Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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V.

Helge und Jenny saßen in seinem Zimmer auf dem Sofa und hielten sich schweigend umschlungen.

Es war an einem Sonntag Ende Juni. Jenny hatte am Vormittag einen Spaziergang mit Helge gemacht und bei Grams Mittag gegessen. Nach dem Kaffee hatten sie alle vier im Wohnzimmer gesessen und sich durch den Nachmittag gequält, bis Helge Jenny mit in sein Zimmer zog unter dem Vorwande, sie sollte etwas durchlesen, was er geschrieben hatte.

„Puh,“ sagte Jenny, als sie draußen waren.

Helge fragte nicht, warum sie so sprach. Er legte seinen Kopf fest in ihren Arm, und sie strich ihm übers Haar, stumm, ohne Aufhören.

„Ja, du.“ Helge seufzte „Es war gemütlicher bei dir in der Via Vantaggio — nicht wahr, Jenny?“

Draußen in der Küche rasselten Teller, es brutzelte in der Bratpfanne und roch nach Fett. Frau Gram bereitete etwas Warmes zum Abendessen. Jenny ging an das offene Fenster und sah einen Augenblick in den schwarzen Schacht des Hofes. Alle Fenster nach hier hinaus waren Küchen- oder Schlafzimmerfenster mit Zuggardinen. In jeder Ecke des Hofes befand sich ein größeres Fenster, schräg eingebaut. Oh! Wie gut sie diese Eßzimmer kannte mit einem einzigen Fenster in der Ecke auf den Hof hinaus, dunkel und trübe, ohne einen Streifen Sonne. Der Ruß fegte hinein, wenn man lüftete, und der Essensgeruch setzte sich fest.

Aus dem Fenster eines Mädchenzimmers klang Guitarrespiel und ein kräftiger, ungeübter Sopran:

„Such Schutz bei unserem Herrn Jesus Christus, mein Freund, du brauchst nur anzuklopfen, und der Himmel tut sich auf.“

Die Guitarre erinnerte sie an die Via Vantaggio, an Cesca und Gunnar, der in der Sofaecke zu liegen pflegte, die Beine auf einem Stuhle, auf Cescas Guitarre zupfend und leise ihre italienischen Weisen summend. Plötzlich überfiel sie eine wilde Sehnsucht nach all dem dort unten.

Helge kam auf sie zu:

„Woran denkst du?“

„An die Via Vantaggio.“

„Ja, du — wie herrlich hatten wir es dort, Jenny!“

Sie umschlang plötzlich seinen Hals und barg liebkosend seinen Kopf an ihrer Schulter. Schon als er sprach, hatte sie gemerkt, daß er den Grund ihrer Sehnsucht nicht verstanden hatte.

Sie hob seinen Kopf wieder in die Höhe und blickte in seine bernsteingelben Augen; sie wollte an all die sonnenhellen Tage in der Campagna denken, als er, im Grase zwischen den Tausendschön liegend, zu ihr aufgeblickt hatte.

Sie wollte dieses schwere, erstickende Unlustgefühl von sich abschütteln, das jedesmal wieder Macht über sie gewann, wenn sie in seinem Hause war.

Alles war hier so unleidlich. Gleich vom ersten Abend an, als sie nach Helges offizieller Ankunft eingeladen war. Wie hatte sie es gequält, daß sie dastehen und Komödie spielen mußte, als Frau Gram sie ihrem Manne vorstellte; und Helge war zugegen und sah zu, wie sie seine Mutter betrogen. Es quälte sie fürchterlich. Dann geschah etwas, das noch viel ekelhafter war. Sie war einen Augenblick mit Gram allein; da hatte er beiläufig erwähnt, daß er an jenem Nachmittag oben an ihrer Tür gewesen sei, sie aber nicht angetroffen habe. „Nein, ich war an dem Tage nicht im Atelier,“ hatte sie geantwortet, war aber gleichzeitig blutrot geworden. Dann hatte er sie so merkwürdig erstaunt angesehen, als sie — sie wußte nicht, warum? — plötzlich sagte: „Doch, ich war übrigens zu Hause. Ich konnte aber nicht öffnen, es war jemand bei mir.“

Gram hatte gelächelt und gesagt: „Ich habe es wohl gehört, daß jemand im Atelier war.“ Und in ihrer Verwirrung hatte sie erzählt, daß es Helge gewesen, und daß er sich ein paar Tage inkognito in der Stadt aufgehalten.

