Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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II.

Jenny hatte ein Atelier gemietet. Sie ging umher und räumte ein. Nachmittags kam Kalfatrus, um ihr zu helfen.

„Du bist ein gefährliches Langbein geworden, Kalfatrus. Ich war nahe daran, Sie zu dir zu sagen, Bengel, als ich dich das erste Mal sah.“

Der Junge lachte.

Jenny erkundigte sich nach all seinem Tun und Lassen während ihrer Abwesenheit, und Nils erzählte. Er und Jakop und Bruseten — zwei neue Jungen, die im vergangenen Herbst in die Klasse gekommen waren — hatten eine Zeitlang oben in Nordmarken in den Holzhauerkojen als Wilde gelebt, und ihrer Abenteuer waren unzählige. Jenny fragte sich, während sie ihm zuhörte, ob wohl je wieder Zeit bliebe zu Nordmarksfahrten für sie und Kalfatrus. —

An den Vormittagen streifte sie in der Gegend von Bygdö umher — allein in dem weißen Sonnenschein. Bleich lag die Erde mit dem toten, gelblichweißen Gras da. Am Waldrande nach Norden zu fand sich noch immer alter Schnee unter den stahlschwarzen Nadeln. Aber an den Südhängen schimmerten die nackten Zweige der Laubbäume in der sonnengetränkten Luft, und unter dem alten, wärmenden Laub lugten weiche Blauanemonenknöspchen hervor. Dort draußen war die Luft schon von Vogelgezwitscher erfüllt. —

Helges Briefe las sie wieder und wieder — sie trug sie bei sich. Sie sehnte sich nach ihm, krankhaft, ungeduldig, sehnte sich, ihn zu schauen, ihn zu berühren, zu fühlen, daß sie ihn auch wirklich besaß.

Zwölf Tage war sie nun daheim, und noch war sie nicht dazu gekommen, zu seinen Eltern zu gehen. Als er schließlich zum dritten Male in einem Briefe fragte, raffte sie sich auf. Morgen sollte es Wahrheit werden.

Das Wetter war im Laufe der Nacht umgeschlagen. Ein beißender Nordwind fegte daher — stechende Sonnenglut und wirbelnde Wolken von Staub und Papier in den Straßen — und plötzlich ein Hagelschauer, so heftig, daß sie in einem Torweg Schutz suchen mußte. Die harten weißen Körner spritzten rings um ihre niedrigen Schuhe und dünnen Sommerstrümpfe von den Pflastersteinen auf.

Dann kam die Sonne wieder hervor.

Grams wohnten in der Welthavensstraße. Jenny stand einen Augenblick an der Ecke still. Der Schatten lag klamm und eiskalt zwischen den beiden Reihen schmutziggrauer Häuser. Nur auf der einen Seite fiel hoch oben ein Sonnenstreifchen hinein. Sie wurde froh, sie wußte, daß Helges Eltern im vierten Stock wohnten.

Diese Straße war vier Jahre hindurch ihr Schulweg gewesen. Da waren sie wieder, die winzig kleinen dunklen Kaufläden, die Fenster mit Blumentöpfen in zerrissenem Seidenpapier und farbigen Majolikakrügen und die vergilbten Modenzeitungen an den Fenstern der Näherinnen, die Torwege, die auf kohlschwarze Hinterhöfe hinausstarrten. Noch immer lagen hier Haufen schmutzigen Schnees und machten die Luft in den Hofräumen rauh. Die Straßenbahnen fuhren mit schwerem Getöse die hügelige Straße hinauf.

Gleich daneben, an der Pilengasse, lag eine von den rußigen, grauen Mietskasernen mit einem Hofplatz, der einer dunklen Höhle glich. Dort hatten sie gewohnt, als der Stiefvater starb.

Sie verweilte ein wenig draußen vor der Eingangstür mit dem Messingschilde G. Gram. Sie hatte Herzklopfen und versuchte, über sich selbst zu lachen. Immer ging es ihr so; sinnlos beklommen war sie, wenn sie in eine Lage kam, die sie sich nicht Jahre im voraus hatte ausmalen können. Herrgott — ein Paar zukünftiger Schwiegereltern waren doch keine besonders wichtigen Persönlichkeiten für sie. Auffressen würden sie sie jedenfalls kaum können. Sie läutete.

