Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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VI.

„Hier ist es, was ich dir eigentlich zeigen wollte,“ sagte Gert Gram und erhob sich. Er hatte auf den Knien gelegen und in dem unteren Fach des Geldschrankes gekramt.

Jenny schob die alten Skizzenbücher beiseite und rückte die elektrische Tischlampe zu sich hinüber. Er wischte den Staub von der großen Mappe und reichte sie ihr.

„Es ist viele Jahre her, seit ich dies irgend jemandem zeigte oder mir selber angesehen habe. Aber lange habe ich gewünscht, du solltest es sehen, seit dem ersten Male, als ich bei dir im Atelier war. An jenem Tage, als du dir hier die Bilder von Helge als kleinen Jungen ansahst, nahm ich mir vor, dich zu fragen, ob du die anderen sehen willst. Und später, während du hier arbeitetest, habe ich immer wieder daran gedacht. — Ja, es ist sonderbar, Jenny. Wenn ich daran denke, während ich hier den Alltag mit meiner Arbeit zubringe.“ Er blickte sich in dem kleinen engen Büroraum um. „Hier bin ich gelandet mit all meinen Jugendträumen. Drüben im Schrank liegen sie, wie Leichen in ihrem Sarkophage, und hier gehe ich selbst umher — ein toter und vergessener Künstler.“

Jenny schwieg. Gram drückte sich mitunter ein wenig sentimental aus, fand sie. Obgleich sie wußte, daß das Gefühl, das ihm die Worte gab, bitter aufrichtig war. Einer plötzlichen Eingebung folgend, strich sie ihm leicht über das graue Haar.

Gram beugte den Kopf ein wenig nieder, gleichsam als wollte er ihre flüchtige Liebkosung verlängern. Dann — ohne aufzublicken, löste er die Bänder an der Mappe. Seine Hand bebte leicht.

Sie merkte mit Erstaunen, daß ihre eigenen Hände zitterten, als sie das erste Blatt entgegennahm. Ihr war so merkwürdig beklommen ums Herz, als fühlte sie, daß ein Unglück geschehen würde: ihr wurde plötzlich Angst bei dem Gedanken, daß ja niemand von dem Besuch wissen durfte, daß sie nicht wagte, es Helge zu sagen. Sie wurde mißmutig, als sie jetzt an ihren Verlobten dachte. Seit langem hatte sie es absichtlich unterlassen, darüber nachzudenken, was sie eigentlich für ihn fühlte. Sie wollte der Ahnung, die in dieser Sekunde in ihr aufdämmerte, nicht Raum geben und wollte sich nicht noch mehr in Unruhe bringen durch die Frage, was eigentlich Gert Gram für sie empfand.

Blatt für Blatt nahm sie aus der Mappe, die seine Jugendträume enthielt, und es wurde ihr dabei unsagbar traurig zumute.

Er hatte ihr von diesem Werk — Zeichnungen zu Landstads Volksliedern — erzählt, so oft sie allein waren. Es war ihr klar geworden, daß er um dieser einzigen Arbeit willen geglaubt, er sei zum Künstler geboren.

