Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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VI.

Helge Gram fühlte sich wohl in seinem neuen Zimmer unten an der Ripetta. Er hatte die Empfindung, als arbeite es sich leicht und gut an dem kleinen Tisch vor dem Fenster mit dem Blick auf den Hof, trocknende Wäsche und die Blumentöpfe auf den Balkons. Die Familie gerade gegenüber hatte zwei kleine Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, etwa sechs bis sieben Jahre alt. Kamen sie auf ihren kleinen Altan heraus, so nickten und winkten sie Helge zu, und er winkte wieder. In letzter Zeit hatte er auch der Mutter einen Gruß zugenickt. Diese kleine Bekanntschaft aus der Ferne gab ihm ein warmes, trauliches Gefühl. — Vor ihm stand Cescas Vase; er versäumte nicht, sie immer mit frischen Blumen zu füllen. Signora Papi konnte sein Italienisch gut verstehen. Es käme daher, daß sie dänische Mieter gehabt hatte, sagte Cesca; Dänen könnten ja fremde Sprachen nicht lernen.

Wenn die Signora bei ihm zu tun gehabt hatte, blieb sie immer eine Ewigkeit in der Türe stehen und plauderte. Meist über die „Kusine“. „Che bella“, sagte Signora Papi. Einmal war Franziska allein bei ihm gewesen, und einmal zusammen mit Jenny — beide Male, um ihn zum Tee einzuladen. — Wenn Frau Papi schließlich unter Entschuldigungen wegen der Störung, selber unterbrach und verschwand, dann lehnte Helge sich weit zurück in seinem Stuhl, die Arme im Nacken verschränkt. Er dachte an sein Zimmer daheim — neben der Küche, wo Mutter und Schwester während ihrer Arbeit von ihm sprachen, laut, bekümmert, mißbilligend. Er konnte jedes Wort verstehen — was wohl auch beabsichtigt war. Oh, jeder Tag hier unten wurde ihm zu einem kostbaren Gnadengeschenk. Endlich, endlich hatte er Frieden, konnte arbeiten, arbeiten.

Die Nachmittage brachte er in Museen und Bibliotheken zu. Doch in der Dämmerung, so oft er meinte, daß es anging, schaute er zu den beiden Malerinnen hinauf in der Via Vantaggio und trank den Tee bei ihnen.

Gewöhnlich waren sie beide daheim. Mitunter traf er andere Gäste — Heggen und Ahlin sogar sehr häufig. Zweimal hatte er Jenny allein angetroffen und einmal nur Franziska.

Sie hielten sich immer in Jennys Zimmer auf. Dort war es warm und gemütlich, obgleich die Fenster offen standen, bis der letzte blaue Abendschein erloschen war.

Es glühte und knisterte im Ofen und der Wasserkessel summte auf dem Spiritusapparat. Helge kannte jetzt jeden Gegenstand im Raume — die Studien und Photographien an den Wänden, die blumengefüllten Vasen, das blaue Teeservice, den Bücherständer neben dem Bett und die Staffelei mit Franziskas Bild. Ein wenig unordentlich sah es hier immer aus, der Tisch vorm Fenster war bedeckt mit Tuben und Farbenkästchen, Skizzenbüchern und fliegenden Blättern. Jenny schob mit dem Fuße Pinsel und Malerlumpen, die auf dem Boden umherlagen, unter den Tisch, während sie damit beschäftigt war, den Teetisch zurechtzumachen. Häufig lagen Nähzeug und halbfertig gestopfte Strümpfe auf dem Sofa, die sie beiseite räumte, wenn sie sich niedersetzte, um Keks zu streichen. Dann erhob sie sich wieder, und stellte ein Spirituslämpchen an seinen Platz, das immer irgendwo im Zimmer herumstand.

