Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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V.

Zehn Tage später reiste Jenny nach Kopenhagen. Die Mutter und Bodil Berner gaben ihr in der frühen Morgenstunde das Geleite zum Bahnhof.

„Du hast es gut, du Glückspilz,“ sagte Bodil und lachte über ihr ganzes weiches braunes Gesichtchen. Dann gähnte sie, daß die Tränen ihr in die Augen stiegen.

„Es muß auch solche geben.“ Jenny lachte ebenfalls. „Dir geht es auch nicht gerade schlecht, finde ich.“

Aber sie fühlte mehr und mehr, daß sie nahe daran war, in Tränen auszubrechen, während sie ihre Mutter zum Abschied küßte. Sie stand am Abteilfenster und starrte sie an. Ihr war, als hätte sie diese ganze Zeit hindurch ihre Mutter niemals richtig angesehen. Diese schlanke und schmächtige, ein wenig gebeugte Gestalt. Man sah fast nicht, wie grau das Haar geworden, so blond war Frau Berner. In ihren Zügen lag etwas seltsam Unberührtes, Mädchenhaftes, trotz der vielen Fältchen. Aber es war, als ob die Jahre und nicht das Leben ihr Gesicht gezeichnet hatten. Trotz allem, was sie durchgemacht hatte.

Wenn sie es nun einmal erführe. Nein, Jenny würde nie den Mut haben, es zu sagen und zuzusehen, wie die Mutter den Schlag ertragen würde. Sie, die nichts gewußt hatte und nichts verstehen würde. Hätte Jenny nicht fortreisen können — dann wußte sie, hätte sie es nicht überlebt. Nicht aus Liebe, aus Feigheit. Einmal mußte sie es ja sagen, und von draußen her war sie eher dazu imstande.

In dem Augenblick, als der Zug anruckte und davon zu gleiten begann, erblickte sie Gert. Er kam langsam den Bahnsteig herauf; hinter den anderen, Mutter und Schwester, die mit ihren Taschentüchern winkten, grüßte er herüber. Wie bleich er war.

Der erste September. Jenny saß am Fenster und sah hinaus in die vorübergleitende Landschaft.

Es wurde ein schöner Tag. Die Luft war so klar und frisch, der Himmel so dunkelblau und die Wolken so weiß. Der Tau lag schwer und grau über den saftiggrünen Wiesen, auf denen der Margueriten später Flor schimmerte. Nach dem heißen Sommer waren die Birken am Waldrande ganz gelb und über den Waldboden hin schlängelte sich kupferrotes Blaubeerengebüsch. Die Büschel der Ebereschen waren blutrot, aber an einer etwas tiefgelegenen fruchtbaren Stelle hingen sie noch dunkelgrün im Laub. Welche Farben!

Auf den kleinen Hügeln zwischen den Wiesen lagen die alten, silbergrauen Gehöfte, auch neue, weißschimmernde und gelbe, mit roten Nebengebäuden. Davor standen alte verkrüppelte Apfelbäume mit gelben und glasgrünen Früchten in dunklem Laub.

Immer wieder blendeten Tränen ihren Blick. Wenn sie zurückkehrte — ob sie jemals hierher zurückkam?

Bei Moß trat der Fjord leuchtend blau hervor. Die Stadt zog sich mit ihren roten Fabrikmauern am Kanal entlang, die kleinen bunten Holzhäuser inmitten der Gärten lachten herüber. Sie hatte so oft gedacht, wenn sie vorüberfuhr, hier wollte sie sich einen Sommer über niederlassen und malen.

Der Zug brauste an der kleinen ländlichen Station vorüber, wo man nach Tegneby ausstieg. Jenny sah über die Aecker, dort lief die Fahrstraße. Der Hof lag weit drüben hinter dem Nadelwäldchen.

