Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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VIII.

Jenny zündete die Lampe nicht an, als sie heimgekehrt war. Im Dunkeln griff sie nach ihrem Abendmantel und setzte sich auf den Balkon hinaus.

Der Himmel erhob sich über den Dächern wie schwarzer Sammet, von dem Gewimmel funkelnder Sterne durchwoben. Die Nacht war kalt.

Er hatte gesagt, als sie sich trennten:

„Ich komme morgen zu Ihnen hinauf, um Sie zu fragen, ob sie mit mir in die Campagna fahren wollen —.“

In Wirklichkeit war ja nichts geschehen. Sie hatte ihn geküßt. Es war aber der erste Kuß, den sie einem Manne gegeben hatte. Und es war ganz anders gekommen, als sie es sich gedacht —. Fast wie ein Scherz war es gewesen — dieser Kuß.

Sie liebte ihn keineswegs. Und hatte ihn doch geküßt. Sie hatte gezaudert und gedacht: ich habe nie geküßt —. Doch da glitt gewissermaßen eine fröhliche Gleichgültigkeit und süße Müdigkeit durch ihren Körper; ach Gott, warum dies alles so lächerlich feierlich nehmen. Sie tat es eben — warum sollte sie auch nicht —.

Nein, es machte ja nichts. Er hatte ja doch ganz ehrlich darum gebeten, weil er glaubte, er wäre verliebt in sie und weil die Sonne schien. Er hatte sie nicht darum gebeten, ihn zu lieben — nichts hatte er verlangt außer einem harmlosen Kuß. Und sie hatte ihn hingegeben, schweigend. Das alles war schön gewesen. Da war nichts geschehen, um dessentwillen sie sich hätte schämen müssen.

Herrgott — achtundzwanzig Jahre war sie geworden. Sie verhehlte es sich selbst auch nicht, daß sie sich nach einem Manne sehnte, den sie liebte und der sie lieb hatte, an den sie sich fest anschmiegen konnte. Jung war sie, gesund und schön — warm war sie und voller Sehnsucht —. Aber da sie mit kalten Augen sah, und sich selber niemals etwas vorzulügen pflegte ...

Sie war dem einen oder anderen Manne begegnet und hatte sich gefragt: ist es dieser? Diesen oder jenen hätte sie vielleicht lieben können, wenn sie wirklich gewollt hätte — wenn sie nachgeholfen und die Ohren der leisen Stimme verschlossen hätte, die immer da war — und die einen hartnäckigen Widerspruch in ihr erweckte, den sie hätte betäuben müssen. Aber keinen hatte sie getroffen, den sie hätte lieben müssen.

So hatte sie es nicht gewagt —.

Cesca freilich vermochte es zu ertragen, daß einer nach dem anderen sie küßte und sie umschmeichelte. Ihr machte es nichts aus. Es berührte nur ihre Lippen und ihre Haut. Nicht einmal Hans Herrmann, den sie doch liebte, konnte ihr merkwürdig dünnes, erstarrtes Blut erwärmen.

Sie selbst war anders. Ihr Blut war rot und warm. Das Glück, nach dem sie sich sehnte, sollte heiß und verzehrend sein, aber rein und fleckenfrei. Sie selbst wollte gut und treu und ehrlich gegen den sein, dem sie sich hingab. Es mußte einer kommen, der sie ganz hinnehmen konnte, so daß keine Regung in ihr unberührt blieb und irgendwo tief drinnen verkam und vergiftet wurde —. Nein — sie wagte es nicht, wollte nicht leichtsinnig sein. Sie nicht —.

Dennoch — sie konnte die Menschen begreifen, die der Mühe des Wollens aus dem Wege gingen. Einen Trieb bezähmen und ihn schlecht nennen, einen anderen aber großziehen und ihn gutheißen. Allen kleinen billigen Freuden entsagen, seine Kräfte aufsparen in Erwartung einer großen Freude. Die vielleicht — vielleicht niemals kam. Sie war sich durchaus nicht gewiß, daß ihr Weg zu ihrem Ziele führte, daß es ihr nicht doch einmal Eindruck machen könnte, wenn Menschen zynisch einräumten, keinen bestimmten Weg zu gehen und keine Ziele zu haben, während diejenigen, die sich an die Moral und ihre Ideale hielten, nach dem Monde im Wasser fischten.