Unterdes pflegte er mit Franziska in der Ofenecke zu sitzen und zu erzählen. Es geschah auch, daß Cesca plötzlich die Idee hatte, häuslich zu sein; Jenny sollte sich setzen und feiern. Jenny wollte es nicht zugeben, aber Cesca räumte auf wie ein Wirbelwind und verstaute alle umherliegenden Kostbarkeiten an Orten, wo Jenny sie niemals wiederfand. Zuletzt klopfte sie fehlende Reißzwecken in die schief hängenden Bilder, die sich auf den Wänden zusammenrollten, wobei sie ihren eigenen Schuh als Hammer benutzte.

Gram konnte nicht recht klug aus Franziska werden. Sie war immer freundlich und liebenswürdig gegen ihn, niemals aber so von innen heraus vertraulich wie an jenem Tage auf der Ponte Molle. Mitunter schien sie so eigentümlich geistesabwesend — es war, als erfaßte sie überhaupt nicht, was er sprach, obgleich sie freundlich antwortete. Einige Male hatte er das Gefühl, als ob er sie ermüde. Fragte er, wie es ihr ginge, so antwortete sie meist überhaupt nicht. Und als er einmal ihr Bild mit den Zypressen erwähnte, sagte sie, allerdings auf eine sehr liebe Art:

„Sie dürfen nicht böse sein, Gram, aber ich möchte nicht von meiner Arbeit sprechen, solange sie nicht fertig ist, jedenfalls nicht jetzt.“

Eine gewisse Ermunterung bedeutete es ihm, als er merkte, daß Bildhauer Ahlin ihn nicht leiden konnte. Der Schwede sah also immerhin einen Rivalen in ihm —. Im übrigen hatte er den Eindruck gewonnen, als ob Franziska sich von Ahlin zurückgezogen hätte.

Wenn er für sich allein war, malte Helge sich in Gedanken aus, was er Cesca erzählen wollte und führte im Geiste lange Gespräche mit ihr. Er sehnte sich danach, mit ihr zu sprechen wie an jenem Tage an der Ponte Molle, er wollte ihr zum Dank für ihr Vertrauen von seinem eigenen Leben berichten. Wenn er sie aber traf, so war er unsicher und nervös und wußte nicht, wie er das Gespräch auf das lenken sollte, worüber er zu sprechen wünschte. Er fürchtete, aufdringlich oder taktlos zu erscheinen, etwas zu tun, wodurch er in ihren Augen verlieren könnte. Sie fühlte seine Verlegenheit wohl und kam ihm zu Hilfe, verwickelte ihn in einen Wortstreit, kicherte mit ihm, so daß es ihm ein Leichtes wurde, auf den Neckton einzugehen und in ihr Lachen einzustimmen —. Im Augenblick war er ihr dankbar, sie füllte leicht und behende alle Pausen aus und half ihm, jedesmal, wenn er sich festgefahren hatte, wieder weiter. Erst hinterher, zu Hause, empfand er die Enttäuschung. Es war wieder nichts anderes gewesen als Geplauder über allerlei muntere Nichtigkeiten.

War er aber mit Jenny allein, so wurde immer ein vernünftiges Gespräch über solide Dinge geführt. Hin und wieder fand er diese ernsten Diskussionen über abstrakte Materien etwas ermüdend. Aber häufig liebte er auch diese Unterhaltungen, weil das Gespräch von allgemeinen Verhältnissen auf seine persönlichen überging. Nach und nach erzählte er ihr sehr viel von sich selber, von seiner Arbeit, den Schwierigkeiten, die sich ihm nach seiner Ansicht in äußeren Umständen wie in seinem eigenen Wesen entgegenstellten. Daß Jenny Winge nicht von sich selbst sprach, merkte er kaum, wohl aber, daß sie es vermied, das Problem Franziska mit ihm zu erörtern.

Es fiel ihm auch nicht auf, daß er so wie mit Jenny niemals mit Franziska würde reden können, die ihn für weit weit bedeutender, stärker und sicherer halten würde, als er in seinen eigenen Augen war —.

Weihnachtsabend waren sie alle im Verein gewesen und gingen darauf zur Mitternachtsmesse in die S. Luigi dei Franchesi.