Sie erblickte den Kirchturm. Eigenartige kleine Cesca, sie ging oft in die Kirche, fühlte sich sicher und geborgen in der alten Stimmung, die dort überirdischen Kräften entsprang. Sie glaubte an etwas, wußte selbst nicht, was, aber sie hatte sich eine Art Gott zurechtgemacht.

Sie war doch froh darüber, daß Cesca jetzt besser mit ihrem Mann zusammenzuleben schien. Er habe sie nicht verstanden, schrieb sie, aber er sei doch so wunderbar zart und lieb gewesen, und fest davon überzeugt, daß sie mit Willen nie etwas Schlechtes tun würde.

Seltsame kleine Cesca. Ihr mußte es ja schließlich gut gehen. Cesca war rechtschaffen und gut. Gerade das aber war sie selber nicht, keines von beiden im eigentlichen Sinne.

Wenn sie nur der Mutter Tränen nicht sah, so konnte sie es eher ertragen, ihr Kummer zu machen. — Das hieß mit anderen Worten nur, sie fürchtete Tränen.

Und Gert. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Ein geradezu körperlicher Schmerz durchfuhr sie — Verzweiflung, Widerwillen, so tief, daß sie fast alle Kraft verlor und völlig gleichgültig wurde gegen alles.

Diese fürchterlichen letzten Tage in Kristiania mit ihm. Schließlich hatte sie nachgegeben.

Er wollte nach Kopenhagen kommen. Sie hatte versprechen müssen, irgendwo in Dänemark aufs Land zu gehen, wo er sie besuchen könnte. Gott mochte wissen, ob sie der Sache jemals würde ein Ende machen können.

Schließlich blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als ihm das Kind zu übergeben und ihn zu verlassen. Ja, denn alles, was sie ihm gesagt hatte, daß sie sich darauf freute und so weiter, war Lüge. Auf Tegneby hatte sie ein solches Gefühl des öfteren gehabt, denn dort hatte sie nur daran gedacht, daß es ihr Kind war und nicht das seine. Sollte es jedoch eine lebendige Fessel zwischen ihr und ihrer Schande werden, so wollte sie es um keinen Preis behalten. Sie würde es hassen müssen — sie haßte es ja schon, wenn sie an die letzten Tage in der Stadt dachte.

Das krankhafte Verlangen, aus Herzenslust zu schluchzen, war vorüber. Sie fühlte sich trocken und hart, als ob sie niemals wieder weinen könnte.

Eine Woche später, als Gert Gram kam, war sie so müde und gleichgültig, daß sie gute Laune vortäuschen konnte. Wenn er ihr vorgeschlagen hätte, in sein Hotel hinüberzuziehen, so hätte sie es getan. Sie veranlaßte ihn, mit ihr ins Theater zu gehen, außerhalb zu Abend zu essen und eines Tages bei schönem Wetter mit ihr nach Fredensborg zu fahren. Sie sah, daß es ihm gut tat, wenn sie sich munter und frisch gab.

Sie dachte kaum mehr nach. Ohne Anstrengung konnte sie ihre Gedanken ausschalten. In Wirklichkeit war ihr Gehirn kraftlos. Wie ein dauerndes mahnendes Erinnern war es nur, daß sich ihr die Brust schmerzhaft spannte und daß das Korsett sie behinderte.

Jenny hatte sich bei einer Lehrerswitwe auf Westseeland eingemietet. Gram begleitete sie dorthinaus und reiste am Abend nach Kopenhagen zurück. So war sie endlich allein.

Sie hatte aufs Geratewohl gemietet. Während ihres Studienaufenthaltes in Kopenhagen war sie einen Tag über mit einigen Kameradinnen in dem Dorfe gewesen; sie hatten im Krug gegessen und bei den Dünen gebadet. Sie entsann sich, daß es dort schön war, und als auf ihre Anzeige eine Frau Rasmussen dort sich erboten hatte, die junge Dame aufzunehmen, die ihre Niederkunft erwartete, da griff sie zu.