Auch sie hatte es einst erlebt, vor vielen Jahren, daß ein Mann sie in einer Nacht bat, mit ihm nach Hause zu gehen — ungefähr so, als hätte er sie eingeladen, ihn in eine Konditorei zu begleiten. In Wirklichkeit reizte es sie wohl gar nicht — außerdem wußte sie, Mama saß oben und wartete auf sie, so daß es völlig unmöglich war. Auch kannte sie den Menschen kaum, mochte ihn nicht leiden und war obendrein ärgerlich, daß er sie an diesem Abend nach Haus begleiten wollte. Sie hatte kein sinnliches Empfinden dabei, nur eine intellektuelle Neugierde trieb sie dazu, in Gedanken einen Augenblick mit der Frage zu experimentieren: Wenn ich es nun täte? Was würde ich empfinden, wenn ich Willen und Selbstbeherrschung und meinen alten Glauben über Bord würfe? —

Es war nur dieser Gedanke, der einen aufreizenden, wollüstigen Schauder durch ihren Körper gejagt hatte. War dieses Leben besser als ihr eigenes —?

Denn mit ihrem eigenen war sie ja an diesem Abend nicht zufrieden. Sie hatte wieder dagesessen und dem Tanz der anderen zugeschaut — Wein hatte sie auch getrunken, die Musik umtoste sie, und sie hatte gesessen und die bittere Einsamkeit gefühlt, zu der sie, so jung noch, verdammt war, weil sie ja nicht tanzen, nicht die Sprache der übrigen Jugend sprechen, nicht in ihr Lachen einstimmen konnte — dabei hatte sie noch versucht, zu lächeln und zu plaudern und sich wieder den Anschein zu geben, als unterhielte sie sich gut. Während sie dann in der eiseskalten Frühlingsnacht heimging, dachte sie daran, daß sie am nächsten Morgen um acht Uhr eine Vertretung in der Kampfschen Schule übernehmen mußte. Sie arbeitete an ihrem großen Bilde, und es war immer noch so tot und schwerfällig, wie sie sich auch mühte und abarbeitete — in den freien Stunden, bis um sechs Uhr ihre Privatschülerinnen zum Mathematikunterricht kamen. — Sie arbeitete hart zu jener Zeit, so daß sie manchmal das Gefühl hatte, als zittere jeder Nerv vor Ueberspannung — und doch hielt sie in dieser bewußten Ueberanstrengung aus bis zu den Sommerferien.

Und da hatte sie sich einen Augenblick gewissermaßen von seinem Zynismus angezogen gefühlt — wohl nur einen Augenblick — aber ... Sie hatte zu dem Menschen aufgelächelt und Nein gesagt, so trocken und geradezu, wie er gefragt hatte.

Er war übrigens ein Narr, denn nun begann er, ihr Predigten zu halten — flaue Komplimente, sentimentalen Unsinn von Jugend und Lenz, dem Recht der Leidenschaft und dem Evangelium des Blutes. Sie lachte ihn ganz ruhig aus und rief eine vorüberfahrende Droschke herbei.

Oh nein, sie war reif genug, um die begreifen zu können, die sich brutal weigerten, für irgend etwas im Leben zu kämpfen, und sich statt dessen niederlegten und vom Strome treiben ließen —. Aber die Grünschnäbel, die davon faselten, eine Mission zu erfüllen, wenn sie sich nach ihrem Geschmack amüsierten — diese Jugend, die für das ewige Recht der Natur zu kämpfen vorgab, während sie es nicht der Mühe wert hielt, ihre Zähne zu putzen und ihre Nägel zu reinigen — die konnte sie nicht irreführen.

Es war wohl am besten für sie, an ihrer eigenen kleinen Moral festzuhalten. Die baute sich im wesentlichen auf Wahrhaftigkeit und Selbstbeherrschung auf.

