stadt geirrt war, traf ich Sie wieder. Oh ja, ich erblickte jetzt auch Cesca, so daß es ja nicht weiter merkwürdig war, daß ich verwirrt wurde. Aber zuerst sah ich doch Sie. — Und nun ist es so gekommen, daß wir beide hier zusammensitzen —“.

Ihre Hand, auf die sie sich stützte, lag auf dem Erdboden dicht neben ihm. Plötzlich strich er darüber. Da zog sie sie zurück.

„Sie sind doch nicht böse? Nein, denn warum auch. — Warum sollte ich Ihnen nicht sagen dürfen, daß ich Sie liebe? Ich konnte nicht anders, ich mußte Ihre Hand berühren, mußte fühlen, daß sie wirklich da war. Wie seltsam, daß Sie hier sitzen. Ich kenne Sie ja gar nicht. Trotz all dem, wovon wir gesprochen haben — ich weiß freilich, daß Sie klug sind, klar und energisch, gut und wahrheitsliebend, aber das wußte ich gleich, als ich Sie sah und Ihre Stimme vernahm. Mehr weiß ich jetzt nicht — aber natürlich ist da noch vieles andere. Darüber erfahre ich vielleicht niemals etwas. Aber ich kann zum Beispiel sehen, daß Ihr seidenes Kleid glühend heiß ist — wenn ich mein Gesicht an Ihre Brust legte, so würde ich mich verbrennen —“.

Sie machte mit der Hand eine unwillkürliche Bewegung über ihren Schoß.

„Ja, die Seide saugt die Sonne an sich. Es knistert in Ihrem Haar. Drinnen in Ihren Augen funkeln die Lichtstrahlen auf. Ihr Mund ist ganz durchsichtig — wie ein Kredenzbecher in der Sonne —.“

Sie lächelte, sah jedoch ein wenig gequält aus.

„Küssen Sie mich, Jenny —,“ bat er plötzlich.

Sie betrachtete ihn eine Sekunde.

„Aufforderung zum Tanz —?“ Sie lächelte weh.

„Sie dürfen nicht böse werden, nur weil ich Sie um einen einzigen Kuß bitte. An so einem Tage. Ich erzähle Ihnen doch nur, was ich wünsche. Im Grunde ... weshalb könnten Sie es nicht tun?“

Sie rührte sich nicht.

„Ist da denn irgend ein Grund — Herrgott, ich will ja nicht versuchen, Sie zu küssen, aber ich verstehe nicht, warum Sie sich nicht eine Sekunde herabbeugen und mir einen ganz, ganz kleinen Kuß geben können, so wie Sie dort sitzen, mit der Sonne auf den Lippen — es ist ja nur, als klopften Sie einem Jungen auf die Schulter und gäben ihm einen Soldo. Jenny — für Sie ist es nichts weiter, und alles, was ich wünsche, gerade in diesem Augenblick wünsche ich es so heiß —.“ Er lächelte, während er sprach.

Plötzlich beugte sie sich nieder ... Nur eine Sekunde spürte er ihr Haar und ihren warmen Mund an seiner Wange. Jede Bewegung ihres Körpers unter der schwarzen Seide konnte er sehen, als sie sich niederbeugte und wieder aufrichtete. Er sah auch, daß ihr Antlitz, das ruhig lächelte, als sie ihn küßte, hinterher ein wenig verwirrt und erschrocken war.

Aber er rührte sich nicht — lag nur und lächelte in die Sonne hinein. Da wurde auch sie wieder ruhig.

„Sehen Sie,“ sagte er schließlich und lachte. „Nun ist ihr Mund genau wie früher. Die Sonne scheint auf die Lippen, bis hinein ins Blut. Was bedeutete es Ihnen? Und ich bin so froh —. Sie begreifen wohl, daß ich nicht erwarte, Sie sollen weiter an mich denken. Ich möchte nur an Sie denken dürfen. — Setzen Sie sich nur still hin und denken Sie an alle möglichen Dinge. Die anderen tanzen Reigen, aber dies hier ist weit köstlicher — wenn ich Sie nur ansehen darf.“

Sie schwiegen beide. Jenny hatte das Gesicht abgewandt und sah über die sonnige Campagna hinaus.

Während sie zur Osteria zurückgingen, plauderte er leicht und munter von allen möglichen Dingen, erzählte Geschichten von den deutschen Gelehrten, mit denen er bei seiner Arbeit zusammengetroffen war. Jenny lugte ab und an verstohlen zu ihm auf. Er war so anders als sonst, so frei und sicher. Er schaute im Gehen geradeaus; eigentlich war er schön; die hellbraunen Augen glänzten wie Bernstein in der Sonne.