Helge fand die Messe zuerst sehr stimmungsvoll. In der ganzen Kirche herrschte Halbdunkel trotz der schimmernden Kristallkronen, die freilich hoch oben unter der Decke schwebten. Die Altarwand war ein einziges Lichtmeer, aus dem weichen, goldenen Schein unzähliger Wachslichter zusammenfließend. Chorgesang und Orgelton zitterten gedämpft durch den Kirchenraum. — Er saß neben einer schönen Italienerin, die einem sammetgefütterten Juwelenkästchen einen Rosenkranz aus Lapislazuli entnahm und in ein andächtiges Gebet versank.

Nach einer kurzen Zeit aber begann Franziska halblaut zu murren. Sie saß mit Jenny auf der Bank vor ihm.

„Ach Jenny, wir wollen gehen. Ist das vielleicht Weihnachtsstimmung? Das ist ja nur ein gewöhnliches Konzert. Hör doch den Burschen, der jetzt singt; ganz ohne Ausdruck, die Stimme ist obendrein überschrieen. Pfui!“

„Still, Cesca, denk daran, daß wir in einer Kirche sind.“

„Kirche — pah. Dies hier ist ja ein Konzert — wir mußten sogar Eintrittskarten und Programme haben. Greuliches Konzert — es nimmt mir die ganze Laune.“

„Ja, ja, wir gehen, wenn diese Nummer zu Ende ist. Schweig jetzt aber, solange wir noch hier sind.“

„Nein,“ plauderte Cesca, „Sylvester im vorigen Jahre. Ich war in Gesu — da war Stimmung. Te Deum. Ich kniete neben einem alten Bauern aus der Campagna und einem jungen Mädchen, das krank war — und so schön. Alle Menschen sangen, der alte Bauer konnte das ganze Te Deum auf Lateinisch. Das war stimmungsvoll!“

Während sie sich leise einen Weg durch die überfüllte Kirche bahnten, erklang das Ave Maria durch den Raum.

„Ave Maria,“ Franziska blies verächtlich durch die Nase. „Hört ihr nicht, sie denkt überhaupt nicht an das, was sie singt — wie ein Phonograph. Ich ertrage es nicht, wenn solche Musik derartig mißhandelt wird.“

„Ave Maria,“ sagte ein Däne, der neben ihr ging. „Ich erinnere mich da einer jungen norwegischen Dame — wie sang sie es doch herrlich. Ein Fräulein Eck.“

„Berit Eck — kennen Sie die, Hjerrild?“

„Sie war vor zwei Jahren in Kopenhagen und sang mit Ellen Bech dort. Ich kannte sie ziemlich genau. Sie kennen sie auch, Fräulein Jahrmann?“

„Meine Schwester war mit ihr bekannt,“ sagte Franziska. „Richtig, Sie trafen doch meine Schwester Borghild in Berlin. Mögen Sie Fräulein Eck — Frau Herrmann heißt sie jetzt übrigens?“

„Sie war ein ganz reizendes Mädchen — entzückend. Und ungewöhnlich begabt.“

Franziska blieb mit Hjerrild zurück.

Es war verabredet, daß Heggen, Ahlin und Gram bei den Damen zu Abend essen sollten — Franziska hatte eine Weihnachtskiste von zu Hause bekommen. Man hatte norwegischen Weihnachtskäse auf den Tisch gebracht, der mit Tausendschön aus der Campagna und Kerzen in siebenarmigen Leuchtern geschmückt war.

Franziska trat als letzte ein und hatte den Dänen mitgebracht.

„Ist es nicht nett, Jenny — daß Hjerrild mit kam?“

Es stellte sich heraus, daß es sowohl Bier wie auch Genfer Likör zu Tisch gab. Und norwegische Butter, braunen Käse und kalten Auerhahn, Sülze und Räucherschinken.

Franziska hatte neben Hjerrild Platz genommen, und sobald das Gespräch am Tisch sich belebte, wandte sie sich an ihn.