Eigentlich fühlte sie sich wohl. Allerdings wohnte die Lehrerswitwe in einem elend häßlichen, winzigkleinen gelben Backsteinhaus etwas außerhalb des Dorfes, an der Landstraße, die sich staubig und ohne Ende zwischen offenen, bestellten Feldern hinzog. Aber Jenny mochte ihr Zimmer gern mit der Tapete in Berlinerblau und den Lithographien nach Exner an den Wänden, mit den weißen, gehäkelten Deckchen ringsumher, auf dem Bett, dem amerikanischen Schaukelstuhl und der Kommode, auf die Frau Rasmussen bei Jennys Ankunft einen großen Rosenstrauß gestellt hatte.

Draußen vor den beiden Fensterchen lief die Landstraße vorbei. Im Vorgärtchen blühten Rosen, Geranien und „Christi Blutstropfen“, ungeachtet all des Staubes, mit dem sie gepudert waren. Jenseits der Straße erhob sich ein nackter Hügelkamm im Acker. Steinwälle, an deren Hängen struppige, leuchtende Herbstblumen zwischen Brombeerhecken wucherten, teilten den Hügel in weiße Stoppelfelder, blaugrüne Rübenäcker und braungrüne Wiesen, umrändert von zackigen, zerzausten Weidenbüschen. War die Abendsonne aus Jennys Kammer geschwunden, so flammte der Himmel über dem Hügelkamm und den spärlichen Zweiglein der Weiden auf.

Hinter ihrem Zimmer ging eine kleine puppenstubenartige Küche mit rotem Backsteinfußboden, auf den Hof hinaus, wo die Hühner der Witwe gackerten und die Tauben gurrten. Ein kleiner Flur lief quer durch das ganze Haus. Auf der anderen Seite lag Frau Rasmussens Stube mit Blumen vor den Fenstern und gehäkelten Decken überall, Daguerreotypien und Photographien an den Wänden, einem kleinen Bücherschrank mit religiösen Schriften in schwarzem Pappeinband, einigen Jahrgängen von „Frem“ und Gyldendals Serien in Prachtbänden. Dahinter befand sich ein Zimmerchen, in dem die Luft immer merkwürdig dick war, und das ein unbestimmbarer Geruch erfüllte, obgleich es vor Sauberkeit blitzte. Hier schlief sie selbst und konnte nicht hören, wenn sich ihre Pensionärin jenseits des Ganges Nacht für Nacht in den Schlaf weinte.

Frau Rasmussen war übrigens nicht so schlimm. Groß und schlottrig schlürfte sie in einer Art von Filzschuhen leise umher; immer sah sie gleichmäßig sorgenvoll aus mit ihrem langen gelben Pferdegesicht, unter dem graugesprenkelten Haar, das mit einem drolligen kleinen Schwung über jedem Ohr weggestrichen war. Sie sprach fast gar nicht, höchstens stellte sie einige besorgte Fragen, ob das gnädige Fräulein mit dem Essen und dem Zimmer zufrieden sei. Selbst wenn Jenny nach dem Mittagessen sich hin und wieder mit ihrer Handarbeit in das Wohnzimmer zu Frau Rasmussen setzte, schwiegen sie still. Jenny war ihr besonders dafür dankbar, daß Frau Rasmussen niemals ihren Zustand erwähnte; nur ein einziges Mal hatte sie ängstlich gefragt, als Jenny mit ihrem Malgerät hinausging, ob das wohl dem gnädigen Fräulein nicht schaden könnte.

