Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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VII.

Sie ging den ganzen Vormittag über im Atelier auf und ab, ohne zu arbeiten. Sie hatte nicht die Kraft, etwas zu tun.

Der Regen trommelte unaufhörlich und laut auf dem großen Mansardenfenster. Hin und wieder hielt Jenny inne und blickte über die regennassen Schieferdächer, die schwarzen Schornsteine und Telephondrähte hinweg, an denen die Regentropfen wie Perlen entlangglitten, zusammenliefen und niederfielen, um neuen Tropfen, die schnell herbeiliefen, Platz zu machen.

Ihr kam der Gedanke, in den Bundefjord zur Mutter und den Kindern zu reisen, einige Tage wenigstens. Von all diesem hier mußte sie fort. Oder sie wollte die Stadt verlassen, irgendwo in einem Hotel Wohnung nehmen, Helge bitten, nachzukommen, um mit ihm in Ruhe sprechen zu können.

Wenn sie beide nur eine Zeitlang allein sein könnten! Sie versuchte, sich ihren Lenz dort unten vor Augen zu führen, sie erinnerte sich der Wärme und der grünen Campagna, der weißen Blüten, des silberfeinen Dunstes über dem Gebirge und ihrer eigenen Freude. Aber Helges Bild aus jener Zeit — wie er in ihren verliebten Augen ausgesehen hatte, schien sie nicht zurückrufen zu können.

Diese Tage lagen nun schon so weit hinter ihr, und sie standen so sonderbar isoliert von ihrem übrigen Leben da. Wenn sie auch noch so genau wußte, wie es gewesen, so konnte sie doch die Verbindung zwischen damals und heute nicht mehr fühlen.

Dieses Haus in der Welhavenenstraße — nein, dort gehörte sie nicht hin. Und es war ihr, als entschwinde Helge ihr dort gleichsam vor ihren Augen. Es war unfaßbar, sie wollte es einfach nicht glauben, daß diese Menschen zu ihr gehören sollten, für alle Zukunft.

Nein. Er, Gram, hatte Recht. Sie mußten aus all diesem heraus.

Sie wollte reisen. Sofort. Ehe Helge käme und eine Erklärung für den gestrigen Tag forderte.

Eben hatte sie die Handtasche gepackt und zog den Regenmantel über, als es klopfte — mehrmals. Sie erkannte Helges Zeichen.

Jenny stand mäuschenstill und wartete, bis er gegangen war. Kurz darauf ergriff sie ihre Reisetasche, verschloß das Atelier und ging.

Als sie ein Stück die Treppe hinuntergekommen war, sah sie einen Mann in einem der Flurfenster sitzen. Es war Helge. Er hatte sie bereits gesehen. So ging sie denn zu ihm hinunter. Einen Augenblick starrten sie sich an.

„Warum wolltest du mir eben nicht öffnen?“ fragte er.

Jenny antwortete nicht.

„Hörtest du nicht, daß ich klopfte?“

„Doch. Ich hatte aber kein Verlangen mit dir zu sprechen.“

Er erblickte ihren Handkoffer.

„Willst du zu deiner Mutter fahren?“

Jenny überlegte einen Augenblick:

„Nein. Ich gedenke einige Tage nach Holmestrand zu reisen. Ich wollte dir dann schreiben und dich bitten, nachzukommen. Wir konnten dann eine Weile zusammen sein, ohne daß sich Unbeteiligte hineinmischen und uns Szenen machen. Ich würde gern mit dir in Ruhe und Frieden reden.“

„Ich hätte auch gern mit dir gesprochen. Können wir nicht zu dir hinaufgehen?“

Sie antwortete nicht gleich.

„Ist jemand bei dir oben?“ fragte er.

Jenny richtete ihre Augen auf ihn:

„Jemand oben? Wenn ich gegangen bin?“

„Es könnte ja jemand sein, mit dem du nicht zusammen fortgehen magst.“

Sie wurde brennend rot.

„Wie meinst du das, ich konnte ja gar nicht wissen, daß du mir hier auflauertest.“

„Liebe Jenny, du kannst dir doch denken — ich meine doch nicht, daß von deiner Seite etwas Unrechtes darin läge.“

Jenny erwiderte nichts, sondern stieg die Treppe wieder hinauf. Oben im Atelier setzte sie den Koffer nieder, blieb im Mantel stehen und beobachtete Helge, wie er seinen Regenmantel ablegte und den Schirm in einen Winkel stellte.

„Vater erzählte es mir heute morgen, daß du bei ihm gewesen bist, und daß Mutter draußen vorbeiging —.“

„Ja.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Es ist eine merkwürdige Angelegenheit bei euch zu Hause — so auf der Lauer zu liegen. Es wird mir recht schwer, mich daran zu gewöhnen, muß ich sagen.“

Helge wurde rot:

„Liebste Jenny, ich mußte mit dir sprechen. Die Portierfrau sagte, sie glaubte ganz bestimmt, du seiest oben. Du weißt doch wohl, daß ich nicht dir mißtraue —“

„Ich weiß bald nicht mehr aus noch ein,“ antwortete sie aufgebracht. „Ich kann das nicht mehr aushalten — all den Argwohn, diese Geheimnistuerei, diesen Unfrieden und die Häßlichkeit. Herrgott, Helge — kannst du mich denn nicht ein wenig dagegen schützen!“

„Arme Jenny.“ Er erhob sich und ging zum Fenster, den Rücken ihr zugewandt.

