Jennys Knabe lebte sechs Wochen — genau vierundvierzig und einen halben Tag, sagte sie bitter zu sich selber, wenn sie wieder und wieder die kurze Zeit überdachte, während der sie gewußt hatte, was es heißt, glücklich zu sein.
Sie weinte die ersten Tage danach nicht, ging nur um das tote Kind herum und würgte tief in der Kehle. Sie nahm es hoch und liebkoste es:
„Bübchen — Mutters kleiner, kleiner, süßer Junge — du darfst nicht — hörst du — Bübchen darf nicht tot sein, verstehst du mich denn nicht —.“
Der Knabe war klein und schwächlich gewesen, als er zur Welt kam. Aber Jenny wie auch Frau Schlessinger meinten, daß er gedeihen und großartig wachsen würde. Dann wurde er eines Morgens krank und starb gegen Mittag.
Als er begraben war, begann sie zu weinen, und jetzt konnte sie nicht innehalten. Sie schluchzte fast andauernd, Tag und Nacht, wochenlang. Krank wurde sie auch, bekam eine Brustentzündung, so daß Frau Schlessinger den Arzt holen mußte, der sie dann schnitt. — Die körperlichen Schmerzen und die Verzweiflung ihrer Seele flossen zu einem zusammen, den fürchterlichen Fiebernächten.
Frau Schlessinger schlief im Zimmer nebenan. Wenn sie die merkwürdig tierischen, erstickten Klagelaute aus dem Zimmer des jungen Mädchens vernahm, wackelte sie entsetzt herbei und setzte sich auf einen Stuhl vor dem Bett: „Um Gotteswillen, Fräulein —.“
Sie pflegte Jenny und streichelte ihre mageren, klammen Hände mit ihren dicken, warmen. Sie redete ihr gut zu. Es sei Gottes Wille, vielleicht das Beste für den Jungen wie für das gnädige Fräulein selber. Fräulein sei ja noch so jung —. Frau Schlessinger hatte selbst ihre beiden Kinder verloren, die kleine Bertha, als sie zwei Jahre alt war, und Wilhelm mit vierzehn Jahren, so einen kecken Burschen. Sie waren doch in gesetzlicher Ehe geboren und hatten ihre Stütze sein sollen, aber dieser Kleine hier, er wäre ja nur eine Fessel an Fräuleins Fuß gewesen — und Fräulein sei doch so jung und nett. Ach Gott, gewiß war er lieb gewesen, der kleine Engel, ja, schwer genug sei es schon —.
Ihren Mann hatte Frau Schlessinger auch verloren — ja. Und es gab viele Leidensgenossinnen von Jenny, die Frau Schlessinger im Hause gehabt hatte, deren Kinder gestorben waren — ja, einige seien froh gewesen, einige hätten sie geradezu vernachlässigt, um sie loszuwerden — ja, es war häßlich, aber was soll man dazu sagen? Einige hatten auch geweint und gejammert wie jetzt Jenny, aber sie kamen mit der Zeit darüber hinweg; die eine und die andere war jetzt verheiratet und hatte es glücklich getroffen. Aber eine solche Verzweiflung wie beim gnädigen Fräulein habe sie doch noch nie erlebt. Herrgott im Himmel!
Daß der Vetter nach dem Süden gereist war, erst nach Dresden und darauf nach Italien, gerade in jenen Tagen, als der Knabe starb, dem schrieb Frau Schlessinger in ihrem Herzen einen großen Teil von Jennys Verzweiflung zu. Ja, ja, so waren sie nun einmal, die Mannsleute.
Unauflöslich verbunden mit der Erinnerung an diese wahnwitzigen, qualerfüllten Nächte war seitdem für Jenny das Bild von Frau Schlessinger, wie sie dort auf dem Stühlchen vor dem Bette saß, während das Lampenlicht sich in den Tränen brach, die aus ihren freundlichen Aeuglein sickerten und über ihre runden roten Apfelwangen tropften. Ihr Mund, der nicht einen Augenblick still stand, ihr kleiner grauer abstehender Zopf und ihre weiße Nachtjacke mit dem Zackenbesatz, ihr Unterrock aus rosa und grau gestreiftem Flanell mit den gestickten Zacken rings herum. Und das kleine Zimmer mit den Gipsreliefs in Messingrahmen.
Sie hatte Heggen von ihrem großen Glück geschrieben. Er hatte auch geantwortet; er wäre gern gekommen, um sich den Buben anzuschauen, aber die Reise war lang und teuer, außerdem war er im Begriff, nach Italien aufzubrechen. Später sei sie mit dem Prinzen willkommen und er sende die besten Glückwünsche! —
Als das Kind starb, war Heggen in Dresden: sie bekam einen langen schönen Brief von ihm.