Sie arbeitete in der ersten Zeit eifrig, stand hinter einem Steinwall mit ihrer Feldstaffelei, die der scharfe Wind fast umblies. Unter dem Wall erstreckte sich das gelbe Stoppelfeld eines endlosen Roggenackers bis zum Moor hinab, wo sich weißes Wollgras an blauen Wasserlöchern hinzog, wo samtschwarze Torfmieten auf saftiggrünem Wiesengrund lagen. Hinter dem Sumpf wellte sich das Land mit grünen Rübenfeldern, Wiesen und gemähten Roggenäckern, mit kalkweißen Bauernhöfen in üppigen, dunkelgrünen Hainen — bis hinüber zum frischen, blauen Fjord. Der Strand lief in Bogen und Zungen, mit weißgelbem Sand und kurzem, vergilbtem Gras, in die See hinaus. Gegen Norden fiel der Hügel, vom Heidekraut braun gefärbt, mit der Windmühle auf der Spitze, in steilen, gelben Sanddünen zum blauen Fjord ab. Schatten und Licht wechselten auf dem offenen Lande ab, je nachdem wie die Wolken über den weißen, ewig blauen unruhigen Himmel wanderten.

Wenn Jenny müde wurde, legte sie sich am Walle nieder, starrte in den Himmel und über den Fjord. Sie konnte nicht längere Zeit hintereinander stehen, doch das reizte sie nur, weiterzuarbeiten. Zwei kleinere Bilder vollendete sie oben auf dem Wall, und freute sich selbst an ihnen. Eines malte sie vom Dorfe unten, wo die weißgekalkten Häuser, umgeben von Kletterrosen und Georginen, um einen sammetgrünen Dorfteich lagen. Ihre Strohdächer hingen bis über die Fensterscheiben hinab, die rote Backsteinkirche erhob ihren treppengiebligen Turm über die Laubmassen des Pfarrhausgartens. Es machte sie aber nervös, daß die Leute zu ihr kamen und ihr zusahen; die weißhaarigen Jungen umstanden sie in Knäueln, während sie malte. Als das Bild dann fertig war, zog sie mit ihrer Staffelei wieder hinauf zum Wall, der See entgegen.

Dann kam aber im Oktober der Regen; es goß ein oder zwei Wochen lang. Ab und zu klärte es sich etwas auf und ein trüber, gelber Lichtstreifen glitt durch die Wolken, über dem Hügel mit den traurigen Weidenbüschen hin, und die Wasserpfützen lagen ein Weilchen blank da. Dann regnete es wieder.

Jenny lieh sich Frau Rasmussens Bücher und ließ sich die Muster der gestrickten Spitzen an ihren Gardinen zeigen. Aber es wurde nicht viel, weder mit dem Lesen noch mit dem Stricken. Sie saß den lieben langen Tag im Schaukelstuhl am Fenster und war nicht einmal imstande, sich ordentlich anzuziehen, sondern schlüpfte nur in ihren verwaschenen Kimono.

Sie litt furchtbar darunter, daß ihre Schwangerschaft nach und nach sichtbar wurde.

Da meldete Gert Gram seinen Besuch. Schon zwei Tage später kam er am frühen Morgen in strömendem Regen angefahren. Er blieb eine Woche, wohnte im Bahnhofshotel, eine halbe Meile entfernt, war aber den ganzen Tag bei ihr draußen. Als er abreiste, versprach er, bald wiederzukommen, vielleicht schon in sechs Wochen.

Jenny lag die Nächte hindurch bei brennender Lampe wach. Sie wußte nur, sie konnte das nicht mehr ertragen. Es war zu furchtbar gewesen.

Unerträglich war es — alles — von seinem ersten teilnehmenden, besorgten Blick an, als er sie in dem neuen dunkelblauen Hängerkleid erblickte, welches das Nähmädchen im Dorf für sie angefertigt hatte. „Wie schön du bist,“ hatte er gesagt und gemeint, sie gliche einer Madonna. Reizende Madonna! O ja. — Sein vorsichtiger Arm um ihren Leib, seine langen behutsamen Küsse auf ihre Stirn — ihr war, als sollte sie sterben vor Scham. Ja, wie er sie gepeinigt hatte mit seiner liebevollen Besorgnis um ihre Gesundheit, mit seinen Ermahnungen, für Bewegung zu sorgen. Als einmal eine Pause zwischen den Regenschauern eintrat, hatte er sie mit hinaus auf einen Spaziergang geschleppt, und sie mußte sich um jeden Preis bei ihm einhängen und sich auf seinen Arm stützen. Eines Abends besah er verstohlen ihre Handarbeit — er hatte sicher erwartet, daß sie damit beschäftigt sei, Windeln zu säumen.