„Ich habe mehr darunter gelitten, Jenny, als du ahnst. Es ist zum Verzweifeln. Denn — begreifst du das nicht selber — Mutters Eifersucht ist doch nicht ganz unbegründet.“

Jenny zuckte zusammen. Helge wandte sich um und sah es.

„Ich glaube natürlich nicht, daß Vater sich dessen bewußt ist. Sonst würde er seinem Verlangen, mit dir zusammen zu sein — nicht in diesem Maße nachgeben. Obgleich —. Er sprach auch mit mir darüber, daß wir beide fort müßten, fort aus dieser Stadt. Ich weiß nicht — hat er dich nicht überhaupt auf die Reise gebracht?“

„Auf diese Reise nach Holmestrand bin ich selbst gekommen. Er sprach aber gestern mit mir davon, daß wir nicht hier in der Stadt wohnen dürften — wenn wir verheiratet wären —“

Sie ging auf ihn zu und legte beide Hände auf seine Schultern. Ihre Stimme war klagend:

„Helge, mein Freund — ich muß ja reisen, wenn es so ist — Helge, Helge — was sollen wir tun?“

„Ich reise,“ sagte er kurz. Er nahm ihre Hände von seinen Schultern und preßte sie an seine Wangen. So standen sie einen Augenblick still.

„Auch ich muß reisen. Kannst du denn nicht verstehen? Als ich noch dachte, deine Mutter sei ungerecht — ja, und auch unfein — konnte ich ihr gegenüber tun, als ginge es mich nichts an. Aber jetzt — du hättest das nicht sagen dürfen, Helge — selbst wenn du dich irrtest. Ich kann nicht mehr dorthin gehen, wenn ich darüber nachgrübeln muß, ob sie auch nur einen leisen Schein von Recht hat; ich werde unsicher, ich weiß, ich kann ihr gegenüber nicht meine Fassung bewahren — ich komme mir vor wie eine Schuldige ...“

„Komm.“ Er zog sie mit sich zum Sofa und setzte sich neben sie. „Ich will dich etwas fragen.“

„Liebst du mich, Jenny?“

„Das weißt du,“ sagte sie hastig und bang.

Er nahm ihre Hand in seine beiden:

„Ich weiß, du hast es eine Zeitlang getan. Gott weiß, ich begriff nie, aus welchem Grunde. Aber ich wußte, du sprachst die Wahrheit, wenn du es sagtest. Dein ganzes Wesen gegen mich war Liebe, Güte und Freude. Aber ich hatte immer Angst, daß der Tag kommen würde, an dem du mich nicht mehr liebtest.“

Sie blickte ihm in das weiße Gesicht:

„Ich bin dir so gut, Helge.“

„Ich weiß es wohl.“ Er lächelte flüchtig. „Ich weiß wohl, du bist nicht eine von denen, deren Herz erkaltet gegen den Mann, den sie einstmals liebten. Ich weiß auch, du willst mir nicht wehe tun — du wirst selbst leiden, wenn du mich nicht mehr liebst. — Ich habe dich so grenzenlos lieb, siehst du —“

Er senkte seinen Kopf und weinte. Sie zog ihn fest an sich:

„Helge. Mein Junge. Mein lieber, lieber Junge.“

Er hob wieder den Kopf und schob sie sanft zurück:

„Jenny — damals in Rom — ich hätte dich nehmen können. Du wolltest mein werden — ganz. Du hattest den guten Willen — in deiner Seele herrschte kein Zweifel darüber, daß unser Zusammenleben für uns Glück bedeuten würde. Ich war nicht so sicher — darum wohl wagte ich es nicht —. Später, hier zu Hause ... Ich sehnte mich so unsagbar. Ich wollte dich ganz besitzen, da ich fürchtete, dich eines Tages zu verlieren. Aber ich merkte, wie du immer auswichest, wenn du fühltest, daß dies Begehren in mir aufstieg.“

Sie blickte ihn erschrocken an. Es war so! Sie hatte es sich nicht gestehen wollen — aber er hatte Recht.