Diese Moral hatte sich zu formen begonnen, als Jenny auf die Schule kam. Sie war nicht wie die anderen Kinder in der Klasse, nicht einmal in der Kleidung. Ihre kleine Seele aber war ganz, ganz anders. Sie lebte ja mit ihrer Mutter zusammen, die zwanzigjährig Witwe geworden war und nichts auf der Welt besaß als ihr kleines Mädchen. Und auch mit ihrem Vater zusammen, der gestorben war, lange bevor sie sich erinnern konnte. Er war im Grabe und im Himmel, aber in Wirklichkeit wohnte er daheim bei Mutter und ihr —. Sein Bild hing über dem Klavier und seine Augen schauten auf alles herab, was Mutter und sie unternahmen, er hörte alles, was sie sagten — die Mutter sprach beständig von ihm und erzählte, was er zu allen Dingen meinte — dies dürften sie tun und dies müßten sie lassen des Vaters wegen. Jenny sprach von ihm, als kenne sie ihn, und des Abends sprach sie mit ihm und mit Gott, der ja mit Vater zusammen war und ebenso dachte, wie der Vater.

Der erste Schultag. Jenny entsann sich seiner deutlich und lächelte in die dunkle römische Nacht hinaus.

Die Mutter hatte sie unterrichtet, so daß sie mit acht Jahren in die dritte Klasse kam. Die Mutter pflegte immer alles an Beispielen zu erklären, die Jenny kannte. Sie wußte also sehr wohl, was ein Vorgebirge war. Da fragte die Lehrerin in der Geographiestunde gerade sie, ob sie ein norwegisches Vorgebirge nennen könnte. Jenny sagte „Naesodden.“[1]

[1] Anm. der Uebersetzerin: N. ist eine Halbinsel, Kristiania gegenüber, während die im folgenden Absatz genannten Kaps große Vorgebirge sind.

Die Lehrerin lächelte, und die ganze Klasse lachte. „Signe,“ sagte die Lehrerin, und ein kleines Mädchen erhob sich und sagte prompt: „Nordkap, Stat, Lindesnes.“ Jenny aber lächelte überlegen, gleichgültig, über der anderen Gelächter. Das war vielleicht der erste Zusammenstoß. — Sie hatte niemals Kameraden unter den anderen Kindern gehabt. Und sie bekam auch niemals welche.

Ueberlegen und gleichgültig hatte sie zu dem Gehänsel und Gespött der ganzen Klasse gelächelt, aus einem schweigenden und unversöhnlichen Haßgefühl heraus, das sich zwischen sie — die nicht so war wie jene — und alle die übrigen Kinder schob, die für sie eine einförmige Masse waren, ein vielköpfiges Ungeheuer. Die verzehrende Wut, die unter all ihren Quälereien in Jenny aufstieg, verschloß sie hinter höhnischem, gleichgültigem Lächeln. Die wenigen Male, da ihre Selbstbeherrschung sie im Stiche ließ — ein einziges Mal hatte sie in Leid und Verbitterung gar jämmerlich geschluchzt — die wenigen Male hatte sie bemerkt, wie die anderen triumphierten. Nur, wenn sie „hochmütig“ war, wenn die anderen von ihrer indianischen Gefühllosigkeit ihrem Tun und Lassen gegenüber verwirrt wurden, konnte sie sich gegen die vielen behaupten.

In der obersten Klasse gewann sie ein paar Freundinnen. Das war in dem Alter, wo kein Kind es erträgt, anders zu sein als die anderen. Sie versuchte es den Mädchen gleich zu tun. Viel Freude hatte sie von diesen Freundinnen übrigens nicht gehabt.

Sie entsann sich, wie die Mädchen sie verspotteten, als sie entdeckten, daß Jenny mit vierzehn Jahren noch mit Puppen spielte. Sie aber verleugnete ihre geliebten Kinder und sagte, sie gehörten den kleinen Schwestern.

In dieser Zeit war es auch, daß sie zur Bühne gehen wollte. Sie wie alle Freundinnen waren vollkommen versessen aufs Theater — sie verkauften Schulbücher und Konfirmationsbroschen, um sich Billets zu verschaffen. Abend für Abend saßen sie unten auf dem Sperrsitz für sechzig Oere. Aber eines Tages hatte sie verspielt, als sie erzählte, wie sie Eline Gyldenlöve darstellen würde.

