Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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Zweites Buch

I.

Als Jenny in Fredrikshald über den Bahnsteig lief, um im Warteraum ein wenig Kaffee zu sich zu nehmen, hielt sie einen Augenblick inne. Irgendwo über ihr tirilierte eine Lerche.

Sie schloß die Augen, als sie dann am Abteilfenster saß. Die Sehnsucht nach dem Süden war schon erwacht.

Der Zug sauste an kleinen, mutwillig zerrissenen und geborstenen Bergkuppen aus rotem Granit vorbei. Der Fjord schimmerte stellenweise in ungebrochenem, leuchtendem Azurblau hindurch. An den Felsen hinan klammerte sich die Föhre fest. Die Nachmittagssonne lag auf roten, erzen schimmernden Stämmen und tiefgrünen, metallblanken Kronen; es war, als glänzte alles vom Bade nach der Schneeschmelze. Bächlein gurgelten den Bahnkörper entlang, und die nackten Kronen der Laubbäume leuchteten in der klaren Luft.

Es war hier so anders als im Lenz des Südens. Sie aber sehnte sich nach ihm — seinem langsamen, gesunden Atem, seiner Farben milder Freude. Diese Farbenorgien hier erinnerten sie an andere Lenztage — mit wilder Sehnsucht nach heißen Freuden, die ihrem jetzigen ruhigen Glück nicht eigen waren.

Oh, der Frühling dort unten mit dem leise sprießenden Grün auf der endlosen Ebene! Das Gebirge umgab sie mit strengen, festen Linien. Die Menschen hatten den Wald gerodet und ihre mauergekrönten steingrauen Städte auf den Felsspitzen errichtet, ihre silberfarbenen Olivenhaine an den Hängen aufgepflanzt. Das Leben hatte sich Jahrtausende über in den Felsen geregt, und die Berge trugen geduldig die kleine Welt auf ihren Schultern, dennoch in ewiger Einsamkeit und Ruhe ihre Scheitel gen Himmel hebend. Diese stolzen, strengen Linien, der Farben gedämpftes Silbergrau, Graublau und Grüngrau, diese uralten Städte und der langsam vorwärtsschreitende Frühling! Wie viel man auch erzählte von des Südens schäumendem Leben, so schien dort doch der Lebensodem in ruhigem, gesünderem Zeitmaß die Menschen zu durchströmen als hier im Norden. Trotz des Lenzes mutwilliger Gewalt im Süden war es dort leichter, die Frühlingswoge vorüberbrausen zu lassen.

Ach Helge! Könnte ich doch bei dir sein! Ihr schien die Zeit, die sie mit ihm verlebt, so unendlich fern. Kaum eine Woche war vergangen, seit sie sich getrennt hatten, und doch war ihr alles wie ein Traum, als sei sie nie von der Heimat fortgewesen.

Wie dankte sie dem Schicksal, das sie von hier geführt. So hatte sie nicht zu sehen und zu fühlen brauchen, wie der weiße, ruhevolle, frostklare Winter wich, wie die klingende, stärkende, lichtblaue Luft, von silberreinem, feuchtem Dunst durchtränkt, über den braunen Erdschollen zitterte. Die Luft flimmerte, alle Linien lösten sich auf, während die Farben scharf und brennend, gleichsam nackt, hervortraten, bis der Abend kam, und alles unter einer Flut blaßgrünen, zehrenden Lichtes erschauerte, das nicht weichen wollte.

Mein kleiner Junge, was du wohl jetzt treibst. Ich sehne mich ja so nach dir — ich kann es fast nicht glauben, daß du mir gehörst. Ich will bei dir sein, ich will nicht allein hier umhergehen und mich den ganzen langen, unheimlich hellen Frühling hindurch nach dir verzehren. —

Weiter hinauf in Smaalene lagen schmelzende Schneestreifen am Waldessaum und unter den Steinwällen. Die welkbraunen Erdschollen und umgepflügten Aecker breiteten sich in milden Farben aus, und hier, wo die Himmelskuppel sich höher wölben konnte, erblaßte das blendend starke Blau nach dem Horizonte zu allmählich. Die niedrige wellige Kette der bewaldeten Bergkuppen lag weit drüben, während das feine Geäst der einzelnen freistehenden Baumgruppen draußen im Lande sich wie Spitzenwerk in der Luft abzeichnete.