„Kennen Sie den Pianisten Herrmann, mit dem Fräulein Eck sich verheiratet hat?“

„Ja, sehr gut. Ich habe in einem Pensionat mit ihm gewohnt, in Kopenhagen, und jetzt in Berlin traf ich ihn wieder.“

„Wie finden Sie ihn?“

„Er ist ein netter Mensch. Ungeheuer begabt — er schenkte mir seine letzten, nach meiner Meinung äußerst originellen Kompositionen. Ja. Ich mag ihn recht gut leiden.“

„Haben Sie die Kompositionen mit? Darf ich sie nicht einmal sehen? Ich würde gern in den Verein gehen und sie durchspielen. Wir waren in früheren Zeiten befreundet,“ sagte Franziska.

„Richtig! Jetzt entsinne ich mich. Er besitzt Ihre Photographie! Er wollte mir nicht erzählen, wer es war.“

„Ja, das stimmt,“ sagte Franziska leise. „Er bekam wohl einmal ein Bild von mir, glaube ich.“

„Im übrigen —“ Hjerrild leerte sein Glas — „ist er ein wenig zu brutal, kann unglaublich rücksichtslos sein. Aber — vielleicht ist es eben das, was ihn bei den Frauen unwiderstehlich macht. Mir persönlich war er mitunter etwas zu sehr — Prolet.“

„Eben das ist es.“ Sie suchte nach Worten. „Das bewunderte ich gerade so an ihm. Daß er sich von unten herauf durchgekämpft hatte zu dem, was er jetzt ist. So ein Kampf muß brutal machen, finde ich. Ja — meinen Sie nicht, es entschuldigt sehr viel — fast alles?“

„Halt, Cesca,“ sagte Heggen plötzlich: „Hans Herrmann wurde entdeckt, als er dreizehn Jahre alt war — und seitdem hat man ihm geholfen.“

„Ja — aber fremde Hilfe annehmen — und für alles danken müssen! Immer fürchten müssen, nicht genug beachtet, übersehen, daran erinnert zu werden, daß er — nun wie Hjerrild sagte, ein Proletarierkind war.“

„Ich kann auch darauf pochen, daß ich ein Proletarierkind bin.“

„Nein, das kannst du nicht, Gunnar. Du bist immer erhaben über deine Umgebung gewesen, dessen bin ich sicher. Wenn du in einen Kreis kamst, der in sozialer Hinsicht höher stand als der, in welchem du geboren bist — so warst du auch dort schon der Ueberlegene, wußtest mehr, warst klüger, dachtest vornehmer. Du hast immer in dem starken Bewußtsein leben dürfen, daß du dir alles selbst erkämpft und erarbeitet hast. — Du warst niemals gezwungen, anderen Menschen zu danken, von denen du wußtest, daß sie vielleicht auf dich herabsahen um deiner Herkunft willen — Snobs, die sich etwas darauf zugute taten, einer Begabung hilfreiche Hand zu leisten, von deren Größe sie keinen Dunst hatten, die dir innerlich unterlegen waren und glaubten, über dir zu stehen; du brauchtest niemandem zu danken, gegen den du keine Dankbarkeit empfandest. Du kannst nicht von den Gefühlen des Proletariers reden, Gunnar. Du hast ja niemals gewußt, was das heißt.“

„Ein Mensch, Cesca, der solche Hilfe annimmt — von Leuten, denen gegenüber er Dankbarkeit nicht empfinden kann — ist ein unverbesserliches Individuum der Unterklasse.“

„Aber begreifst du denn das nicht, Junge? Man handelt so, wenn man weiß, daß man Talent hat, vielleicht ein Genie ist, das nach Entwicklung verlangt. Im übrigen, du: der du sagst, du seiest Sozialdemokrat, du solltest nicht von Individuen der Unterklasse sprechen, finde ich.“

„Ein Mensch, der vor seinem eigenen Talent Achtung hat, prostituiert es nicht. Und was den Sozialdemokraten betrifft: Sozialdemokratie, das ist das Verlangen nach Gerechtigkeit. Aber die Gerechtigkeit fordert, daß Leute von seiner Art unterdrückt, auf den Boden der menschlichen Gesellschaft niedergepreßt, mit Ketten und Peitschen niedergehalten werden. Die tatsächliche, legitime Unterklasse muß gebändigt werden.“

„Das ist ein eigentümlicher Sozialismus,“ lachte Hjerrild.