Seine Bilder zu Hause hatte er selber einmal Dilettantenarbeit eines fleißigen und gewissenhaften Schülers genannt. Aber dies hier — das war sein Eigen. Sie sahen auf den ersten Blick sehr gut aus, diese großen Blätter mit der reichen Umrahmung romantischen Laubwerks und den zierlichen Mönchsbuchstaben des Textes. Die Farbenwirkung war überall rein und fein, bei einigen sogar verblüffend. Aber die eingefügten Vignetten und Friese mit Figuren, so sorgfältig und richtig ihre miniaturartige Zeichnung auch war, so leblos und stillos erschienen sie. Einige waren durchaus naturalistisch, wieder andere lehnten sich so eng an italienisch-mittelalterliche Kunst, daß Jenny einzelne ganz bestimmte Offenbarungsengel und Madonnen unter den Kopfbedeckungen der Ritter und Jungfrauen wiedererkannte. Ja, sogar die Farbenwirkung selbst, so z. B. von dem Hukaballiede mit den goldenen und rotvioletten Tönen, erkannte sie aus einem bestimmten Meßbuch, das sie in der San Marco-Bibliothek gesehen hatte. Wie seltsam die groben, festgeformten Verse sich dagegen abhoben, in den zierlichen Typen des Klosterlateins geschrieben. Bei einigen der großen, ganzseitigen Bilder waren Formensprache und Komposition in barockem Stil gehalten, römischen Altarbildern entlehnt. Ein Widerklang all dessen, das er gesehen, worin er gelebt, was er geliebt, das war Gert Grams Jugendmelodie. Keiner dieser Töne war sein eigen, es war nur ein Echo vieler Töne, wenn auch dies Echo alles mit eigenem, weichem, melancholischem Klange wiedergab.

„Du bist nicht damit zufrieden,“ sagte er lächelnd. „O nein, ich sehe wohl.“

„Doch, natürlich. Es liegt so viel Schönes und Zartes darin. Du weißt,“ sie suchte nach dem Ausdruck, „es wirkt auf uns etwas fremd, da wir die gleichen Motive anders behandelt gesehen — und so gut, daß wir sie uns in anderer Art nicht recht vorstellen können.“

Er saß ihr gegenüber, das Kinn auf die Hand gestützt. Nach einer Weile sah er auf — ihr Herz krampfte sich bei diesem Blick zusammen:

„Ich wußte übrigens schon damals, was daran hätte besser sein sollen,“ sagte er still und versuchte zu lächeln. „Wie ich dir sagte, ich habe die Mappe soviele Jahre nicht hervorgeholt.“

„Ich habe niemals recht verstehen können,“ sagte sie nach einer Weile ablenkend, „daß du dich zu Spätrenaissance und Barock so hingezogen fühltest.“

„Es ist auch nicht zu verlangen, kleine Jenny, daß du das verstehst.“ Er blickte ihr mit einem sonderbar wehen Lächeln ins Gesicht. „Siehst du, es gab wohl eine Zeit, da ich felsenfest an mein eigenes Talent glaubte. Aber doch nie so unbedingt, daß nicht ein kleiner nagender Zweifel zurückgeblieben wäre. Nicht daran zweifelte ich, daß ich nicht auszudrücken vermöchte, was ich sagen wollte, ich war mir nicht klar darüber, was ich eigentlich ausdrücken wollte. Ich sah ja, daß die romantische Kunst abgeblüht und im Begriff war, hinzuwelken. Fast auf der ganzen Linie hatten Verfall und Unwahrhaftigkeit um sich gegriffen, und gerade der Romantik gehörte mein ganzes Herz. Nicht nur in der Malerei. Ich sehnte mich nach den sonntäglichen Bauern der Romantik, trotzdem ich als Knabe lange genug auf dem Lande gelebt hatte, um zu wissen, daß es sie nicht mehr gibt. Als ich in die Welt zog, war mein Ziel das Italien der Romantik. Ich weiß sehr wohl, du und deine Zeit, ihr sucht die Schönheit in dem, was ist, sinnlich und wirklich. Ich fand sie nur in der Umbildung der Wirklichkeit, die andere schon vorgenommen hatten. Du weißt, die achtziger Jahre kamen mit ihrem neuen Glaubensbekenntnis, ich machte den Versuch, zu folgen, doch mein Herz lehnte sich auf.“

„Ja, aber Gert,“ Jenny richtete sich auf, „die Wirklichkeit ist doch nicht ein bestimmter Begriff. Sie zeigt sich jedem einzelnen anders. ‚There’s beauty in everything,‘ sagte ein englischer Maler einmal zu mir, ‚only your eyes see it or see it not, little girls‘“.