Altersgraue Gehöfte gleißten wie Silber, und neue rote Nebengebäude glühten tief auf. Der Föhrenwald leuchtete olivengrün, Birkendickicht und Espenstämme hoben sich rotviolett und lichtgrün dagegen ab.

Ja, es war Frühling. Die hitzigen Farben brennen eine Weile, bis alles gelbgrün schimmert und vor Lebensfreude eine Zeitlang strahlt, um ein paar Wochen später zu dunkeln und zu reifen und dem Sommer zu weichen.

Der Frühling des Nordens ist unersättlich — kein Glück ist ihm strahlend genug! —

Der Abend fiel hernieder, während der Zug gen Norden brauste. Die letzten langen, roten Sonnenstrahlen blitzten über eine Felskuppe. Dann blieb nur ein güldener Schein am wolkenlosen Himmel zurück, der unendlich langsam hinstarb.

Als der Zug Moß verließ, ragten die Berge kohlschwarz zum grünlichklaren Himmel auf. Die Spiegelung lag noch tiefdunkler, durchsichtig schwarz auf dem grasgrünen Fjord. Ein einziger großer Stern stand über der Bergspitze, sein Bild drunten auf dem Wasser zitterte wie ein dünner Strahl Goldes.

Jenny mußte an Franziskas Nachtbilder denken. Das Leben der Farben nach Sonnenuntergang war das, was Cesca am liebsten festzuhalten suchte. Gott weiß, wie es ihr eigentlich ging. Sie arbeitete übrigens fleißig in der letzten Zeit. Jenny hatte Gewissensbisse. Die beiden letzten Monate hatte sie Cesca kaum gesehen und doch durchfuhr sie oftmals der Gedanke, daß Cesca es wohl schwer hatte. Aber alle guten Vorsätze Jennys, sich einmal mit Cesca auszusprechen, waren umsonst gewesen.

Es war Nacht, als sie in Kristiania einfuhr. Mutter, Bodil und Nils nahmen sie auf dem Bahnhof in Empfang.

Ihr war, als hätte sie die Mutter erst vor einer Woche gesehen. Frau Berner weinte, als sie die Tochter küßte: „Willkommen daheim, mein liebes Kind — Gott segne dich!“

Bodil aber war groß geworden. Sie sah fesch und elegant aus in dem fußfreien Straßenkostüm. Kalfatrus begrüßte sie ein wenig fremd.

Diese Luft auf dem Bahnhofsmarkt war etwas für sich, die gab es in der ganzen Welt nicht wieder — Geruch von Seewasser und Kohlenruß und Heringslauge.

Die Droschke holperte über die Carl Johannstraße, an den bekannten Häusern vorüber. Die Mutter fragte sie nach der Reise. — Jenny überkam ein seltsam alltägliches Gefühl. Es war ihr, als sei sie niemals fort gewesen. Die Kinder auf dem Rücksitz sprachen kein Wort.

Oben auf dem Wergelandswege, vor einer Gartentür, standen zwei junge Menschen und küßten sich unter einer Gaslaterne. Ueber den nackten Baumkronen des Schloßparkes wölbte sich der Himmel tiefblau und klar mit wenigen mattschimmernden Sternen. Jenny spürte einen Hauch wie von moderndem Laub durch die Nacht, einen Hauch aus vergangenen sehnsuchtsschweren Tagen.