Es war ja keine böse Absicht von ihm. Aber darum war auch keine Hoffnung vorhanden, daß es besser sein würde, wenn er wiederkam, im Gegenteil. Aber sie konnte auch nicht mehr. —

Eines Tages bekam sie einen Brief von ihm, in dem er unter anderem schrieb, daß sie auf jeden Fall einen Arzt zu Rate ziehen müsse.

Am nämlichen Abend schrieb sie einen kurzen Brief an Gunnar Heggen: sie erwarte im Februar ein Kind; ob er ihr die Adresse eines stillen Ortes in Deutschland verschaffen könne, wo sie bleiben könne, bis es überstanden sei.

Er antwortet umgehend:

Liebe Jenny!

Ich habe in zwei hiesigen Zeitungen annonciert und schicke dir alle Briefe zu, wenn sie kommen; dann kannst du sie dir selbst ansehen. Falls du willst, daß ich irgendwo hinreise und mir für dich etwas ansehe, ehe du mietest, so weißt du, daß ich es mit Vergnügen tue, und überhaupt kannst du in jeder Weise über mich verfügen. Schreibe, wann du reisest und welchen Weg, ob du willst, daß ich dir entgegenkommen, oder ob ich dir mit irgend etwas anderem helfen kann. Was du mir erzählst, hat mich sehr betroffen, aber ich weiß ja, du bist verhältnismäßig stark genug, um einen Stoß zu vertragen. Willst du mir bitte schreiben, ob ich dir noch in anderen Sachen beistehen kann? Du weißt, ich würde mich freuen, dir einen Dienst zu erweisen. — Ich höre, du hast ein gutes Bild auf der Staatsausstellung — herzlichen Glückwunsch!

Viele Grüße von Deinem alten Freunde

G. H.

Einige Tage später kam ein ganzes Paket Briefe. Jenny buchstabierte sich durch einen Teil der Schreiben hindurch, die vielfach mit fürchterlichen Krähenfüßen bemalt waren. Dann schrieb sie an Frau Schlessinger in der Umgegend von Warnemünde und mietete dort vom fünfzehnten Oktober ab, teilte Gunnar ihren Entschluß mit und kündigte Frau Rasmussen.

Erst am letzten Abend schrieb sie an Gert Gram:

Lieber Freund!

Ich habe einen Entschluß gefaßt, der Dir, wie ich fürchte, wehe tun wird. Aber Du darfst mir nicht zürnen. Ich bin so müde und nervös, weiß selbst, daß ich ungerecht und häßlich gegen Dich war, als Du hier warst, und das möchte ich so ungern. Daher will ich Dich nicht eher sehen, als bis alles überstanden ist und ich wieder in normalem Zustande bin. Ich reise morgen früh ins Ausland — meine Adresse gebe ich vorläufig nicht an, Briefe kannst Du mir aber durch Frau Franziska Ahlin, Varberg, Schweden, senden; ich schreibe vorläufig über sie an Dich. Du darfst Dich meinetwegen nicht ängstigen; ich bin frisch und es geht mir recht gut, aber, Lieber, versuche nicht, bis auf weiteres anders mit mir in Verbindung zu kommen, ich bitte Dich inständig. Und sei mir nicht allzu böse, aber ich glaube, dieser Ausweg ist für uns beide der beste. Versuche, um meinetwillen so wenig betrübt und besorgt zu sein, wie es Dir möglich ist.

Deine
 Jenny Winge.