„Ja, aber, Jenny — ich vermochte ja die Wirklichkeit nicht zu sehen, ich erfaßte nur ihren Widerschein in den Träumen Anderer. Ich war nicht einmal fähig, aus der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeitswelt meine Schönheit herauszufinden. — Ich fühlte meine eigene Ohnmacht deutlich. Als ich dann dort hinunterkam, eroberte der Barock mein Herz. Begreifst du die tiefe Ohnmacht und die Seelenpein, die man unter der Unfähigkeit, der Phrase, erleidet? Nichts Persönliches, Neues zu besitzen, um die Form damit zu erfüllen. — Nur die Technik vervollkommnet sich, die rauschende Bewegung der Gewänder, die halsbrecherischen jähen Reduktionen, die gewaltigen Effekte in Licht und Schatten, die geschraubte Komposition. Die Leere wird unter der Ekstase verborgen — verzerrte Gesichter, verrenkte Glieder, Heilige, deren einzig wahre Leidenschaft die Furcht vor ihrem eigenen hartnäckigen Zweifel ist, den sie in krankhafter Erregung ersticken wollen. Ja, wahrhaftig, du, das ist die Verzweiflung des Niederganges, das Werk der Epigonen, das nur blenden will — und meist sich selbst.“

Jenny nickte. „Dies ist jedenfalls deine subjektive Anschauung. Ich bin durchaus überzeugt, daß die Maler, von denen du sprichst, außerordentlich stolz und zufrieden mit sich selber waren.“

Er schlug plötzlich einen anderen Ton an und lachte: „Möglich. Vielleicht wurde dies mein Steckenpferd, weil, wie du sagtest, es nun einmal mein subjektiver Standpunkt war.“

„Aber das Bild, das du von deiner Frau gemalt hast — in Rot — das ist doch ganz impressionistisch, und es ist ausgezeichnet. Je öfter ich es mir anschaue, desto besser finde ich es.“

„O ja. Aber das ist ja ein vereinzelter Fall.“ Er schwieg. „Als ich malte, war sie für mich das Leben. Ich war toll verliebt in sie — und doch haßte ich sie schon so grenzenlos.“

„Daß du die Malerei aufgabst,“ fragte Jenny leise, „war das ihre Schuld?“

„Nein, Jenny. Alles, was uns an Unglück zustößt, ist unsere eigene Schuld. Ich weiß, du bist nicht, was man gläubig nennt. Darin geht es mir ähnlich. Aber ich glaube — an Gott meinetwegen, oder eine seelische Macht, oder was du sonst willst, die in gerechter Weise straft. — Sie war irgendwo draußen in der Großen Straße Kassiererin in einem Geschäft. Ich sah sie dort zufällig. Sie war herrlich schön; das kannst du vielleicht jetzt noch sehen. Nun ja, ich lauerte ihr eines Abends auf, als sie aus dem Geschäft kam, und sprach sie an. Lernte sie kennen. — Ich verführte sie,“ sagte er leise und hart.

„Und dann hast du sie eben geheiratet, weil sie ein Kind bekam. Das habe ich mir gedacht. Zum Dank hat sie dich siebenundzwanzig Jahre lang gequält und geplagt. — Weißt du, die Gerechtigkeit, an die du da glaubst, ist recht grausam.“