Der Wagen hielt vor dem Tore daheim, ein großer ummauerter Hof zog sich hinter dem Hause den Haegdehaug hinauf. Im Milchladen des Erdgeschosses war Licht und die „Delikatesse“ guckte heraus, als sie den Wagen halten hörte, rief Guten Tag und bot Jenny ein Willkommen.

Ingeborg kam die Treppe herabgestürmt und umfing Jenny. Dann lief sie mit dem Handkoffer der Schwester wieder nach oben.

Im Wohnzimmer war der Teetisch gedeckt. Jenny erblickte ihre Serviette mit dem alten Silberring, der noch vom Vater stammte, auf ihrem alten Platz, neben Kalfatrus auf dem Sofa.

Ingeborg stürzte in die Küche hinaus, während Bodil Jenny in ihr Kämmerchen führte, das nach dem Hofe hinausging. Ingeborg hatte es bewohnt, während Jenny im Auslande war, sie hatte noch nicht alle ihre Sachen beiseite geräumt. An den Wänden hingen Schauspielerkarten; Napoléon und Madame Recamier in Mahagonirahmen waren an jeder Seite von Jennys altem Empirespiegel über der Kommode angebracht.

Jenny wusch sich und ordnete ihr Haar. Sie hatte das Gefühl, als sei ihre Haut schwarz von der Reise, und fuhr sich mit der Puderquaste ein paar Mal über das Gesicht. Bodil schnupperte am Puder — ob er parfümiert sei.

Sie gingen hinein zum Tee. Ingeborg hatte ein warmes Fischgericht zubereitet, sie war in diesem Winter auf der Kochschule gewesen. Hier drinnen unter der Lampe sah Jenny, daß beide Schwestern die dicken krausen Flechten im Nacken mit weißer Seidenschleife hochgebunden trugen. Ingeborgs kleines Mulattenfrätzchen war ein wenig schmaler und bleicher geworden, sie hustete aber jetzt nicht.

Und nun sah Jenny auch, daß die Mutter älter geworden war. Oder täuschte sie sich? Hatte sie vielleicht damals, während sie daheim war und sie jahrelang Tag für Tag sah, nur nicht bemerkt, daß der feinen Fältchen in Mutters blondem Antlitz mehr und mehr, daß die Schultern spitzer wurden, die hohe, mädchenhaft schlanke Gestalt gebeugter? Seit Jenny erwachsen war, hatte sie hören müssen, daß Mama aussah wie ihre etwas ältere, schönere Schwester.

Es wurde von allem gesprochen, was sich im verflossenen Jahre daheim zugetragen hatte.

„Warum nahmen wir eigentlich kein Automobil für den Heimweg?“ fragte Nils plötzlich. „Das wäre doch das Praktischste gewesen.“

„Du kommst nun allerdings reichlich spät mit deinem Vorschlag, Junge.“ Jenny mußte lachen.

Das Gepäck kam, und Mutter wie Schwestern folgten atemlos dem Auspacken. Ingeborg und Bodil trugen die Sachen ins Kämmerchen und verstauten sie in den Kommodeschiebladen. Sie befühlten fast mit Andacht die gestickte Wäsche, die, wie Jenny erklärte, in Paris gekauft war. Ueber die Geschenke jubelten sie — Rohseide für Sommerkostüme und venetianische Perlenketten. Sie standen vor dem Spiegel, warfen die Seide prüfend über die Schulter und legten die Halsketten um die Stirn.

Nur Kalfatrus fragte nach ihren Bildern und lüftete die Blechtrommel mit der Leinwand.

„Wieviel hast du da, Jenny?“

„Sechsundzwanzig. Es sind aber meistens kleine Bilder.“

„Wirst du eine Separatausstellung veranstalten?“

„Ich weiß noch nicht recht, gedacht habe ich daran.“

Die Mädels hatten aufgewaschen, Nils hatte sein Bett auf dem Sofa in der Wohnstube zurechtgemacht. Frau Berner und Jenny saßen im Zimmer der Tochter bei einer zweiten Tasse Tee und einer Zigarette.