„Liebe Jenny,“ hatte Gram sichtbar unwillig erwidert: „Ihr hättet euch doch nicht vor mir zu verstecken brauchen. Ich hätte euch wahrhaftig in Frieden gelassen. Ja, ja. — Aber ich muß doch sagen, daß es mich recht gefreut haben würde, wenn Helge mich begrüßt hätte —.“

Sie hatte darauf nichts zu erwidern gewußt.

„Ich werde aber achtgeben, daß Helge nicht erfährt, daß ich etwas davon weiß.“

Es war gar nicht ihre Absicht gewesen, Helge zu verheimlichen, daß sie seinem Vater davon erzählt hatte. Aber jetzt sagte sie es doch nicht — aus Furcht, daß er darüber ärgerlich sein könnte. Sie litt aber und wurde nervös in dieser Umgebung, in die sie hineingeraten war: der eine durfte es nicht wissen und der andere durfte es nicht wissen.

Daheim hatten sie auch keine Ahnung. Aber das war etwas anderes. Es lag daran, daß sie nicht gewöhnt war, mit ihrer Mutter von ihren eigenen Angelegenheiten zu sprechen, sie hatte dort nie Verständnis gefunden, auch niemals gesucht oder erwartet. Dabei war ihre Mutter jetzt mit der Sorge um Ingeborg beschäftigt. Jenny hatte die Mutter dazu bestimmt, im Bundefjord eine Sommerwohnung zu mieten; Bodil und Nils fuhren von dort zur Schule in die Stadt, Jenny aber wohnte im Atelier und aß auswärts.

Sie war jedoch nie so glücklich über die Mutter und ihr Heim gewesen wie jetzt. Es kam nicht allein daher, daß die Mutter sie jetzt ein wenig verstand. Sie merkte auch hin und wieder, daß es Jenny schwer hatte, und zeigte dann ehrlichen Willen, zu helfen und zu trösten — ohne zu fragen. Denn schon der Gedanke, einem ihrer Kinder eine aufdringliche Frage zu stellen, hätte ihr die Schamröte ins Gesicht getrieben. Aber dies hier, Helges Heim, mußte ja eine wahre Hölle für die Kinder gewesen sein. Und es war, als würfe die Mißstimmung ihre Schatten auf sie, auch wenn sie sonst zusammen waren. Aber sie wollte es überwinden. Ihr armer, armer Junge!

„Mein Helge!“ Und sie überfiel ihn plötzlich mit Liebkosungen. —

Jenny hatte Frau Gram angeboten, ihr mit dem Aufwaschen und dem Abendessen behilflich zu sein, aber jedesmal hatte die Hausfrau mit einem Lächeln erwidert:

„Nein, meine Liebe — dazu sind Sie doch nicht hergekommen, damit sollen Sie wahrhaftig nichts zu tun haben, Fräulein Winge.“

Vielleicht war es nicht so gemeint, aber Frau Gram lächelte immer so spöttisch, wenn sie mit ihr sprach. Die Arme, vielleicht besaß sie kein anderes Lächeln mehr.

Gram kehrte heim; er hatte einen Spaziergang gemacht. Jenny und Helge setzten sich zu ihm ins Rauchzimmer.

Die Hausfrau kam auch einen Augenblick herein:

„Du hattest deinen Regenschirm vergessen, mein Freund — wie gewöhnlich. Es war tatsächlich ein Glück, daß du einem Regenschauer entgingst. Ja diese Männer, wie man auf sie achtgeben muß —!“ Sie lächelte zu Jenny hinüber.

„Du bist ja außerordentlich um mich bemüht,“ sagte Gram. Stimme und Wesen waren immer peinlich höflich, wenn er mit seiner Frau sprach.

„Aber warum sitzt ihr denn hier drinnen?“ sagte sie zu Helge und Jenny.