„Wenn ich dich jetzt bäte. In dieser Stunde!?“

Jenny bewegte die Lippen. Dann sagte sie schnell und fest:

„Ja.“

Helge lächelte traurig und küßte ihre Hand:

„Willig und gern? Weil du mein sein willst? Weil du dir ein Glück ohne mich und dich nicht denken kannst? Nicht nur, weil du mir etwas Liebes antun willst? Nicht nur, weil du nicht dein Wort brechen willst? Antworte aufrichtig!“

Sie warf sich weinend über seine Knie:

„Laß mich fortreisen! Ich will ins Gebirge fahren. Hörst du, Helge — ich muß mich selber wiederfinden — ich will deine Jenny werden, wie in Rom. Ich will, Helge — ich weiß weder aus noch ein, aber ich will. Wenn ich ruhiger geworden bin, schreibe ich an dich; dann kommst du nach und dann bin ich nur deine, ganz deine Jenny —.“

„Jenny,“ sagte Helge leise. „Ich bin meiner Mutter Sohn. Wir haben uns voneinander entfernt — wir haben uns schon jetzt voneinander entfernt. Du müßtest mich davon überzeugen, daß ich dir das Höchste auf Erden bin, das Einzige, mehr als alles andere — aber du kannst nicht. Ich fühle ja, daß du zu deiner Arbeit, deinen Freunden mehr gehörst als zu mir, während du dich unter den Menschen fremd fühlst, die mir nahestehen —.“

„Ich fühle mich deinem Vater gegenüber nicht so fremd,“ flüsterte Jenny unter Tränen.

„Nein. Aber Vater und ich sind uns fremd. Jenny — da ist deine Arbeit, in der ich niemals ganz eins mit dir werden kann. Ich weiß jetzt, daß ich auch darauf eifersüchtig bin. Jenny, verstehst du nicht, ich bin ja ihr Sohn. Fühle ich nicht sicher, daß ich für dich alles auf der Welt bedeute, so muß ich eifersüchtig sein, fürchten, daß eines Tages einer kommt, den du ganz lieben wirst, der dich besser versteht —. Ich bin von Natur eifersüchtig —.“

„Du darfst es nicht sein, Helge. Dann zerbricht alles. Ich dulde kein Mißtrauen gegen mich. Hörst du — ich kann leichter verzeihen, wenn du mich betrügst, als wenn du an mir zweifelst —.“

„Das könnte ich nicht.“ Er lachte gequält.

Jenny strich sich das Haar aus der Stirn und trocknete die Augen:

„Helge. Wir haben uns doch gern. Wenn wir alles um uns her verließen und wenn wir beide den Willen hätten, alles gutzumachen. Wenn zwei Menschen einander gut sein und einander glücklich machen wollen —.“

„Ich habe zu viel gesehen. Ich wage nicht auf meinen und deinen Willen zu bauen. Da sind andere, die auch auf den guten Willen gehofft haben. Ich habe gesehen, wie zwei Menschen einander das Leben zur Hölle machen können. — Du sollst mir auf das antworten, was ich dich fragte. Liebst du mich? Willst du mein sein — wie in Rom? Darf ich heute Nacht bei dir bleiben? Ist das dein Wunsch, der höchste, den du hast?“

„Ich bin dir doch gut, Helge.“ Sie schluchzte verzweifelt und leise.

„Ich danke dir,“ sagte er. Er ergriff ihre Hand und küßte sie. „Du kannst ja nichts dafür, armes Liebes, daß du mich nicht liebst. Das weiß ich wohl.“

„Helge!“ klagte sie flehend.

„Du kannst mir nicht sagen, Jenny, daß ich bleiben soll, weil du ohne mich nicht leben kannst. Wagst du es, die Verantwortung für alle Folgen zu übernehmen, wenn du sagst, du liebtest mich, nur damit ich jetzt nicht traurig von dir gehe —?“

Jenny starrte in ihren Schoß.

Helge zog den Regenmantel an und griff nach seinem Schirm.

„Leb wohl, Jenny.“ Er nahm ihre Hand.

„Gehst du von mir, Helge?“

„Ja, Jenny, ich gehe.“

„Kommst du nicht wieder?“

„Nur, wenn du mir sagen kannst, was ich dich fragte.“

„Das kann ich jetzt nicht sagen,“ flüsterte sie verzweifelt.

Helge strich ihr flüchtig übers Haar. Dann ging er.

Jenny blieb weinend auf dem Sofa sitzen. Sie schluchzte bitterlich und lange — ohne zu denken. Und inmitten der tiefen Müdigkeit, die darauf folgte, der Mattigkeit nach der kleinlichen Quälerei, der kleinlichen Demütigung und dem kleinlichen Hader der letzten Monate fühlte sie ihr Herz so leer und kalt. Helge hatte Recht.

Nach einer Weile verspürte sie Hunger. Als sie nach der Uhr sah, war es sechs.

Sie hatte vier Stunden so dagesessen. Als sie ihren Mantel anziehen wollte, entdeckte sie, daß sie ihn gar nicht abgelegt hatte.

Drüben an der Tür hatte sich eine Wasserpfütze gebildet — zwischen einigen Bildern im Blendrahmen. Jenny suchte nach einem Lappen und trocknete den Boden auf. Da fiel ihr plötzlich ein, daß das Wasser von Helges Schirm herrührte. Sie lehnte die Stirn an den Türrahmen und weinte wieder.