Drinnen hörte sie jemanden durch einen langen Korridor kommen, und gleich darauf wurde die Tür geöffnet. Helges Mutter. Jenny erkannte sie von der Photographie her.

„Frau Gram? — Mein Name ist Winge.“

„Ah so — bitte sehr, wollen Sie nicht nähertreten?“

Sie ging vor Jenny her durch einen langen, engen Gang, der angefüllt war mit Schränken, Kisten und Mänteln.

„Bitte schön,“ sagte Frau Gram wieder und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Helles Sonnenlicht lag auf den schweren moosgrünen Plüschmöbeln; der Raum war nicht groß und gestopft voll von Nippes und Photographien. Auf dem Fußboden lag ein Teppich in schillernden Farben, vor allen Türen hingen Plüschportieren.

„Entschuldigen Sie die Unordnung, ich habe hier so lange nicht Staub wischen können,“ sagte Frau Gram. „Wir sind an Werktagen nämlich nie in diesem Zimmer, und ich bin augenblicklich ohne Mädchen. Das letzte mußte ich wegjagen — die ärgste Schmutzliese, und dann konnte sie ihren Mund nie halten. So sagte ich ihr denn, sie sollte machen, daß sie fortkäme. Aber eine neue zu bekommen — das ist unmöglich, und schließlich sind sie eine wie die andere. Nein, Hausfrau, das ist der schlimmste Beruf, den es gibt. — Ja, Helge hatte uns ja auf Ihren Besuch vorbereitet, jetzt hatten wir aber die Hoffnung wahrhaftig aufgegeben, daß Sie uns die Ehre geben würden.“

Während sie lächelte und sprach, zeigte sie eine Reihe großer, weißer Vorderzähne. An beiden Seiten fehlten die Augenzähne und hatten eine dunkle Lücke hinterlassen.

Jenny betrachtete sie, Helges Mutter.

Sie hatte sich dies alles so ganz anders gedacht.

Nach seinen Erzählungen hatte sie sich ein Bild von seinem Heim und seiner Mutter gemacht. Die Mutter mit dem schönen Antlitz, das auf der Photographie Helge ähnlich war, mochte sie gern. Sie, die der Mann nicht liebte, die aber ihre Kinder so geliebt hatte, daß sie sich dagegen auflehnten und rebellierten, hinaus wollten, fort von dieser tyrannischen Mutterliebe, die es nicht ertrug, daß sie etwas anderes seien als nur ihre Kinder. In ihrem Herzen hatte Jenny Partei ergriffen für diese Mutter. Männer konnten kaum verstehen, wie eine Frau werden mußte, die Liebe gab und niemals Liebe zurück empfing, außer der Kindesliebe der ersten Jahre. Die Kinder begriffen ja die Gefühle einer Mutter nicht, wenn sie sie heranwachsen und sich von ihr abwenden sah, begriffen nicht, daß eine Mutter sich in Trotz und Zorn gegen das unerbittliche Leben auflehnte, das daran Schuld war, daß die Kinder groß wurden und nicht mehr ihr Ein und Alles in der Mutter sahen, für die doch bis in alle Ewigkeit die Kinder das Höchste bedeuteten.

Jenny hatte Helges Mutter lieben wollen.

Und nun empfand sie eine rein physische Abneigung gegen diese Frau Gram, die da vor ihr saß und unaufhörlich redete.

Es waren wohl Helges Züge wie auf dem Bilde. Diese hohe, ein wenig schmale Stirn, die fein gebogene Nase und die gradlinigen, dunklen Brauen, der kleine Mund mit den feinen schmalen Lippen und das spitze Kinn.

Um ihren Mund lag aber ein Ausdruck, als ob alles, was sie sprach, nur Spott sei. Ein spöttischer und bösartiger Zug war in all den feinen Runzeln des Gesichts. Die großen Augen, selten schön geschnitten mit ganz emailleblauem Weiß im Apfel, hatten einen harten, stechenden Blick, diese großen, tiefbraunen Augen, die viel dunkler waren als die Helges.