Er lächelte müde: „Ich bin gar nicht so altmodisch, Jenny, wie du vielleicht denkst. Ich erblicke darin keine Sünde, daß zwei junge Menschen, die sich lieben und fühlen, daß sie zusammengehören, sich einander hingeben, ob nun unter gesetzlichen oder ungesetzlichen Umständen. Ich aber habe Rebekka tatsächlich verführt. Sie war unschuldig, als ich sie traf, nicht nur rein körperlich, meine ich. Ich sah, wie sie war — sie ahnte es selber nicht. Ich wußte, wie leidenschaftlich sie war, wie eifersüchtig und tyrannisch sie in ihrer Liebe sein würde. Ich machte mir aber den Teufel etwas daraus, ich fühlte mich geschmeichelt, daß gerade mir diese Leidenschaft galt, daß ich dieses herrliche Mädchen so ganz mein eigen nennen durfte. Natürlich hatte ich nie die Absicht, mich ihr ganz zu opfern, trotzdem ich wußte, sie würde alles fordern. Ich hatte nicht gerade vor, sie zu verlassen, glaubte aber, ich würde mich schon zu behaupten wissen. Ich hoffte, aus unserem Verhältnis ausschalten zu können, was ich ihr nicht geben wollte — meine Interessen, meine Arbeit: mein eigentliches Leben — obwohl ich wußte, sie würde versuchen, alles an sich zu reißen. Es war erzdumm von mir; ich wußte, ich war schwach, und sie stark und rücksichtslos. Aber ich rechnete darauf, daß ihre stärkere Leidenschaft mir, der ich in gewissen Punkten verhältnismäßig kalt war, ein Uebergewicht geben würde. — Ich entdeckte, daß sie außer ihrer großen Fähigkeit zu lieben keine starken Eigenschaften besaß. Sie war eitel und ungebildet, neidisch und roh. Wir hatten keine seelische Gemeinschaft, was ich aber nicht vermißte. Ich wollte ja nur ihren herrlichen Körper besitzen, ihre verzehrende Leidenschaft genießen.“

Er erhob sich und ging zu Jenny hinüber, ergriff ihre Hände und preßte sie einen Augenblick an seine Augen.

„Konnte ich denn wissen, daß eine Ehe mit ihr ein einziges Elend sein würde? — Ich mußte ernten, was ich gesät. Ich mußte sie also heiraten. Es war eine fürchterliche Zeit. Vorher, als sie zu mir ins Atelier kam — wild und toll vor Uebermut — verhöhnte sie jedes altväterische Vorurteil. Sie war stolz, Geliebte zu sein, übermütig — für sie gab es nichts als dies freie Liebesleben. Als es dann eine schlimme Wendung mit ihr nahm, blies sie aus einem anderen Horn. Ich bekam von ihrer achtbaren Familie in Frederikshald zu hören, ihrer unbefleckten Tugend, ihrem guten Ruf — ich dagegen war ein Schurke, ein Wicht, wenn ich sie nicht augenblicklich heiratete. Soundso viele Männer hatten sie auf diese oder jene Weise haben wollen, sie aber wollte sich weder verloben noch sich verführen lassen.

Ich hatte nichts zum Heiraten — ich war Student, nicht einmal tüchtig, und hatte außer der Malerei nichts gelernt. Monate gingen hin. Ich mußte zu meinem alten Vater gehen. Dann heirateten wir, und zwei Monate später kam Helge. — Meine Familie half mir, dies Geschäft zu beginnen. Ich hatte ja einmal große Träume von einem Kunstverlag ... meine Volksliederblätter! — Aber die Herbeischaffung des täglichen Brotes und meine Familie machten mir Sorge und Mühe genug. Ich mußte sogar einmal akkordieren, wie du vielleicht gehört hast — in den neunziger Jahren. Sie nahm ehrlich und redlich ihr Teil an Arbeit, Entbehrung und Armut auf ihre Schultern und hätte mit Freuden für mich und die Kinder gehungert. Es war bei meinen Gefühlen für sie beschämender, eingestehen zu müssen, daß sie sich für mich abarbeitete, sich aufopferte und für mich litt. — Ich mußte auf alles verzichten, was mir lieb war. Zoll für Zoll zwang sie mich all das aufzugeben, was ich vor ihr voraus hatte. Mein Vater und sie waren Todfeinde von der ersten Stunde an. Sie war ihm unsympathisch! Und das verletzte ihre Eitelkeit. So trieb sie einen Keil zwischen uns beide. Vater war Beamter von der alten Schule, vielleicht ein wenig engherzig, steif und trocken — aber so fein und vornehm und rechtlich denkend und im Grunde so warm, so weich und gut. Wir waren einander immer viel — ja, Jenny, ich liebte ihn, aber das durfte ich natürlich nicht. — Dann die Malerei! Ich sah, daß ich nicht die Fähigkeiten hatte, wie ich erst geglaubt. Ich vermochte aber nicht, mich immer und immer wieder zu versuchen, da ich doch nicht an mich selber glauben konnte, müde, wie ich war von der Jagd nach dem täglichen Brot und von diesem Zusammenleben, das mehr und mehr zu einer Karikatur wurde. Sie machte mir Vorwürfe, aber heimlich triumphierte sie. — Und dann die Kinder! Sie war eifersüchtig, wenn sie merkte, ich freute mich über sie oder wenn sie sah, sie waren fröhlich mit mir. Sie wollte die Kinder nicht mit mir teilen, aber sie wollte mich auch nicht mit den Kindern teilen. Ihre Eifersucht wuchs sich mit den Jahren zu einer Art Irrsinn aus. Nun, du hast ja selbst gesehen.“