„Es ist merkwürdig,“ erwiderte Jenny, „— ich finde, es ist in allen Häusern dasselbe: das Herrenzimmer ist immer am gemütlichsten. Bei uns war es auch so, als mein Vater noch lebte,“ fügte sie schnell hinzu. „Es kommt wohl daher, daß es als Arbeitszimmer eingerichtet ist.“

„Dann müßte ja die Küche der allergemütlichste Raum im ganzen Hause sein,“ lachte die Hausfrau. „Aber wo meinst du, daß am meisten gearbeitet wird, Gert, hier in deinem Zimmer oder in meinem — nun ja, die kann ja als mein Arbeitszimmer gelten —.“

„Ich gebe zu, daß zweifellos die nützlichste Arbeit in deinem Arbeitszimmer verrichtet wird.“

„Ja,“ sagte Frau Gram. „Jetzt glaube ich aber beinahe, ich muß Ihr liebenswürdiges Anerbieten für eine Weile annehmen — würden Sie so lieb sein, und mir ein wenig helfen, Fräulein Winge? Sonst wird es so spät —.“

Als sie beim Essen saßen, läutete es. Es war Frau Grams Nichte, Aagot Sand. Frau Gram stellte Fräulein Winge vor.

„Ah, Sie sind die Malerin, mit der Helge in Rom so viel zusammen war. Ich konnte es mir beinahe denken.“ Sie lachte. „Ich sah Sie drüben in der Stenerstraße jetzt im Frühling, Sie gingen in Begleitung von Onkel Gert und trugen Malgerät in der Hand —.“

„Das ist sicher ein Irrtum, mein Kind,“ unterbrach sie Frau Gram. „Wann sollte das gewesen sein?“

„Einen Tag vor Bußtag. Ich kam von der Schule.“

„Ja, es ist schon richtig,“ sagte Gram. „Fräulein Winge stand und hatte ihren Malkasten auf der Straße fallen lassen, und da half ich ihr, beim Aufsammeln.“

„Das kleine Abenteuer hast du deiner Frau gar nicht gebeichtet.“ Frau Gram lachte laut. „Ich hatte keine Ahnung, daß Ihr Euch von früher her kanntet.“

Gram lachte ebenfalls.

„Fräulein Winge schien mich nicht wiederzuerkennen. Es war zwar wenig schmeichelhaft für mich — ich wollte sie aber nicht daran erinnern. Hatten Sie wirklich keine Ahnung, als Sie mich trafen, daß ich der liebenswürdige alte Herr war, der Ihnen geholfen?“

„Ich war meiner Sache nicht sicher,“ sagte sie leise, von tiefer Röte übergossen. „Ich glaubte, Sie hätten mich nicht wiedererkannt.“ Sie versuchte zu lachen, fühlte jedoch mit peinigender Deutlichkeit, wie unsicher ihre Stimme war, wie ihre Wangen brannten.

„Nun, das war ja ein richtiges Abenteuer,“ lachte Frau Gram. „Tatsächlich ein drolliger Zufall.“

„O Gott, habe ich denn schon wieder etwas Verkehrtes gesagt?“ fragte Aagot. Sie saßen nach dem Abendessen beisammen im Wohnzimmer. Gram war in sein Zimmer hinübergegangen, die Hausfrau machte sich in der Küche zu schaffen. „In diesem Hause ist man gänzlich ahnungslos, bis die Bombe plötzlich explodiert — das ist doch wirklich schauderhaft. Aber erkläre mir doch, ich begreife ja nicht.“

„Herr des Himmels, Aagot, kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten,“ sagte Helge heftig.

„Ja, ja, lieber Freund, beiß mich nur nicht! Ist Tante Bekka jetzt auf Fräulein Winge eifersüchtig?“

„Du bist doch wahrhaftig das taktloseste Wesen, das existiert.“

„Nächst deiner Mutter — ja danke, das hat mir Onkel Gert einmal gesagt.“ Sie lachte. „Aber das ist doch die größte Dummheit — eifersüchtig auf Fräulein Winge!“ Sie lugte neugierig zu den beiden anderen hinüber.

„Ich möchte dich bitten, dich nicht in Dinge zu mischen, die nur uns hier im Hause etwas angehen, Aagot,“ schnitt Helge alles weitere ab.

„Ja ja, — ich dachte nur — nun gewiß — es ist ja schließlich gleichgültig.“

„Das ist es, weiß Gott.“

Frau Gram kam herein und machte Licht. Jenny blickte fast ängstlich auf ihr verschlossenes, haßerfülltes Gesicht, das mit den harten, funkelnden Augen vor sich hinstarrte. Dann begann Frau Gram den Tisch abzuräumen. Sie hob Jennys Stickschere auf, die auf den Boden gefallen war:

„Es scheint Ihre Spezialität zu sein, etwas zu verlieren. Sie dürfen nicht so nachlässig mit Ihren Sachen umgehen, kleines Fräulein Winge. Helge ist nicht so galant wie sein Vater, scheint es.“ Sie lachte. „Soll ich jetzt bei dir drinnen die Lampe anzünden, mein Junge?“ Sie ging ins Rauchzimmer und zog die Tür hinter sich ins Schloß.