Schön mußte sie gewesen sein, selten schön. Und dennoch wußte Jenny ganz bestimmt, was ihr früher schon einmal eingefallen war, daß Gert Gram diese Frau kaum aus Liebe geheiratet hatte. Dame war sie auch durchaus nicht — weder in Sprache noch Wesen. Es gab ja so viele nette junge Mädchen im Mittelstande, die zu Vetteln wurden, sobald sie eine Weile verheiratet waren und sich in der Enge des Hauses mit Dienstmädchen- und Wirtschaftssorgen einige Jahre abgeplagt hatten.

„Kandidat Gram bat mich, zu Ihnen zu gehen und Sie von ihm zu grüßen,“ sagte Jenny. Sie empfand es plötzlich als eine Unmöglichkeit, Helge bei seinem Namen zu nennen.

„Ja, er war in der letzten Zeit nur mit Ihnen zusammen, in den letzten Briefen erwähnt er jedenfalls niemand anderes. Uebrigens schwärmte er im Anfang wohl ein bißchen für ein kleines Fräulein Jahrmann, glaube ich?“

„Meine Freundin, Franziska — ja, im Anfang waren wir eine ganze Schar, die sich oft zusammenfand. Aber jetzt zuletzt war Fräulein Jahrmann mit einer größeren Arbeit beschäftigt.“

„Sie ist wohl die Tochter von Oberstleutnant Jahrmann in Tegneby? Hat sie nicht Geld?“

„Nein. Ihre Ausbildung bestreitet sie von dem Wenigen, was sie von ihrer Mutter geerbt hat, sie steht nicht eben auf gutem Fuße mit ihrem Vater, d. h. er wünschte nicht, daß sie Malerin wurde, und dann wollte sie nichts von ihm annehmen.“

„Wie töricht. — Meine Tochter, Frau Kaplan Arnesen,“ sagte Frau Gram, „kennt sie flüchtig, sie war hier zu Weihnachten. Sie meinte übrigens, da spielten andere Gründe mit, weshalb Oberstleutnant Jahrmann nichts mit ihr zu tun haben wollte; sie soll ja so hübsch sein, aber einen recht schlechten Ruf haben.“

„Das ist durchaus unwahr,“ sagte Jenny steif.

„Ja, Sie Künstlerinnen haben es gut,“ Frau Gram seufzte. „Aber ich begreife nicht, wie Helge arbeiten konnte. Ich fand, er schrieb nie von etwas anderem, als daß er mit Ihnen hier und dort in der Campagna herumgestreift sei.“

„Oh — oh,“ sagte Jenny. — Es war peinlich über das Leben dort unten aus Frau Grams Munde zu hören. „Kandidat Gram war sehr fleißig, fand ich. Einen Feiertag muß man doch hin und wieder haben.“

„Ja. Wir Hausfrauen müssen freilich ohne solche auskommen. Warten Sie, bis Sie verheiratet sind, Fräulein Winge. Aber auch andere Menschen sollen ihre freien Tage haben. Ich habe eine Nichte, die eben Volksschullehrerin geworden ist. Sie sollte Medizin studieren, konnte es aber nicht aushalten, sie mußte aufhören und aufs Seminar gehen. Ja, ich finde, die hat immer frei. Du wirst dich doch wahrhaftig nicht überanstrengen, Aagot, sage ich zu ihr.“

Frau Gram verschwand durch eine Tür auf den Korridor hinaus. Jenny erhob sich und betrachtete die Malereien.

Ueber dem Sofa hing eine große Campagnalandschaft. Man konnte wohl sehen, daß Helges Vater in Kopenhagen gelernt hatte. Das Bild war gut und solide gezeichnet, aber dünn und trocken in der Farbe. Besonders der Vordergrund mit den beiden Italienerinnen in Nationaltracht und den miniaturartig gemalten Pflanzen an einer umgestürzten Säule waren langweilig. Die Modellstudie eines jungen Mädchens darunter war besser.