„Es gibt keinen anderen — für reife Menschen. Ich rechne nicht mit den hellen blauäugigen Kinderseelen, die da glauben, alle Menschen seien gut und an dem Bösen sei die Gesellschaft schuld. Wären alle Menschen gut, so wäre die soziale Gemeinschaft ein Paradies. Die Proletarierseelen sind es aber gerade, die das Schlechte hineintragen. Sie sind in allen Gesellschaftsklassen zu finden: sind sie die Herren, so sind sie grausam und brutal; dienen sie, so sind sie kriechend und heuchlerisch und faul. Ich habe genug von dieser Sorte in den Reihen der Sozialdemokraten angetroffen. — Ja, Herrmann rechnet sich ja auch zu den Sozialisten. Wenn sie ein Paar Hände finden, die sie vorwärtsbringen wollen, so nehmen sie die Hilfe an, um hinterher auf diesen selben Händen herumzutrampeln. Wittern sie einen Trupp, der vorwärtsmarschiert, so schließen sie sich ihm an, um Teil an der Beute zu haben — Loyalität aber, Kameradschaftsgefühl, das besitzen sie nicht. Das Ziel — sie verlachen es insgeheim. Die Gerechtigkeit — sie hassen sie im Grunde, denn sie wissen ja, wenn sie siegt, so geht es ihnen übel. — Alle, die die Gerechtigkeit fürchten, nenne ich eben das legitime Proletariat, das bekämpft werden muß, schonungslos. Hat es Macht über die Armen und Schwachen, so quält und tyrannisiert es sie und macht auch sie zu Proletariern. Ist es selber arm und schwach, so kämpft es nicht — nein, es bettelt und heuchelt sich vorwärts und überfällt jeden hinterrücks, wenn es seinen Vorteil darin erblickt. — Das Ziel muß eine Gemeinschaft sein, in welcher die Oberklassenindividuen die Führer sind. Denn diese kämpfen niemals für sich selbst, sie sind sich ihrer eigenen unerschöpflichen Quellen wohl bewußt, sie verschwenden sie an die Armen, kämpfen um Licht und Luft für jedes schwache Zeichen von Gutem und Schönem, das sich bei den kleinen Seelen zeigt, die weder das eine noch das andere sind, gut, wenn sie sichs leisten können, schlecht, wenn das Proletariat sie dazu zwingt. Das Ziel ist, daß diejenigen zur Macht gelangen, die ein Verantwortungsgefühl haben für jede kleinste gute Regung, die unterdrückt wird.“

„Du verstehst trotzdem Hans Herrmann nicht,“ sagte Franziska leise. „Er war nicht nur um seiner selbst willen aufgebracht über das soziale Unrecht. Die kleinen guten Seelen, die untergingen — er war es, der von ihnen sprach, oh ja. Wenn wir einen Spaziergang nach dem Osten der Stadt machten und die kleinen blassen Kinder in den häßlichen, trüben, überfüllten Kasernen sahen, die er, wie er sagte, am liebsten in Brand stecken würde.“

„Phrasen. Wenn er die Hausmiete zu bekommen hätte —.“

„Pfui, Gunnar,“ sagte Franziska heftig.

„Ja, ja, er wäre eben kein Sozialist gewesen, wenn er reich geboren wäre. Aber ein ebenso unverfälschter Proletarier.“

„Bist du dessen so sicher, daß du Sozialdemokrat gewesen wärst?“ sagte Franziska — „wenn du — nun als Graf zum Beispiel geboren wärest?“

„Heggen ist ein Graf,“ lachte Hjerrild, „über viele luftige Schlösser.“

Heggen warf den Kopf nach hinten und schwieg einen Augenblick.

„Ich habe jedenfalls niemals das Gefühl gekannt, arm geboren zu sein,“ sagte er, mehr für sich.