Jenny blickte zu ihm auf.

„Sie kann es kaum ertragen, daß wir in einem Raume zusammen sind, nicht einmal, wenn Helge dabei ist.“

Sie zauderte einen Augenblick, ehe sie auf ihn zuging und ihre Hände auf seine Schultern legte:

„Ich begreife nicht,“ flüsterte sie, „daß du dies Leben ausgehalten hast.“

Gert Gram beugte sich vor und legte seinen Kopf auf ihre Schulter:

„Ich verstehe es ja selber nicht, Jenny.“

Als er kurz darauf sein Antlitz hob und ihre Augen sich trafen, legte sie ihre Hand um seinen Nacken, und, überwältigt von einem unendlich verzweifelten, zarten Mitleid, küßte sie ihn auf Stirn und Wange.

Sie erschrak hinterher selbst, als sie auf sein Gesicht mit den geschlossenen Augen herniederblickte, wie es an ihrer Schulter ruhte. Aber dann richtete er sich sanft auf und erhob sich.

„Danke, kleine Jenny.“

Gram legte die Blätter in die Mappe zurück und räumte den Tisch ab.

„Ja, Jenny, ich wünsche dir, du mögest recht, recht glücklich werden. Du bist so jung und hell, so frisch und energisch und begabt. Mein liebes Kind — du bist so, wie ich es selbst hatte sein wollen. Ich erreichte es aber niemals.“ Er sprach mit leiser, geistesabwesender Stimme.

„Ich glaube,“ sagte er kurz darauf ganz ruhig, „solange ein Verhältnis neu ist und man sich noch nicht eingelebt hat, kann einem so vieles begegnen, das schwer zu überwinden ist. Ich wünschte, ihr wohntet später nicht hier in der Stadt. Ihr sollt allein sein — in der ersten Zeit — fern von Verwandtschaft und dergleichen.“

„Helge hat ja die Stellung in Bergen beantragt, weißt du,“ sagte Jenny. Wieder überfiel sie diese närrische Verzweiflung und Angst, wenn sie an ihn dachte.

„Sprichst du nie mit deiner Mutter über diese Dinge, Jenny? Warum nicht? Hast du deine Mutter nicht lieb?“

„Doch, gewiß habe ich Mama lieb.“

„Du solltest sie um Rat fragen, mit ihr reden —“

„Es nützt mir nichts, andere um Rat zu bitten. Ich mag nicht über solche Dinge mit anderen sprechen,“ sagte sie abweisend.

„Nein, nein. Du bist —“ Er stand dem Fenster halb zugewandt, als er plötzlich zusammenfuhr und leise und aufgeregt ihr zuflüsterte:

„Jenny — sie geht dort vorüber!“

„Wer?“

„Sie — Rebekka.“

Jenny erhob sich. Sie hatte das Gefühl, als müßte sie schreien, vor Erbitterung und Ekel. Ein Zittern überfiel sie, jede Fiber in ihr krampfte sich zusammen, lehnte sich auf. Sie wollte nicht hineingezogen werden in all das Häßliche, Schauderhafte, in dieses Mißtrauen, diesen Hader, diese haßerfüllten Worte, Zänkereien und Szenen ... Nein, sie wollte nicht da hinein —.

