Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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IV.

Ende Mai hatte Jenny ungewöhnlich lange Zeit keine Post von Helge bekommen. Sie begann ängstlich zu werden und hatte gerade beschlossen, am nächsten Tage zu telegraphieren, falls sie bis dahin nichts hörte. Nachmittags war sie im Atelier, als jemand an die Tür klopfte. Nachdem sie geöffnet, wurde sie plötzlich von einem Manne, der draußen im Dunkel des Bodenganges stand, ergriffen, umarmt und geküßt.

„Helge!“ Sie jubelte. „Helge, Helge — laß dich anschauen! Oh, nein, wie du mich erschreckt hast! Laß sehen — Helge — bist du es denn wirklich und gewiß?“ Sie zog ihm die Reisemütze vom Kopfe.

„Ja, natürlich, ein anderer kann es doch kaum sein,“ lachte er unbekümmert.

„Aber, Liebster — was hat denn das zu bedeuten?“

„Das will ich dir gleich erklären,“ sagte er, fand aber nicht die Zeit dazu, sondern preßte sein Gesicht an ihren Hals.

„Ich wollte dich nämlich überraschen, weißt du.“ Sie saßen Hand in Hand auf dem Sofa und schöpften Atem nach den ersten heißen Küssen. „Und das ist mir doch gut geglückt, nicht wahr? Laß mich sehen, Jenny. Wie schön du bist! Zu Hause denken sie, ich bin in Berlin. Ich übernachte heute im Hotel und bleibe einige Tage inkognito in der Stadt — findest du das nicht großartig? Es ist übrigens dumm, daß du zu Hause wohnst. Sonst könnten wir den ganzen Tag über zusammen sein —.“

„Weißt du,“ sagte Jenny, „als du klopftest, dachte ich, es sei dein Vater.“

„Vater?“

„Ja.“ Sie wurde im selben Augenblick ein wenig verwirrt. Es fiel ihr plötzlich schwer, ihm den ganzen Zusammenhang zu erklären. „Ja, siehst du, dein Vater machte mir eines Tages einen Besuch, und seitdem ist er manchmal zum Tee zu mir gekommen. Wir haben dann gesessen und von dir gesprochen —.“

„Aber Jenny — davon hast du ja kein Wort geschrieben! Du hast ja gar nicht erwähnt, daß du Vater getroffen hast!“

„Nein, das hab’ ich auch nicht. Ich wollte es dir lieber erzählen —. Die Sache ist also die, siehst du, deine Mutter weiß nichts davon. Dein Vater meinte, es sei besser, es nicht zu erwähnen —“.

„Nicht mir gegenüber?“

„Nein, nein, davon haben wir gar nicht gesprochen. Er denkt sicher, ich habe es dir erzählt. Nein, deine Mutter durfte nicht erfahren, daß wir uns kennen.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Ich fand, es war — nun ich mochte dir nicht schreiben, daß ich mit deinem Vater ein Geheimnis vor deiner Mutter hatte. Verstehst du mich?“

Helge schwieg.

„Es hat mich selber recht bedrückt,“ fuhr sie fort. „Aber er kam eben herauf und besuchte mich. Und ich finde ihn furchtbar nett, Helge; ich habe ihn sehr gern, deinen Vater.“

„Ja — Vater kann ein sehr gewinnendes Wesen haben, wenn er will. Und daß du Malerin bist und —.“

„Deinetwegen, Helge, hat dein Vater mich gern. Das ist der Grund.“

Helge antwortete nicht.

„Und Mutter hast du nur das eine Mal gesehen?“

„Ja. — Aber liebster, bester Freund, bist du nicht hungrig? Soll ich dir ein wenig zurecht machen?“

„Vielen Dank. Und heute Abend gehen wir zusammen essen!“

Wieder pochte jemand an die Tür.

„Das ist dein Vater,“ flüsterte Jenny.

„Pst — sei still, — nicht öffnen!“

Nach einem Weilchen ging jemand über den Gang wieder fort. Helge verzog das Gesicht.

„Aber liebster Junge, was ist dir?“

„Ich weiß nicht —. Wenn wir ihm nur nicht begegnen, Jenny — wir wollen nicht gestört werden, nicht wahr? Niemanden treffen!“

„Nein.“ Sie küßte seinen Mund, bog seinen Kopf zurück und küßte ihn hinter beide Ohren.

„Und Franziska?“ sagte Jenny plötzlich, während sie nach dem Kaffee bei einem Glase Likör saßen und plauderten.

„Ja! Ja, du wußtest es wohl im voraus; sie hatte dir doch geschrieben?“

Jenny schüttelte den Kopf.

„Nicht ein Wort. Ich fiel ja aus allen Wolken, als ich ihren Brief bekam — sie schrieb in aller Kürze, morgen hätte sie Hochzeit mit Ahlin. Ich ahnte nichts.“

„Wir auch nicht. Die beiden waren ja viel zusammen. Daß sie sich aber heiraten wollten, wußte nicht einmal Heggen, bis sie kam und ihn bat, ihr Trauzeuge zu sein.“

„Hast du sie seither gesehen?“

„Nein. Sie reisten noch am selben Tage nach Rocca di Papa und waren noch oben, als ich Rom verließ.“

Jenny saß eine Weile in Gedanken.

„Ich glaubte, sie hätte nur ihre Arbeit im Kopf,“ sagte sie.

„Heggen erzählte, daß sie das große Bild mit dem Tor beendet hätte, und daß es sehr gut ausgefallen sei, auch, daß sie mehrere andere Arbeiten begonnen habe.“

„Dann verheiratete sie sich also ganz plötzlich. Ich weiß nicht, ob sie eine Weile verlobt gewesen sind —.“

„Aber du, Jenny — du schriebst, du hättest ein neues Bild angefangen?“

Jenny zog ihn mit sich zur Staffelei.