Die Freundinnen lachten Sturm. Sie war also in der Tat völlig größenwahnsinnig. — Man wußte wohl, daß sie eingebildet war, aber nun war die Grenze erreicht. Sie bildete sich also tatsächlich ein, sie könne Schauspielerin werden! Sie, die nicht einmal tanzen konnte! Es würde hübsch aussehen, sie auf der Bühne herumwackeln zu sehen mit ihren langen, stocksteifen Stelzen —.

Auch damals hatte Jenny mit ihren Freundinnen nicht gebrochen. — Nein, sie konnte nicht tanzen. Als sie ganz klein war, pflegte die Mutter ihr Tänze vorzuspielen, während Jenny umhertrippelte, sich verneigte und drehte, wie es ihr in den Sinn kam; Mutter lächelte dann und nannte sie ihr kleines Linerle. Dann kam sie auf den ersten Schülerball, in feierlicher Freude, mit einem neuen grüngeblümten Kleid angetan, — oh, sie entsann sich dessen so deutlich. Es reichte ihr fast bis auf die Füße herab; Mutter hatte es nach einem alten englischen Bilde genäht. Sie erinnerte sich dieses Kinderballes. Noch konnte sie diese wunderliche Steifheit in allen Gliedern spüren —. Seitdem hatte dieses Gefühl ihren weichen schlanken Körper losgelassen, er wurde wie ein Holzstock, wenn sie den Versuch machte, selber das Tanzen zu erlernen. Sie konnte nicht. Schließlich wollte sie in die Tanzstunde gehen, aber dazu fehlten die Mittel.

Sie lachte. O diese Freundinnen! Zwei von ihnen hatte sie auf der Ausstellung wiedergesehen, als sie das erste Mal ein Bild ausgestellt hatte — und einige lobende Worte über sie in die Zeitung gekommen waren. Sie stand mit einigen Malern, darunter auch Heggen, zusammen, den sie damals aber nicht näher kannte. Da kamen die Freundinnen heran und gratulierten:

„Das haben wir schon in der Schule gesagt, Jenny wird Künstlerin. Wir waren alle so überzeugt, daß aus dir noch einmal etwas werden würde.“

Sie hatte gelacht:

„Ich auch, Ella.“

Seit jener Zeit war sie allein gewesen. —

Sie war wohl ungefähr zehn Jahre alt, als die Mutter Ingenieur Berner traf. Die beiden waren zusammen in einem Büro tätig gewesen.

So klein sie war, hatte sie es doch gleich begriffen. Der tote Vater entglitt gleichsam dem Heim. Sein Bild hing weiterhin an seinem Platz — aber nun war er tot. Plötzlich kam ihr das Verständnis dafür, was der Tod bedeutete. Die Toten existierten nur in der Erinnerung der Lebenden — die Anderen konnten willkürlich ihr armseliges Schattendasein auslöschen. Dann waren sie gar nicht mehr vorhanden.

Sie verstand, warum die Mutter wieder so jung, so schön und froh wurde. Sie sah wohl den Lichtschein, der über ihr Antlitz sich breitete, wenn Berner an ihrer Türe läutete. Sie saß und hörte die beiden miteinander sprechen. Niemals waren es Dinge, die das Kind nicht mit anhören durfte, sie schickten sie nie hinaus, wenn sie in der Mutter Heim zusammen waren. Bei aller Eifersucht, die sie im Herzen trug, fühlte Jenny, daß es so vieles gab, worüber eine Mutter nicht mit einem kleinen Mädchen sprechen konnte. Und diese Erkenntnis rief ein starkes Gerechtigkeitsgefühl in ihr wach — sie wollte ihrer Mutter nicht zürnen. Hart war es indessen doch.