Helge lauschte einen Augenblick zum anderen Zimmer hinüber — die Mutter sprach leise und heftig. Dann lehnte er sich wieder zurück.

„Kannst du denn mit deinem Gerede nicht einmal aufhören?“ ertönte Grams Stimme deutlich von drinnen herüber.

Jenny neigte sich zu Helge:

„Ich gehe jetzt nach Hause — ich habe Kopfweh.“

„O nicht doch, Jenny. Dann gibt es hier nur Szenen bis ins Unendliche, wenn du gegangen bist. Sei so lieb und bleib; es geht nicht, daß du jetzt das Feld räumst, Mutter wird nur noch gereizter.“

„Ich kann aber nicht mehr,“ flüsterte sie, dem Weinen nahe.

Frau Gram ging durchs Zimmer. Gram kam und setzte sich zu ihnen.

„Jenny ist müde — sie will jetzt nach Hause gehen, Vater. Ich begleite sie.“

„Wollen Sie schon gehen? Wollen Sie nicht noch ein wenig bleiben?“

„Ich bin müde, ich habe Kopfschmerzen,“ murmelte Jenny.

„Bleiben Sie doch noch etwas,“ flüsterte Gram plötzlich. „Sie“ — er machte eine Kopfbewegung nach der Tür — „sagt Ihnen nichts. Und während Sie hier sind, entgehen wir anderen Szenen.“

Jenny setzte sich wieder still an den Tisch und griff nach ihrer Stickerei. Aagot häkelte eifrig an einem weißen Umlegeschal.

Gram schritt zum Klavier. Jenny war nicht musikalisch, konnte aber hören, daß er es war, und nach und nach kam ein wenig Ruhe über sie, während er seine kleinen weichen Melodien spielte — für sie, das fühlte Jenny.

„Kennen Sie dies, Fräulein Winge?“

„Nein.“

„Du auch nicht, Helge? Habt ihr es nicht in Rom gehört? Zu meiner Zeit sang man es überall. Ich habe hier einige Hefte mit italienischen Melodien.“

Sie stand neben ihm und blätterte in den Noten.

„Tut mein Spiel Ihnen wohl?“ flüsterte er.

„Ja.“

„Soll ich weiter spielen?“

„Ja. Bitte.“

Er strich über ihre Hand:

„Arme kleine Jenny! Aber gehen Sie jetzt — ehe sie kommt.“

Frau Gram brachte ein Tablett mit Rhabarberwein und Gebäck herein.

„Nein, das ist aber nett, daß du ein wenig spielst, Gert! Finden Sie nicht, daß mein Mann schön spielt, Fräulein Winge? Hat er Ihnen schon früher etwas vorgespielt?“ fragte sie harmlos.

Jenny schüttelte den Kopf:

„Ich wußte gar nicht, daß Herr Gram Klavier spielen kann.“

„Wie wunderschön Sie sticken!“ Sie ergriff Jennys Stickerei und betrachtete sie. „Ich dachte wirklich, Künstlerinnen hielten es für unter ihrer Würde, sich mit derartigen Handarbeiten zu beschäftigen. Welch bezauberndes Muster — wo haben Sie das her? Vom Auslande?“

„Das habe ich mir selber ausgedacht.“

„Nein wirklich? Dann ist es freilich leicht schöne Muster zu arbeiten — sieh her, Aagot, ist das nicht reizend? Sie sind sicher ein tüchtiges Mädchen, Fräulein Winge.“ Sie streichelte Jennys Hand.

Was für abscheuliche Hände sie doch hat, dachte Jenny. Kleine Finger, deren Nägel breiter waren als lang und plattgedrückt.

Helge und Jenny begleiteten erst Aagot bis zu ihrer Pension oben in der Sofienstraße. Dann gingen sie zusammen über die Pilengasse zurück, durch die blaßblaue Juninacht. Nach den Regenschauern strömten die weißen Blütenkerzen der Kastanien an der Hospitalsmauer einen faden Duft aus.