Die große Leinwand zeigte eine Straße, die sich nach links hinüber verlor, mit einer Häuserreihe in starker Perspektive, Kontor- und Werkstattsgebäude in graugrünen und dunklen, backsteinroten Farben. Auf der rechten Seite der Straße standen einige Lumpenhändlerbuden, und dahinter ragten die Brandmauern zum Himmel empor, in dessen kräftigem Blau hier und da schwere Regenwolken, graublau wie Blei und weiß wie Silber, standen. Greller Nachmittagssonnenschein fiel in die Straße, auf die Buden und Hausmauern, die rotgold aufleuchteten, und auf ein paar goldiggrüne, mit halbaufgesprungenen Knospen übersäte Baumkronen, die auf dem Platz zwischen Buden und Brandmauer standen. Als Staffage dienten Arbeitsleute, Karren und Geschäftswagen auf der Straße.

„Ich verstehe ja nicht viel davon. Aber —.“ Helge hielt sie fest umschlungen. „Ist es nicht sehr gut, du? Ich finde es wunderschön, Jenny — herrlich!“

Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter:

„Während ich hier umherlief und auf meinen Jungen wartete — ich bin ja im Frühling immer hier einsam und trübselig umhergeirrt. Als ich sah, wie Bergahorn und Kastanie ihr klares, lichtes Laub vor den rußigen Häusern und roten Mauern entfalteten — als ich den prachtvollen Frühlingshimmel erblickte, der sich über all den schwarzen Dächern spannte, über Schornsteinen und Telephondrähten: da lockte es mich, dies alles zu malen, die feinen hellen Frühlingsknospen mitten in der schmutzigen schwarzen Stadt.“

„Wo liegt diese Stelle?“ fragte Helge.

„In der Stenerstraße. — Ja, weißt du, dein Vater sprach von einigen Bildern von dir als kleinem Jungen, die er drüben im Büro hatte; die sollte ich mir ansehen. Und da entdeckte ich das Motiv von seinem Bürofenster aus und durfte dann in der Kistenfabrik nebenan arbeiten. Von dort aus ist es gemalt; ich mußte natürlich hin und wieder einiges umgestalten, ein wenig abändern —.“

„Du bist viel mit Vater zusammen gewesen?“ fragte Helge kurz darauf. „Er interessierte sich wohl sehr für dein Bild?“

„Ja, gewiß. Er kam mitunter zu mir herüber und betrachtete es, gab mir auch einige Ratschläge, die übrigens sehr gut waren. Er weiß ja eine Menge.“

„Glaubst du, daß Vater als Maler Talent hatte?“ sagte Helge.

„Ja. Das glaube ich. Die Bilder, die bei euch zu Hause hängen, waren nicht so besonders. Er hat mir aber einige Studien gezeigt, die er im Büro aufbewahrt. Ich glaube nicht, daß dein Vater großes Talent hatte, aber es war ganz fein und eigentümlich. Nur von allen Seiten zu leicht zu beeinflussen. Aber das, glaube ich, hängt wieder mit seiner großen Fähigkeit zusammen, das Gute zu werten und zu lieben, das er bei anderen gesehen hat. Denn er hat so viel Verständnis für Kunst — und Liebe zu ihr —.“

„Armer Vater,“ sagte Helge.

„Ja —.“ Jenny liebkoste ihren Freund. „Dein Vater leidet vielleicht weit mehr als du und ich ahnen.“

Dann küßten sie sich und vergaßen, weiter von Gert Gram zu sprechen.

„Bei dir zu Hause wissen sie nichts?“ fragte Helge.

„Nein,“ erwiderte Jenny.

„Aber im Anfang, als ich all meine Briefe an deine Mutter adressierte, fragte sie nie, wer da so jeden Tag an dich schrieb?“

„Nein. Meine Mutter ist nicht so!“

Meine Mutter,“ sagte Helge plötzlich heftig. „Mutter ist durchaus nicht so taktlos, wie du meinst. Du bist nicht gerade gerecht gegen meine arme Mutter — ich finde, um meinetwillen könntest du es unterlassen, so von ihr zu reden —.“

„Aber Helge!“ Jenny sah zu ihm auf. „Ich habe ja doch nicht ein Wort über deine Mutter gesagt!“

„Du sagtest: Meine Mutter ist nicht so.“

„Das ist nicht wahr. Meine Mutter, sagte ich.“

Meine Mutter, sagtest du. Daß du sie nicht leiden kannst, ist eine Sache für sich, obgleich du schließlich keinen Grund hast —. Aber du könntest doch daran denken, daß es meine Mutter ist, von der du sprichst. Und ich habe sie lieb, wie sie auch sein mag —.“

„Helge! Aber Helge —.“ Sie hielt inne, denn sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Es war ihr so fremd, Tränen zu vergießen, daß sie schwieg, beschämt und erschrocken. Er hatte es aber schon bemerkt:

„Jenny! Habe ich dir wehgetan? Herrgott! Da siehst du es selbst. Kaum bin ich heimgekehrt, so fängt es auch schon an —.“ Er schrie plötzlich, indem er die geballte Faust drohend erhob: „Oh, ich hasse das, ich hasse das, es wird mein Heim zerreißen.“

„Mein Junge, lieber Junge — du darfst nicht —. Geliebter, nimm es doch nicht so schwer!“ Sie zog ihn fest, fest an sich. „Helge! Hör zu, geliebter Freund — was hat denn das mit uns zu schaffen. Sie können uns doch nichts tun —,“ und sie küßte ihn, bis er aufhörte zu schluchzen und zu beben.