An Gert hatte sie einige Zeilen geschrieben, sobald sie konnte. Sie gab gleichzeitig ihre Adresse auf, bat ihn jedoch, nicht vor dem Frühling herunterzukommen, dann wäre der Kleine groß und hübsch geworden. Jetzt könnte wohl nur die Mutter sehen, wie prächtig er war. — Als sie wieder aufgestanden war, sandte sie ihm ein längeres Schreiben.
Am Tage, als das Kind begraben wurde, schrieb sie wieder und teilte in wenigen Worten seinen Tod mit. Gleichzeitig erwähnte sie, daß sie am selben Abend nach dem Süden reise und daß er nicht erwarten dürfe, von ihr zu hören, bis sie ruhiger geworden: „Du brauchst dich nicht um mich zu ängstigen,“ schrieb sie, „ich bin jetzt soweit vollkommen ruhig und gefaßt, aber natürlich grenzenlos traurig.“
Dieser Brief kreuzte sich mit einem von Gert Gram. Dieser lautete:
Meine kleine Jenny!
Ich danke Dir für Deinen letzten Brief. Zu allererst muß ich Dir sagen, da Du Dir scheinbar Vorwürfe machst in bezug auf Dein Verhältnis zu mir; liebes kleines Mädchen, ich mache Dir ja keine, und darum darfst Du es auch nicht. Du bist ja immer nur gut und weich und liebevoll gegen Deinen Freund gewesen. Nie werde ich Deine Zärtlichkeit und Deine Wärme aus der kurzen Zeit, da Du mich liebtest, vergessen — Deine süße Jungfräulichkeit und feine, sanfte Hingebung in den Tagen unseres kurzen Glücks.
Unser Glück konnte nur kurz sein; das hätten wir beide wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen. Du hättest es wohl wissen können, wenn Du nachgedacht hättest; aber was denken zwei Menschen, die sich zu einander hingezogen fühlen? Daß Du eines Tages aufhörtest, mich zu lieben — glaubst Du, ich werfe Dir das vor? Wenn es mir auch das bitterste Leid verursachte in meinem sonst nicht eben glücklichen Leben — doppelt bitter für mich, da ich gleichzeitig erfuhr, daß Du für unser Verhältnis nun durch dein ganzes Leben büßen mußt.
Aber nun sehe ich aus Deinem Briefe, daß diese Folgen, über die ich sicher viel verzweifelter war als Du, was Du auch an Sorgen und körperlichen Leiden durchgemacht haben magst, Dir dennoch eine tiefere Freude, ein größeres Glück geschenkt haben, als es Dir sonst im Leben begegnet ist. Ich sah, daß die Mutterfreude Dich ganz mit Frieden, Lebensmut und Zufriedenheit erfüllte, so daß Du meinst, mit Deinem Kinde im Arm genug Kraft zu besitzen, um alle Schwierigkeiten, ökonomische wie soziale zu überwinden, die die Zukunft einer jungen Frau in Deiner Lage bringen kann. Daß Du dies schreibst, macht mich froher, als Du ahnen kannst. Für mich ist dies wiederum ein Beweis für das Walten jener ewigen Gerechtigkeit, an der ich ja nicht zweifle. Dir, die Du einen Irrtum begingst, weil Dein Herz warm und zärtlich war und nach Zärtlichkeit dürstete, wird gerade dieser Irrtum, der Dir so verzweifelte Stunden gebracht hat, schließlich all das bescheren, wonach Du so brennend verlangtest, besser, schöner und reiner, als Du es je erträumt. Schon jetzt, da dein Herz ganz von Liebe zu Deinem Kinde erfüllt ist und später in noch höherem Maße, wenn der kleine Bursche heranwächst, seine Mutter kennen lernt, sich an sie hängt und ihre Liebe erwidern kann, stärker, tiefer und bewußter mit jedem Jahre, das dahingeht.