„Helge,“ sagte Jenny leise. „Du mußt es so einrichten, daß wir übermorgen nicht mit ihnen zusammen sind.“

„Das ist unmöglich, Jenny. Sie haben dich eingeladen und du hast Ja gesagt. Deinetwegen ist es ja nur.“

„Helge, du kannst dir doch denken, daß es nur zu Unzuträglichkeiten führt. Stell dir vor, wenn wir allein irgend wohin fahren könnten, Helge. Ganz für uns allein, nur wir beide, Helge. Wie in Rom.“

„Glaub mir, Jenny, nichts würde ich lieber wollen. Es gibt nur zu Hause so viele Unannehmlichkeiten, wenn wir diese Johannisfahrt nicht mitmachen.“

„Unannehmlichkeiten bringt es auch so,“ sagte sie mit scharfem Spott.

„Aber anders wird es viel schlimmer. Herrgott, kannst du denn nicht versuchen, dich um meinetwillen zu überwinden? Du brauchst doch nicht in all diesem Elend umherzugehen — darin zu leben und zu arbeiten.“

Er hat Recht, dachte sie und machte sich bittere Vorwürfe, daß sie nicht geduldiger war. Ja, ihr armer Junge, er mußte in diesem Heim leben und arbeiten, wo sie es kaum zwei Stunden aushalten konnte. Dort war er aufgewachsen und dort hatte er sich durch seine ganze Jugend gekämpft.

„Helge. Ich bin schlecht und egoistisch.“ Sie klammerte sich an ihn — matt und gequält und gedemütigt. Sie sehnte sich nach seinen Küssen, nach seinem Trost. Es ging sie beide ja doch gar nichts an; sie hatten ja sich, sie gehörten zusammen, irgendwo weit außerhalb dieser Luft voller Haß, Mißtrauen und Schlechtigkeit.

Der Jasmin in den alten Gärten duftete zu ihnen herüber.

„Wir fahren einmal zusammen über Land, wir beide ganz allein, Jenny,“ tröstete er.

„Aber daß ihr auch so hirnverbrannt sein konntet,“ sagte er plötzlich. „Nein, ich kann das nicht fassen! Ihr mußtet euch doch denken, daß Mutter es erfahren würde.“

„Sie glaubt natürlich die Geschichte nicht, die dein Vater erzählte,“ sagte Jenny zaghaft.

Helge blies durch die Nase.

„Ich wünschte, er sagte ihr, wie das Ganze zusammenhängt,“ seufzte sie.

„Du kannst ganz sicher sein, daß er es nicht tut. Und du mußt natürlich tun, als wüßtest du nichts. Das ist das Einzige, was du machen kannst. Es war einfach hirnverbrannt von euch.“

„Ich kann doch nichts dafür, Helge.“

„Ach, ich habe dir genug von den Verhältnissen zu Hause erzählt. Du hättest dafür sorgen müssen, daß es bei Vaters erstem Besuch blieb — all die späteren Visiten im Atelier und auch die Zusammenkünfte in der Stenerstraße hättet ihr unterlassen sollen.“

„Zusammenkünfte? Ich sah das Motiv und wußte, daß ich ein gutes Bild von dort aus malen konnte — das habe ich auch getan.“

„Nun ja. Es ist natürlich vor allem Vaters Schuld. — Ach!“ Er fuhr heftig auf. „Diese Art und Weise, wie er von ihr spricht — ja, du hast gehört, was er zu Aagot gesagt hat. Und heute Abend wieder zu dir. ‚Sie!‘“ äffte er nach, „‚Ihnen sagt sie nichts!‘ Es ist aber doch unsere Mutter.“

„Ich finde aber, Helge, dein Vater ist weit rücksichtsvoller und höflicher gegen sie als sie zu ihm.“

„Oh, diese Rücksichtnahme von Vater, ja! Nennst du das rücksichtsvoll, wie er vorgegangen ist, um dich auf seine Seite zu bekommen? Seine Höflichkeit! Du solltest wissen, was ich als Kind gelitten habe und jetzt als Erwachsener — unter dieser Höflichkeit. Wenn er kerzengerade dastand, ohne ein Wort zu sagen, und höflich aussah. Sprach er aber, dann klang es so eisig, so schneidend kalt, so höflich! Er bedankte sich fast noch für Mutters Schreien und Schelten und Toben. — Oh!“

„Liebster Junge!“

„O Gott, Jenny. Es ist auch nicht nur Mutters Schuld. Ich kann sie auch verstehen. Alle Menschen geben Vater den Vorzug. Du jetzt auch. Es ist verständlich. Im Grunde tue ichs ebenfalls. Aber gerade deshalb begreife ich, daß sie so geworden ist. Sie will ja doch überall die Erste sein, siehst du. Und sie ist es nirgends. Arme Mutter!“

„Ja, die Aermste!“ sagte Jenny. Doch ihr Herz blieb eiskalt gegen Frau Gram.