Aber das zu zeigen, war sie zu stolz. Wenn jedoch die Mutter dem Kinde gegenüber Gewissensbisse empfand und sie nervös und ganz unvermittelt mit Zärtlichkeit und Fürsorge überschüttete, so schwieg sie kalt und abweisend. Und sie schwieg, als die Mutter sagte, sie solle Berner Vater nennen, und ihr eifrig erzählte, wie lieb er die kleine Jenny hätte. — In den Nächten versuchte sie, zu ihrem eigenen, richtigen Vater zu sprechen wie ehedem — leidenschaftlich versuchte sie, ihn am Leben zu erhalten. Sie vermochte es aber nicht allein — sie kannte ihn ja nur aus den Erzählungen der Mutter. Nach und nach starb Jens Winge auch für sie. Und da er auch der Mittelpunkt all ihrer Vorstellungen von Gott, dem Himmelreich und dem ewigen Leben gewesen war, so verblaßten auch diese mit seinem Bilde. Sie erinnerte sich, daß sie schon im Alter von dreizehn Jahren dem Religionsunterricht mit vollbewußtem Unglauben zugehört hatte. Und da alle anderen in der Klasse an Gott glaubten, und den Teufel fürchteten und dennoch feig und grausam, schmutzig und gemein waren, jedenfalls in ihren Augen, so wurde die Religion für sie zu etwas beinahe Verächtlichem, Feigem, das zu ihnen gehörte.

Gegen ihren Willen mußte sie Sympathie für Nils Berner haben. In der ersten Zeit, nachdem er die Mutter geheiratet hatte, mochte sie ihn eigentlich lieber als die Mutter. Er forderte nicht das Recht des Vaters über die Stieftochter — klug, gut und natürlich kam er ihr entgegen. Sie war das Kind der Frau, die er liebte, und deshalb liebte er auch Jenny.

Was sie ihm verdankte, erkannte sie erst jetzt als Erwachsene klar. Wieviel Krankhaftes und Verschrobenes hatte er ihr doch ausgetrieben und an ihr bekämpft! Solange sie mit der Mutter allein in dieser treibhausschwülen Luft von Zärtlichkeit, Fürsorge und Träumerei gelebt hatte, war sie furchtsam gewesen, hatte Angst vor Hunden, Straßenbahnen, Angst vor Zündhölzern, hatte vor Allem Angst. Die Mutter wagte kaum, sie allein zur Schule gehen zu lassen. Und wie empfindlich war sie gegen körperlichen Schmerz gewesen!

Berners erste Tat war, das Mädel mit hinauf in die Wälder zu nehmen. Sonntag für Sonntag zog er mit ihr in die Nordmarken. In brennender Sommersonne, in weicher Lenzluft und strömendem Herbstregen, den ganzen Winter über auf Schneeschuhen. Und Jenny, die es gewöhnt war, ihre Gefühle nicht zu offenbaren, versuchte, Müdigkeit und Angst zu verbergen. Bis sie sie nach einer Weile gar nicht mehr empfand.

Berner lehrte sie, Karte und Kompaß zu gebrauchen. Er verhandelte mit ihr wie mit einem Kameraden. Er lehrte sie, Zeichen für Wetterumschwung in Wind und Wolken zu entdecken, Zeit und Richtung aus dem Stande der Sonne zu lesen. Mit Tieren und Pflanzen machte er sie vertraut. Sie zeichnete und malte Blumen mit Wasserfarben, Wurzel und Stengel, Blatt und Knospe, Blüte und Frucht. Ihr Skizzenbuch und sein Photographenapparat lagen immer im Rucksack.

Wieviel Liebe und Güte der Stiefvater in dieses Erziehungswerk gelegt hatte, konnte sie erst jetzt ermessen. Ein kleines unscheinbares Mädchen hatte er zum Kameraden gemacht und erzogen, sie, die so ungeschickt gewesen, wie ein blindes Kätzchen nach der Geburt. Er, der namhafte Skiläufer und Bergsteiger in Jotunheim und auf den Bergzinnen des Nordlandes!

Er hatte ihr versprochen, sie mit dort hinaufzunehmen. Das war in dem Sommer, als sie fünfzehn Jahre alt war, dem schwierigsten Alter. Da hatte er sie auf Schneehühnerjagd mitgenommen. Die Mutter mußte daheim bleiben — sie trug damals das Kleine.