„Jenny, du bebst ja, Kind — du solltest keine Furcht haben, dir darf sie nichts tun —.“

„Das ist es nicht — ich bin nicht ängstlich.“ Sie wurde plötzlich kalt und hart. „Ich bin hier gewesen, um dich zu holen — wir haben uns die Mappen angesehen und nun trinke ich bei euch Tee.“

„Es ist ja nicht sicher, daß sie etwas gesehen hat —“

„Das brauchen wir, weiß Gott, auch nicht zu verbergen! Weiß sie nicht, daß ich hier gewesen bin, so erfährt sie es eben. Ich gehe mit dir nach Hause, hörst du? Wir müssen es tun, sowohl deinet- als auch meinetwegen —.“

Gram blickte sie an:

„Nun ja, nehmen wir es also auf uns.“

Als sie auf die Straße hinunter kamen, war Frau Gram gegangen.

„Wir fahren mit der Straßenbahn, Gert; es ist spät.“ Sie schwieg. Plötzlich fuhr sie auf. „Helges wegen müssen wir es auch tun; diese Geheimniskrämerei zwischen uns muß auch um seinetwillen ein Ende haben.“

Frau Gram öffnete ihnen selbst die Tür, als sie kamen. Während Gert Gram seine Erklärung vorbrachte, begegnete Jenny frei ihren bösen Augen:

„Das ist doch ärgerlich, daß Helge heute Abend nicht zu Hause ist. Glauben Sie nicht, daß er früher zurückkommt, Frau Gram?“

„Es ist aber auch merkwürdig, lieber Freund, daß du nicht daran gedacht hast,“ sagte Frau Gram zu ihrem Manne. „Es ist für Fräulein Winge schließlich kein Vergnügen, mit uns beiden einsamen Alten den ganzen Abend zu verbringen.“

„Oh, was das betrifft,“ meinte Jenny.

„Ich kann mich wirklich nicht entsinnen, daß Helge davon sprach, er ginge heute Abend fort,“ sagte Gram.

„Man ist es nicht gewöhnt, Sie ohne Handarbeit zu sehen,“ lächelte Frau Gram, als sie nach dem Essen im Wohnzimmer bei einander saßen. „Sie, die Sie immer so fleißig sind!“

„Nein, ich konnte nicht mehr nach Hause gehen, ich kam zu spät aus dem Atelier. Können Sie mir nicht eine Arbeit leihen, Frau Gram?“

Jenny unterhielt sich mit ihr über den Preis aufgezeichneter Handarbeiten hier und in Paris, und über die Bücher, die sie ihr geliehen hatte. Gram saß und las. Hin und wieder fühlte Jenny seine Augen auf ihr ruhen.

Gegen elf Uhr kam Helge. —

„Was ist denn geschehen?“ fragte er, als sie dann die Treppe hinuntergingen. „Ist zu Haus wieder eine Szene gewesen?“

„Durchaus nicht.“ Sie sprach heftig und nervös. „Deine Mutter nahm es wohl ungnädig auf, daß ich mit deinem Vater zusammen zu euch nach Hause kam.“

„Ich finde allerdings auch, das hättet ihr vermeiden können,“ sagte Helge zaghaft.

„Ich fahre mit der Straßenbahn nach Hause!“ Uebernervös, wie sie war, riß sie sich plötzlich unbeherrscht von ihm los. „Mehr ertrage ich heute Abend nicht, hörst du? Ich will nicht jedesmal diese Szenen mit dir haben, wenn ich bei euch gewesen bin. Gute Nacht!“

„Aber Jenny! Jenny —!“ Er lief ihr nach, aber sie war bereits an der Haltestelle. Die Bahn kam im selben Augenblick, Jenny sprang auf und ließ ihn stehen.