Der Abend war schwer von Duft, Laub und Blüten, als sie durch das Studentenwäldchen schritten. In der bleichen Dämmerung der Sommernacht raschelte es geschäftig auf den Bänken tief drinnen zwischen den Bäumen.

Ihr einsamer Schritt hallte in den ausgestorbenen Geschäftsstraßen wieder, deren hohe Häuser mit einem blauen Schein in den großen blanken Fensterscheiben wie ausgestorben lagen.

„Darf ich mit hinaufkommen?“ fragte er vor ihrer Tür.

„Ich bin müde, du,“ sagte Jenny leise.

„Ich möchte so gern ein wenig bei dir sitzen — findest du nicht, daß wir es sehr nötig haben, einmal für uns allein zu sein?“

Sie widersprach nicht mehr, sondern stieg die fünf Treppen vor ihm hinan.

Die Nacht breitete sich blau über ihren Häuptern und blickte durch die großen schrägen Dachfenster zu ihnen hinein. Jenny entzündete den siebenarmigen Leuchter auf dem Schreibtisch, nahm eine Zigarette und hielt sie in die Flamme.

„Willst du rauchen, Helge?“

„Danke.“ Er nahm ihr die Zigarette von den Lippen.

„Das ist es eben, siehst du,“ sagte er plötzlich. „Da war einmal etwas mit Vater und — einer anderen Frau. Ich war damals zwölf Jahre alt. Wieviel daran wahr ist, weiß ich ja nicht. Aber Mutter —. Oh, es war eine fürchterliche Zeit. Nur unseretwegen blieben sie zusammen — das hat Vater selbst einmal gesagt. Der Herrgott weiß, ich danke ihm das nicht. Mutter ist jedenfalls ehrlich und gibt zu, daß sie ihn mit Händen und Füßen festhält, sie will ihn nicht freigeben.“

Er warf sich aufs Sofa. Jenny setzte sich zu ihm und küßte ihn auf Haar und Augen. Er glitt auf die Knie nieder und legte den Kopf in ihren Schoß.

„Erinnerst du dich des letzten Abends in Rom, als ich Gute Nacht zu dir sagte, Jenny? Hast du mich heute ebenso lieb wie damals?“

Sie erwiderte nichts.

„Jenny?“

„Wir haben heute keinen guten Tag miteinander gehabt, Helge,“ flüsterte sie. „Zum ersten Male.“

Er hob den Kopf:

„Bist du mir böse?“ fragte er leise.

„Nein, nicht böse.“

„Was dann?“

„Ach nichts. Nur —“

„Nur, was?“

„Heute Abend —.“ Sie stockte. „Jetzt auf dem Heimwege —. Wir werden noch allein eine Reise zusammen machen — ein andermal, sagtest du. Es ist nicht wie in Rom, Helge. Jetzt bist du es, der bestimmt und sagt, was ich tun soll und was nicht.“

„Nein, nein, Jenny!“

„Doch. Du mußt mich verstehen, ich will ja auch, daß es so ist. Du bestimmst. Aber dann Helge, dann mußt du mir auch helfen, über all das Andere — das Schwere — hinwegzukommen.“

„Du meinst also, ich habe dir heute nicht geholfen?“ fragte er langsam und richtete sich auf.

„Lieber — doch, du konntest ja nichts tun.“

„Soll ich jetzt gehen?“ flüsterte er kurz darauf und zog sie an sich.

„Du sollst tun, was du willst“, erwiderte sie leise.

„Du weißt, was ich will. Was möchtest du — am liebsten?“

„Ich weiß nicht, was ich möchte, Helge.“ Sie brach in Tränen aus.

„Jenny, ach Jenny!“ Er küßte sie behutsam viele, viele Male. Als sie ruhiger geworden war, ergriff er ihre Hand.

„Ich gehe jetzt. Schlaf gut. Du darfst nicht böse auf mich sein. Du bist so müde, armes Kleines!“

„Sag mir lieb Gute Nacht,“ bat sie und hing an seinem Halse.

„Gute Nacht, meine süße, geliebte Jenny. Du bist müde, Armes — so matt. Gute Nacht. Gute Nacht.“

Dann ging er. Und wieder weinte sie.