Sie wohnten in einer einsamen kleinen Sennhütte unterhalb Rondane. Oh, niemals war sie je so glücklich gewesen wie in jenen Morgenstunden, wenn sie in ihrem kleinen Alkoven erwachte. Sie mußte aufstehen und für Berner Kaffee kochen; er nahm sie dann mit hinauf auf die Rondespitzen und in die Stygfelsen, auf Engelfahrten, oder sie gingen hinab ins Foltal, um Proviant zu holen. Wenn er draußen war und jagte, dann badete sie in eisigen Gebirgsbächen oder wanderte endlose Wege über herbstlich öde Strecken. Oder sie saß in der Hüttentür, strickte und träumte romantische Sennerinnenträume von einem Jäger, der Berner recht ähnlich sah, nur ganz jung war und bildschön. Er sollte aber erzählen, wie Berner es tat, des Abends am Herd, von Jagd und Gebirgsfahrten; er sollte ihr auch ein Gewehr versprechen und sie mit hinausnehmen auf nie erstiegene Zinnen, wie Berner es versprochen hatte.

O ja, sie entsann sich, wie sie damals begriff, daß die Mutter ein Kind haben sollte. Wie zerquält, beschämt, unglücklich sie war, als sie es entdeckte. Sie suchte vor der Mutter zu verbergen, was sie empfand, ganz gelang es ihr nicht, das wußte sie. Erst Berners Angst um sein Weib, als die Stunde der Geburt sich näherte, brachten eine Veränderung in ihre Gefühle. Er sprach mit Jenny darüber: „Ich habe Angst, Jenny. Ich habe deine Mutter doch so lieb, weißt du.“ Er sprach auch davon, wie krank sie gewesen war, als Jenny geboren wurde.

Das Gefühl des Unnatürlichen und Unreinen an dem Zustand der Mutter wich von ihr, während er sprach. Aber auch das Gefühl, daß das Verhältnis zwischen ihr und der Mutter etwas Mystisches und Uebernatürliches war. Es wurde alltäglich und selbstverständlich — sie war geboren worden, und die Mutter hatte Schweres erlitten um ihretwillen, sie war sehr klein gewesen, hatte der Mutter bedurft, und um alles dessentwillen hatte sie die Mutter geliebt. Nun aber kam ein neues kleines Kind, das der Mutter mehr bedürfen würde. Jenny fühlte sich mit einem Male erwachsen, sie hatte Sympathie sowohl für die Mutter als für Berner und sie tröstete ihn altklug: „Ja, aber du weißt doch, es pflegt doch gut auszugehen. Ich finde, sie sterben doch fast nie daran.“

Dennoch hatte sie vor Verlassenheit geweint, als sie ihre Mutter mit dem neuen kleinen Kinde sah, das all ihre Zeit und ihre Sorge in Anspruch nahm.

Aber sie gewann das kleine Ding lieb, besonders als Klein-Ingeborg das erste Jahr überschritten hatte und der süßeste, schwärzeste kleine Zigeunerkobold wurde, den man sich denken konnte, und als die Mutter ein neues Kindchen bekam.

Eigentlich hatte sie niemals das Gefühl gehabt, als seien die Bernerschen Kinder ihre Geschwister. Sie glichen ganz ihrem Vater. Jetzt bezeichnete sie ihr Verhältnis zu ihnen annähernd als tantenhaft — sie kam sich fast wie eine ältere „vernünftige Tante“ vor, sowohl ihrer Mutter als den Kindern gegenüber.

Als das Unglück geschah, war die Mutter jünger und schwächer als Jenny. Sie war wieder jung geworden, Frau Winge, in ihrer neuen glücklichen Ehe, nur ein wenig müde und mitgenommen von den drei Wochenbetten, die dicht aufeinander folgten. Nils war nur fünf Monate alt, als sein Vater starb.

Berner stürzte eines Sommers drüben von den Skagastölspitzen ab und starb auf der Stelle. Jenny war damals sechzehn Jahre alt. Die Verzweiflung ihrer Mutter war grenzenlos; sie liebte ihren Mann und war von ihm vergöttert worden. Jenny versuchte, ihrer Mutter zu helfen, so gut sie konnte. Wie sehr sie selber um ihren Stiefvater trauerte, zeigte sie niemanden. Sie wußte nur zu gut, daß sie den einzigen Kameraden verloren hatte, den sie je besessen.