So zog sie denn zu einer neuen Witwe in ein neues Häuschen, diesmal ein rotes mit weißgekalkten Fenstersimsen. Es lag in einem kleinen Garten mit fliesenbedeckten Wegen und Muscheln am Rande der Beete, auf denen schwarze, verfaulte Astern und Georginen standen. Etwa zwanzig bis dreißig solcher Häuser lagen an einem Stückchen Straße entlang, die von einem Bahnhof bis zu einem Fischerhafen hinabführte, wo die See sich an langen Steinmolen brach. Eine Strecke entfernt, drüben auf dem weißen Strand, wo der Tang in Massen hereintrieb, lag ein kleines Badehotel mit verschlossenen Läden. Ins Land hinein erstreckten sich endlose Wege mit nackten, struppigen Pappeln, die sich im Winde neigten, vorbei an kleinen Steingehöften mit einem Stümpfchen Vorgarten und ein bis zwei großen schwarzen Heumieten, über unendliche schwarze Felder und Moore. Des Morgens war das Land mitunter von wässriggrauem frischem Schnee bedeckt, der im Laufe des Tages schwand.

Jenny wanderte die Straßen hinauf, so weit sie konnte, dann kam sie nach Haus und saß in ihrem Zimmerchen, das diesmal mit den prächtigsten Nippessachen überfüllt war, mit farbigen Gipsreliefs von Ritterburgen und munteren Wirtshausszenen in Messingrahmen. Sie war nicht einmal imstande, das nasse Schuhzeug zu wechseln, Frau Schlessinger zog ihr Stiefel und Strümpfe aus, ununterbrochen schwatzend und Jenny ermahnend, guten Mutes zu sein. Sie erzählte von all den Leidensgenossinnen Jennys, die sie im Hause gehabt hatte — jetzt war die eine oder andere verheiratet und es ging ihnen gut, ja!

Sie hatte etwa einen Monat hier gewohnt, als Frau Schlessinger hereinkullerte, aufgeregt und strahlend — es sei ein Herr gekommen, der das gnädige Fräulein begrüßen wollte.

Jenny saß gelähmt vor Angst. Dann konnte sie fragen, wie der Herr aussähe. Ganz jung, sagte Frau Schlessinger, und sie lächelte lauernd. Sollte es Gunnar sein? Sie erhob sich, — aber dann warf sie das Reiseplaid über, hüllte sich ganz darin ein und kroch in den tiefsten Lehnstuhl.

Frau Schlessinger wackelte entzückt hinaus, um den Herrn hereinzuholen. Sie führte Gunnar zu Jenny hin und verweilte, glücklich lächelnd, einen Augenblick in der Tür, ehe sie verschwand.

Er preßte ihre Hände, daß es wehe tat. Aber er lachte strahlend:

„Ich muß doch einmal nach dir sehen, wie es dir geht. — Ich finde allerdings, du hast dir ein trauriges Stück Erde ausgesucht, aber jedenfalls ist hier frische Luft.“ Er schüttelte ein wenig Wasser von seinem Filzhut, den er in der Hand gehalten hatte.

Jenny machte eine Bewegung, als ob sie sich erheben wollte, blieb jedoch sitzen und sagte errötend: „Vielleicht bist du so lieb und läutest für mich. Du sollst jetzt Tee — und Essen bekommen!“

Heggen aß wie ein Wolf und plauderte unterdeß beständig. Er war begeistert von Berlin; er wohnte oben in Moabit, im Arbeiterviertel, und sprach mit gleichem Entzücken von deutschen Sozialdemokraten wie vom Militarismus — „ja, an denen ist so was herrlich Maskulines, siehst du. Das eine folgt außerdem aus dem anderen.“ Er hatte ein paar großindustrielle Betriebe zu sehen bekommen, auch das Nachtleben hatte er ein wenig studieren müssen, da er auf einen norwegischen Ingenieur gestoßen war, der sich dort auf der Hochzeitsreise befand, und auf eine norwegische Familie mit zwei reizenden, anmutigen Töchtern — die jungen Damen waren förmlich begeistert nachdem sie das Laster ein wenig aus der Nähe gesehen hatten.