„Wie findest du Ingeborg?“ fragte die Mutter ängstlich.

„Sie ist frisch und lebhaft, sieht auch nicht schlecht aus. Aber natürlich, in ihrem Alter ist nicht damit zu spaßen. Wir müssen sehen, daß wir sie aufs Land hinausschicken, bis sie wieder ganz frisch ist, Mama.“

„Ingeborg ist immer so lieb und gut, munter und vergnügt. Und so tüchtig im Haushalt. Ich bange mich so um ihretwillen, Jenny. Ich glaube, sie hat diesen Winter zu viel getanzt, ist allzu viel draußen gewesen und zu spät ins Bett gekommen. Aber ich brachte es nicht übers Herz, es ihr zu verbieten. Du hattest es so trübselig, Jenny, und ich sah sehr wohl, daß du Vergnügen und Freude entbehrtest. — Ich war überzeugt, sowohl du wie Papa würden mir Recht geben, wenn ich dem Kinde sein Vergnügen ließe, solange es sich bot.“ Frau Berner seufzte. „Meine armen kleinen Mädels — Mühsal und Arbeit, das ist es nur, was sie erwartet. Was soll werden, Jenny, wenn ihr mir noch obendrein krank werdet? Ich kann so wenig für euch tun, meine Kinder.“

Jenny beugte sich zu ihr hinüber und küßte ihr die Tränen von den schönen, kindergroßen Augen. Sie schmiegte sich an die Mutter und die Sehnsucht, Zärtlichkeit zu erweisen und selber zu empfangen, die Erinnerung an vergangene Tage der Kindheit und das Bewußtsein, daß ihre Mutter der Tochter Leben mit seinen früheren Sorgen und seiner jetzigen Glückseligkeit nicht gekannt hatte, flossen zusammen zu dem Gefühl schützender Liebe. Frau Berner legte ihren Kopf an der Tochter Brust.

„Nicht weinen, Mama — das wird alles schon werden, du sollst nur sehen. Nun bleibe ich ja vorläufig zu Hause. Und dann haben wir doch Gott sei Dank noch etwas von Tante Katharines Geld übrig.“

„Aber Jenny, das brauchst du doch für deine Ausbildung. Ich habe ja nach und nach eingesehen, daß du an deiner Ausbildung nicht gehindert werden darfst. Es war eine solche Freude für uns alle, als du das Bild im letzten Herbst verkauftest.“

Jenny lächelte ein wenig. Jenes Bild, das verkauft wurde, und die wenigen Worte in der Zeitung über sie — es war, als sähe ihre ganze Familie danach mit ganz anderen Augen auf ihre Malerei.

„Das renkt sich noch alles ein, Mama. Alles. Ich kann etwas nebenher verdienen, wenn ich zu Hause bin. Ein Atelier muß ich haben,“ sagte sie einen Augenblick darauf. Und sie fügte hinzu, hastig, erläuternd: „Denn ich muß meine Bilder im Atelier vollenden.“

„Ja aber,“ die Mutter sah ganz entsetzt aus. „Du wohnst doch zu Hause, Jenny?“

Jenny antwortete nicht gleich.

„Ich finde, es geht nicht anders, mein Kind,“ fuhr die Mutter fort. „Ein junges Mädchen kann nicht allein im Atelier wohnen.“

„Nein, gewiß, wohnen kann ich hier,“ entgegnete Jenny. —

Sie holte Helges Photographie hervor, als sie allein war. Dann setzte sie sich hin, um an ihn zu schreiben.

Erst ein paar Stunden war sie jetzt zu Hause. Aber alles, was sie dort unten erlebt hatte, schien ihr so grenzenlos fern und fremd. So ohne Zusammenhang mit ihrem Leben hier zu Hause — früher und jetzt.

Der Brief wurde zu einer einzigen sehnsüchtigen Klage.