Und mir, der ich Deine Liebe entgegennahm, obgleich ich hätte wissen müssen, daß ein Liebesverhältnis zwischen uns unmöglich und unnatürlich war — mir haben diese Monate unerträgliches Leiden und Trauern gebracht — und einen Verlust, Jenny, einen Verlust, wie Du ihn Dir nicht vorstellen kannst, den Verlust Deiner Person, Deiner Jugend, Deiner Schönheit, Deiner gesegneten Liebe. Jede kleinste Erinnerung an diese Dinge war durch die Reue verbittert — diese ständig nagende Frage, wie konnte ich sie es tun lassen, wie konnte ich es annehmen, wie konnte ich an ein Glück für mich mit ihr glauben? Ja, Jenny, ich habe daran geglaubt, so wahnsinnig es auch klingt, weil ich mich bei Dir so jung fühlte. Vergiß nicht, daß ich meiner eigenen Jugend verlustig ging, und dies, als ich weit jünger war als Du jetzt bist; der Jugend arbeitsfrohes Leben und frohes Liebesglück durfte ich — durch eigene Schuld — nicht kennen lernen. Und dies war die Strafe. Gespenstisch kehrte meine tote Jugend zurück, als ich Dich gesehen — mein Herz fühlte sich nicht älter als das Deine. Oh, Jenny, nichts auf der Welt ist fürchterlicher, als wenn ein Mann alt und sein Herz jung geblieben ist.
Du schreibst, Du sähest es gern, wenn ich später, sobald der Knabe größer geworden ist, Dich besuchte, um mir unser Kind anzusehen. Unser Kind — es ist ein so widersinniger Gedanke. Weißt Du, woran ich dauernd denken muß? Kannst Du Dich des alten Joseph entsinnen auf den italienischen Altarbildern, der immer abseits oder im Hintergrunde zur Seite steht, zärtlich und wehmütig das göttliche Kind und dessen junge, herrliche Mutter betrachtend, diese beiden, die ganz von einander in Anspruch genommen sind, und seine Anwesenheit gar nicht beachten. Liebe Jenny, mißverstehe mich nicht, ich weiß ja, daß das Kindchen, das jetzt in Deinem Schoß liegt, auch mein Fleisch und Blut ist und doch — wenn ich jetzt an Dich denke, die Mutter geworden ist, dann komme ich mir wie der arme alte Joseph vor, der draußen steht.
Aber deshalb solltest Du ebensowenig Bedenken tragen, den Namen als meine Gattin anzunehmen und den Schutz, der für Dich und Dein Kind darin liegt, wie Maria, als sie sich dem Joseph anvertraute. Eigentlich finde ich, es ist nicht ganz richtig von Dir, dem Kinde den Vatersnamen zu rauben, auf den es doch ein Anrecht hat — Du magst soviel Selbstvertrauen haben wie Du willst. Selbstverständlich ist es, daß Du im Falle einer solchen Ehe ebenso frei und ungebunden bleibst wie sonst, und daß diese Ehe auch, sobald du es wünschest, gesetzlich aufgehoben wird. Ich bitte Dich inständig, Dir dies zu überlegen. Wir können uns im Auslande trauen lassen, wenn Du es wünschest, und schon einige Monate danach können Schritte zur Trennung getan werden. Du brauchst nie wieder nach Norwegen zurückzukehren, geschweige denn unter einem Dach mit mir zu wohnen.
Von mir selbst ist nicht viel zu berichten. Ich habe zwei kleine Zimmer hier oben auf dem Haegdehaug ganz in der Nähe jenes Landhauses, in dem ich geboren bin und bis zu meinem zehnten Jahre gelebt habe, als mein Vater im Numetal Vogt wurde. Von meinem Fenster aus sehe ich die Spitzen der beiden großen Kastanien an der Eingangstür meines Vaterhauses. Sie haben sich nicht sonderlich verändert. Hier oben beginnen die Abende bereits lang und licht und lenzhaft zu werden, die Bäume zeichnen ihre nackten braunen Kronen in den fahlgrünen Himmel, an dem einzelne goldene Sterne durch die scharfe klare Luft funkeln. Abend für Abend sitze ich hier an meinem Fenster und starre in die Ferne, während mein ganzes Leben in Träumen und Erinnerungen an mir vorüberzieht. Ach, Jenny, wie hatte ich jemals vergessen können, daß ein ganzes Leben zwischen Dir und mir lag, ein Leben, fast doppelt so lang wie das Deine, ein Leben, von dem mehr als die Hälfte in ununterbrochener Demütigung, Niederlage und Schmerz dahingeschleppt worden ist. —
Daß Du ohne Zorn und Bitterkeit an mich denkst, ist mehr, als ich erhofft und erwartet habe. Das Glück, das durch jede Zeile Deines Briefes atmet, hat mir so unsagbar wohlgetan. Gott segne und behüte mein Kind und Dich; alles Glück der Welt wünsche ich auf Dich und das Kind herab. Ich habe Dich so unsäglich lieb, Du kleine Jenny, die einst mein war.
Dein treuer
Gert Gram.