„Uebrigens entzweite ich mich mit ihnen. Ich schlug nämlich Fräulein Paulsen eines späten Abends vor, mit zu mir nach Haus zu kommen —.“

„Nein, aber Gunnar —“.

„Ja, Teufel auch, ich war eben etwas betrunken, das kannst du dir wohl denken, und dann war es doch nur Scherz, weißt du. Das hätte ja bloß gefehlt, daß sie darauf eingegangen wäre — dann hätte ich hübsch in der Tinte gesessen. Hätte mich vielleicht mit einem Mädel verheiraten müssen, das sich damit amüsiert, an solchen Dingen zu schnuppern — nein, danke. Es machte mir nur Spaß, zu sehen, wie sie sich sittlich entrüstete. Nun, Gefahr war nicht vorhanden — diese Art Mädchen gibt nicht ihr Kleinod hin, ohne sich die Valuta zu sichern —.“

Er wurde plötzlich rot. Es kam ihm in den Sinn, daß Jenny es taktlos finden könnte, wenn er so zu ihr sprach — jetzt. Aber sie lachte nur:

„O, bist du verrückt, Junge!“

Die unnatürliche, quälende Scheu war nach und nach von ihr gewichen. Heggen fuhr fort zu plaudern. Einige Male, wenn sie es nicht sah, hingen seine Augen ängstlich an ihrem Gesicht. Herrgott, wie war sie mager und hohläugig geworden — so gefurcht um den Mund. Die Sehnen am Halse traten hervor, und ein paar häßliche Streifen zogen sich über die Kehle.

Es war trockenes Wetter geworden, so daß sie einen Spaziergang mit ihm machen wollte.

Ueber die öde Landstraße mit den verwehten Pappeln hin gingen sie durch den Seenebel, Jenny schwerfällig und müde.

„Nimm doch meinen Arm,“ sagte Gunnar beiläufig, was sie auch tat.

„Ich finde es hier schrecklich trübselig, Jenny. Weißt du was, wäre es nicht besser, du reistest nach Berlin?“

Jenny schüttelte den Kopf.

„Dort hast du die Museen und so viel anderes. Jemand, mit dem du zusammen sein kannst. Oder mach’ wenigstens eine kleine Reise dort hinunter, um dich aufzumuntern. Ich finde, hier muß es langweilig sein.“

„Ach nein, Gunnar, du kannst dir doch denken — nicht jetzt —.“

„In diesem Ulster siehst du so hübsch aus,“ sagte er kurz darauf vorsichtig.

Jenny senkte den Kopf.

„Ich bin ein Tolpatsch,“ erklärte er plötzlich heftig. „Verzeih! Du mußt mirs sagen, Jenny, wenn ich dich quäle.“

„Nein, das tust du nicht.“ Sie sah auf. „Ich bin froh, daß du kamst.“

„Ich verstehe ja, daß es schwer sein muß.“ Seine Stimme klang jetzt ganz anders. „Ja, Jenny, ich verstehe es. Aber es ist mein Ernst, ich glaube, du machst es dir noch schwerer, wenn du hier umherläufst — in diesem Zustand. Ich finde, du solltest an einen anderen Ort reisen, der weniger — trostlos ist!“ Er blickte hinaus über die dunklen Wiesenstrecken und die Pappelreihen, die sich im Nebel verloren.

„Frau Schlessinger ist aber so freundlich,“ sagte Jenny ausweichend.

„Ja, Armes, das stimmt schon.“ Er begann zu lachen. „Sie verdächtigt sicher mich, der Missetäter zu sein!“

„Ja,“ sagte Jenny, ebenfalls lachend.