Nach dem Mittelschulexamen war sie auf die Zeichenschule gegangen und hatte zu Hause geholfen. Berner hatte sich immer für ihre Zeichnungen interessiert und war der erste gewesen, der sie einiges über Perspektive und dergleichen lehrte, soviel, wie er selber wußte. Er hatte geahnt, daß sie Talent hatte.

Leddy, seine Hündin, zu behalten, dazu fehlten ihnen die Mittel. Die beiden kleinen, dicken Jungen wurden verkauft, und die Mutter meinte auch, Leddy müßte weggegeben werden — es war ein kostbares Tier. Es trauerte tief um seinen Herrn. Aber niemand anderes durfte Berners Hund bekommen, wenn sie ihn nicht selbst behalten konnten — das setzte Jenny durch; einmal bekam sie aus diesem Anlaß einen hysterischen Anfall. Sie brachte das Tier selbst an einem Abend zu Rechtsanwalt Iversnäs, Berners altem Kameraden, der es an einem Sonntage mit über Land nahm, es erschoß und neben einer Hütte begrub.

Was Berner ihr gewesen war — Kamerad und Freund — das versuchte sie, seinen Kindern zu sein. Zu den Stiefschwestern wurde das Verhältnis, als sie nach und nach heranwuchsen, weniger innig, jedoch ganz freundschaftlich — sozusagen mit großem Abstand. Jenny machte auch nicht den Versuch, ihnen näherzukommen. Sie waren jetzt zwei sehr liebe, kleine Mädchen im Backfischalter, mit Bleichsucht, kleinen Verliebtheiten, Freunden und Freundinnen und ständigen Tanzvergnügen, munter und reichlich indolent. Doch der kleine Nils und Jenny waren im Laufe der Jahre immer bessere Kameraden geworden. Kalfatrus hatte Vater den kleinen Burschen getauft, und Jenny behielt den Namen bei. Er selbst nannte die Schwester Indiana.

In den ganzen letzten Jahren der Trübsal waren die Nordmarksfahrten mit Kalfatrus die einzigen Stunden gewesen, in denen sie sich ausruhte. Am liebsten zogen sie im Frühling oder Herbst hinaus, wenn nur wenig Menschen in den Wäldern waren. Dann saß sie mit dem Jungen schweigend da und starrte in das Feuer, das sie sich gemacht hatten — oder sie lagen langgestreckt auf dem Boden, in ihrem eigenen fürchterlichen Pöbeljargon schwatzend, den sie daheim nicht hören lassen durften mit Rücksicht auf die Gefühle der Mutter.

Das Porträt von Kalfatrus war das erste Bild, mit dem sie zufrieden gewesen war. Es war auch brillant, und Gunnar schwor darauf, daß es in die Galerie hätte kommen müssen. Sie hatte seitdem auch nie wieder ein Bild gemalt, das so gut gelungen war.

Sie hätte Berner malen müssen, Papa. Sie hatte ihn so gerufen, als seine Kinder zu sprechen anfingen. Damals hatte sie auch die Mutter Mama genannt. Damit hatte sie gewissermaßen vor sich selbst die Veränderung bestätigt, die mit der Mutter ihrer kurzen Kindheit und in dem Verhältnis zwischen ihnen vor sich gegangen waren.

Und dann die erste Zeit hier unten! Als endlich der wahnsinnige Druck wich, der auf ihr gelegen hatte. Dieser Druck hatte ihr weh getan. Jetzt fühlte sie erst, wie jeder Nerv in ihr vor Ueberanstrengung gezittert hatte. Und sie hatte geglaubt, sie sei zu alt geworden, um jemals die Jugend zurückzuerobern. Von Florenz erinnerte sie sich an nichts weiter, als daß sie dort gefroren und sich verlassen gefühlt und nicht imstande gewesen war, das Neue in sich aufzunehmen. Ab und zu sah sie blitzartig den unendlichen Schönheitsreichtum um sich her und wurde verrückt vor Sehnsucht danach, ihn zu erfassen, zu verstehen und jung zu sein, zu lieben und geliebt zu werden.