Sie mußte lächeln. — Man konnte beim Anblick dieser italienischen Romantik verstehen, daß es Helge im Anfang schwer gefallen war, sich in Rom zurechtzufinden, und daß es ihn enttäuscht hatte.

Da waren viele kleine braune, zierlich gezeichnete Landschaften von Italien mit Ruinen und Nationaltrachten. Aber die Studie des Priesters dort war gut.

Einige Kopien dagegen — Corregios Danaë und Guido Renis Aurora — oh Gott! Außerdem fanden sich noch einige andere Kopien von barocken Bildern, die sie kaum kannte.

Dann hing an der einen Seite noch eine große hellgrüne Sommerlandschaft. Gram hatte versucht, impressionistisch zu malen. Das Bild war aber dünn und häßlich in den Farben. Das dort über dem Klavier war besser. Sonnenglut über den Felsspitzen, die Luft war entzückend wiedergegeben.

Daneben hing ein Porträt der Frau des Hauses. Das war das beste. Tatsächlich, es war gut. Die Gestalt plastisch modelliert. Ebenso die Hände. Dann das hellrote Kleid mit den Verzierungen, die durchbrochenen schwarzen Halbhandschuhe. Das olivenbleiche Gesicht mit den dunklen Augen unter den Stirnlocken und der hohe, spitze schwarze Hut mit roter Feder. Sie stand aber leider wie an den Hintergrund geklebt, der mit einem säuerlichen Graublau übermalt war.

Und dort noch ein Kinderbild „Bamse vier Jahre“, stand oben auf dem Rahmen. Nein, Herrgott — war das Helge, der kleine schmollende Kerl im weißen Hemdchen? O, wie lieb er aussah!

Frau Gram brachte ein Tablett mit Rhabarberwein und Kakes herein. Jenny murmelte etwas von Umstände machen:

„Ich habe mir die Bilder Ihres Gatten angesehen, Frau Gram.“

„Ja, ich verstehe mich ja nicht sonderlich darauf, aber ich finde sie großartig. Mein Mann behauptet freilich, es wäre nichts an ihnen dran, aber das ist wohl nur so hingesagt. Nein,“ sie lachte etwas bitter. „Mein Mann ist so sonderbar. Von der Malerei konnten wir nicht leben, als wir heirateten und Kinder bekamen, so daß er daneben etwas Nützliches betreiben mußte. Dann hatte er aber keine Lust, so nur nebenher zu malen, und darum behauptete er eines schönen Tages, er hätte kein Talent. Ich finde ja seine Bilder schöner als die modernen Sachen, aber Sie sind wohl anderer Meinung, Fräulein Winge?“

„Ja, die Bilder Ihres Gatten sind sehr schön,“ entgegnete Jenny. „Besonders das Bildnis von Ihnen, Frau Gram. Das ist wirklich reizvoll.“

„O ja. Aber es hat freilich nicht viel Aehnlichkeit — geschmeichelt hat Gram mich nicht.“ Sie lachte wieder ihr kleines, bitteres, böses Lachen. „Nein, das kann man nicht gerade behaupten. Ich finde ja, er malte viel netter, ehe er begann, all das nachzuäffen, was damals plötzlich modern wurde — Sie wissen, Thaulow und Krogh und Konsorten.“

Jenny trank ihren Rhabarberwein schweigend aus, während Frau Gram sprach.

„Ich würde Sie gern zu Mittag einladen, Fräulein Winge. Aber ich mache die Wirtschaft allein und dann ist man ja nicht auf Gäste vorbereitet, das können Sie sich wohl vorstellen. Ich kann also leider nicht. Aber das nächste Mal, hoffe ich.“

Jenny verstand, daß Frau Gram sie gern los sein wollte. Das war ja auch begreiflich, wenn sie kein Mädchen hatte. Sie war wohl gerade beim Mittagkochen. So verabschiedete sie sich denn.

Auf der Treppe traf sie Gram. Er mußte es sein. Sie empfing so im Vorbeigehen den Eindruck, als sähe er sehr jugendlich aus und hätte leuchtend blaue Augen.