„Nun ja,“ ließ sich Hjerrild vernehmen. „Um auf Herrmanns Kinderliebe zurückzukommen — um seinen eigenen kleinen Jungen kümmert er sich nicht viel. Und die Art und Weise, wie er sich gegen sie benahm, war auch recht häßlich. Erst drohte und bettelte er, daß sie sein wurde und als sie dann ein Kind bekommen sollte, mußte sie sicher drohen und betteln, daß er sie heiratete.“

„Haben sie einen kleinen Jungen?“ flüsterte Franziska.

„Ja ja. Der kam, als sie sechs Wochen miteinander verheiratet waren — gerade in den Tagen, als ich Berlin verließ. Herrmann war nach Dresden gereist und hatte sie im Stich gelassen, nachdem sie einen Monat zusammen gehaust hatten. Ich begreife nicht, warum er sie nicht etwas früher heiraten konnte. Es war ja abgemacht, daß sie wieder geschieden werden sollten und sogar ihr eigener Wille.“

„Pfui!“ sagte Jenny. Sie hatte dem Gespräch eine ganze Zeit gelauscht. „Daß man hingeht und sich verheiratet mit dem Vorsatz, sich hinterher wieder scheiden zu lassen!“

„Herrgott.“ Hjerrild lachte ein wenig. „Wenn man einander außen und innen kennt, und weiß, daß man nicht miteinander fertig wird.“

„Dann muß man das Heiraten lassen.“

„Gewiß. Der freie Zustand ist ja weit schöner. Aber Herrgott, sie mußte ja. Sie will nächsten Herbst ein Konzert in Kristiania geben und muß sehen, daß sie Gesangschüler bekommt. Das würde ihr aber als unverheirateter Frau mit einem Kinde unmöglich sein. Armes Ding!“

„Mag sein. — Aber ekelhaft ist es darum doch. Wenn Sie unter freien Zuständen das verstehen, daß sich Leute miteinander einlassen, obgleich sie genau wissen, sie werden einander überdrüssig, so habe ich dafür kein Verständnis. Schon die Auflösung einer so ganz alltäglichen, platonisch bürgerlichen Verlobung .... ich finde, schon daran haftet immer ein Makel. Ist man aber einmal so unglücklich gewesen, sich zu irren — dann um der Leute willen noch diese abscheuliche Komödie spielen — eine blasphemische Trauung, wo man steht und Dinge gelobt, die man im voraus entschlossen ist, nicht zu halten! ...“

Die Gäste gingen erst beim Morgengrauen. Heggen blieb noch einen Augenblick zurück, nachdem die anderen fort waren.

Jenny öffnete die Balkontür um den Tabakrauch herauszulassen. Sie blieb stehen und sah hinaus. Der Himmel war schon fahlgrau mit einem schwachen rötlichgelben Schein über den Häuserdächern. Es war schneidend kalt. — Heggen trat an ihre Seite:

„Ich danke dir. So wäre also wieder einmal ein Weihnachtsabend dahin. Worüber sinnst du nach?“

„Daß jetzt der Weihnachtsmorgen anbricht. ... Ich möchte wissen, ob sie zu Hause meine Kiste rechtzeitig bekamen,“ sagte sie nach einer Weile.

„Sandtest du sie nicht am elften — dann ist sie wohl zur Zeit angekommen.“

„Hoffentlich. — Es war immer eine große Freude für uns, am Weihnachtsmorgen hineinzukommen und den Baum und die Geschenke bei Tageslicht zu besehen. Als ich noch klein war.“ Sie lachte leise. „Es ist viel Schnee gefallen dieses Jahr, schreiben sie. Dann sind sie wohl oben auf den Bergen heute, die Kinder.“

„Ja,“ sagte Heggen. Er schaute wie sie ein Weilchen in die Weite. „Aber, du erkältest dich, Jenny. Gute Nacht also — und für den heutigen Abend vielen Dank.“

„Gute Nacht. Fröhliche Weihnachten, Gunnar!“

Sie reichten einander die Hände. Nachdem er gegangen, blieb sie noch ein wenig stehen, ehe sie die Balkontür schloß und ins Zimmer trat.