Dann die Lenztage, als Gunnar und Franziska sie mit nach Viterbo nahmen. Sonnenschein in dem nackten Eichenwalde, wo Anemonen und Veilchen und gelbe Aurikeln in dichten Massen zwischen dem bleichen, welken Laube blühten. Die kochenden, stinkenden Schwefelquellen, die draußen auf der fahlen steppenartigen Ebene vor der Stadt dampften, das Feld rings um den klagenden Quell war leichenblaß von erstarrtem Kalk. Der Hohlweg dort hinaus mit den Tausenden von smaragdgrünen, blitzähnlich hin- und herschießenden Vögeln in den Steinwällen, die Olivenbäume in den Wiesen, über denen weiße Schmetterlinge sich wiegten. Dann die alte Stadt mit den singenden Springbrunnen, den schwarzen mittelalterlichen Häusern und den Türmen an der Ringmauer und über allem der Mondschein in den Nächten. Und der gelbe, leicht prickelnde Wein, der von der vulkanischen Erde, auf der er gewachsen war, feurig schmeckte.

Sie hatte mit den neuen Freunden Brüderschaft getrunken. Des Nachts vertraute Franziska ihr die Geheimnisse ihres ganzen bunten jungen Lebens an und kroch schließlich in ihr Bett, um sich trösten zu lassen. Während sie lag, wiederholte sie: Wie gut du bist! In der Schule hatte ich immer Angst vor dir! Daß du so gut bist!

Gunnar war in beide verliebt. Er war übermütig wie ein junger Faun von Lenz und Sonne. Und Franziska ließ sich küssen und lachte und nannte ihn einen Schwatzmichel.

Sie aber hatte Angst — nicht vor ihm. Aber sie wagte nicht, seinen heißen roten Mund zu küssen, weil es sie nach etwas Sinnlosem, etwas Berauschendem und Leichtsinnigem gelüstete, das nur diese Tage über währen sollte, während Sonne und Lenz und Anemonen leuchteten und sie hier waren, etwas, worüber sie sich keine Rechenschaft zu geben brauchte. Sie wagte aber nicht, aus ihrem alten Ich zu schlüpfen, sie fühlte, sie würde dem Leichtsinn nicht leichtsinnig ein Ende machen können und er gewiß auch nicht. Sie hatte Gunnar Heggen des öfteren beobachtet — mit anderen Frauen, mit denen er kleine Liebeleien gehabt hatte. Er war so, wie sie waren, und doch wieder nicht ganz, tief im Innern war er er selbst, ein Mann, der besser war als die meisten Frauen.

Später hatte er über seine eigene Verliebtheit gelacht. Sie waren Freunde geworden, mehr und mehr. In der herrlichen, friedvollen, arbeitsreichen Zeit in Paris und später wieder hier unten.

Aber dies hier mit Gram war ja etwas ganz anderes. Er weckte wahrhaftig keine verwegenen Gelüste oder wilden Sehnsuchtsgefühle in ihr. Herrgott — sie mochte ihn eben gern. Er war durchaus nicht dumm, wie sie erst gedacht hatte, nur gleichsam verschüchtert war er gewesen, als er hierher kam. Das war nun freilich etwas, das sie am besten hätte verstehen müssen. Etwas Weiches, Junges und Frisches lag über ihm, das sie an ihm gern mochte. Es war ihr deshalb, als sei er viel mehr als nur zwei Jahre jünger als sie. Was er indes von seiner Verliebtheit sagte — war es wohl etwas anderes als nur ein kleiner Ueberschuß an Freude, wie sie ihn bei all dem Neuen und Befreienden erfaßte? Es war sicher ganz ungefährlich, sowohl für ihn als für sie.

Sie hatten sie wohl lieb, die zu Hause. Franziska und Gunnar auch. Und doch — ob wohl einer von ihnen heute Nacht an sie dachte? Sie war ganz und gar nicht betrübt darüber, daß sie von einem wußte, der es tat.