„Nun ja, Teufel auch.“ Sie gingen schweigend weiter. „Du — hast du dir schon überlegt, wie du dir dein Leben einrichten willst in Zukunft?“

„Ich weiß noch nicht recht. Du meinst wohl mit — dem Kinde? Ich lasse es vielleicht — bis auf weiteres — bei Frau Schlessinger. Sie wird es sicher ordentlich pflegen. Oder es adoptieren.“ Sie lachte. „Man adoptiert ja mitunter solche Kinder. Du weißt, ich könnte mich Frau Winge nennen und darauf pfeifen, was die Leute denken —.“

„Du bist also fest entschlossen, wie du schriebst, jegliche Verbindung mit — dem betreffenden Vater des Kindes abzubrechen?“

„Ja,“ sagte sie hart. „Es ist nicht der, mit dem ich — verlobt war,“ fügte sie nach einer Weile hinzu.

„Na, Gott sei Dank!“ Es klang so herzlich, daß sie unwillkürlich lächelte „Ja, weißt du was, Jenny, er war es wahrhaftig nicht wert, reproduziert zu werden, für dich jedenfalls. Er hat übrigens seinen Doktor gemacht, sah ich kürzlich. Nun ja, es hätte also schlimmer sein können — ich fürchtete ja, siehst du —.“

„Es ist sein Vater,“ sagte sie plötzlich.

Heggen hielt inne.

Als sie in Tränen ausbrach, wild und herzzerreißend, umfing er sie. Er legte seine Hände um ihr Gesicht, während sie fortfuhr, an seiner Schulter zu schluchzen.

Sie begann zu erzählen, während sie so standen. Einmal blickte sie ihm ins Antlitz — es war ganz bleich und verzerrt — da weinte sie aufs neue.

Als es vorüber war, hob er einen Augenblick ihren Kopf:

„Herr Jesus, Jenny — so ist es dir ergangen! Ich begreife es nicht.“ —

Sie gingen schweigend wieder zur Stadt zurück.

„Komm mit mir nach Berlin,“ sagte er plötzlich bestimmt. „Ich ertrage den Gedanken nicht. Es geht nicht, daß du hier allein bleibst und über all das nachgrübelst —.“

„Ich habe fast aufgehört zu grübeln,“ flüsterte sie matt.

„Das Ganze ist überhaupt sinnlos!“ Er wurde so heftig, daß sie stehen blieb. „Den Besten von euch geht es so! Und wir ahnen nicht, wie ihr es tragt! Das ist sinnlos!“

Heggen blieb drei Tage in Warnemünde. Jenny verstand es selber kaum, warum ihr nach seinem Besuch so viel besser zumute war. Aber dieses unleidliche Gefühl der Demütigung war geschwunden, sie sah ihr Geschick jetzt mit viel ruhigeren und natürlicheren Augen an.

Frau Schlessinger lief umher und lächelte froh und untertänig, obgleich Jenny ihr erklärt hatte, daß dieser Herr ihr Vetter war.

Er hatte ihr angeboten, ihr seine Bücher zu schicken, und bald kam eine ganze Kiste voll an, zum Weihnachtsfest sandte er Blumen und Konfekt. Jede Woche schrieb er lange Briefe von allen möglichen Dingen und schickte Ausschnitte aus norwegischen Zeitungen. Zu ihrem Geburtstag im Januar kam er selbst herauf und blieb zwei Tage, ihr einige neue norwegische Bücher vom Fest her zurücklassend.

Aber gleich nach seinem letzten Besuch erkrankte sie. Sie war elend, matt, zerquält und hatte in der letzten Zeit nicht schlafen können. Vorher hatte sie nur selten an die Geburt selbst gedacht und sich nicht davor gefürchtet. Jetzt, bei den ständigen Schmerzen ergriff sie eine fürchterliche Angst vor dem, was ihr bevorstand. Als sie sich dann schließlich legen mußte, war sie von Angst und Schlaflosigkeit völlig entkräftet.

Es war eine schwere Geburt. Jenny war dem Tode näher als dem Leben, als der Arzt, der von Warnemünde herbeigeholt worden war, endlich ihren Jungen in seinen blutigen Händen hielt.