Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

PLEASE NOTE: This is an HTML preview only and some elements such as links or page numbers may be incorrect.
Download the book in PDF, ePub, Kindle for a complete version.

 

VII.

Jenny blieb bei Frau Schlessinger wohnen. Dort war es billig — und sie wußte nicht, wohin mit sich.

Es lag Lenzeswehen in der Luft, über die gewaltige, offene Himmelskuppel hin segelten schwere, vom Sonnenlicht verbrämte Wolken, die wie Gold und Blut brannten und sich an den Abenden im unruhigen Meer spiegelten, wenn sie draußen auf der Mole war. Die trübseligen, dunklen Flächen im Lande wurden lichtgrün, die Pappeln schimmerten braunrot von neuem Sproß, und dufteten lind und weich. Am Eisenbahndamm wimmelte es von Veilchen und kleinen weißen und gelben Blumen. Schließlich war die Ebene üppig grün, es sprühte von Farben an den Wegrainen, schwefelgelbe Iris und große weiße Doldenpflanzen spiegelten sich in den Wasserlöchern der Torfmieten. Eines schönen Tages strömte süßer Heuduft über Land, der sich in dem salzigen Algengeruch vom Strande her mischte.

Das Badehotel wurde eröffnet und Sommergäste zogen in die kleinen Häuser an der Mole. Es wimmelte von Kindern auf dem weißen Sandstreifen. Sie kugelten sich im Sand und platschten barfuß ins Wasser hinaus, Mütter, Kindermädchen und Ammen in Spreewäldertracht saßen nähend im Grase und beaufsichtigten sie. Die Badehäuschen waren ins Wasser gerollt worden, und kleine deutsche Backfische schrien und juchten dort draußen. Luxussegler legten an der Mole an; Besuch kam aus der Stadt, abends war Tanz im Badehotel; die kleine Tannenplantage war voller Spaziergänger. Hier hatte Jenny zu Beginn des Frühlings in dem struppigen Gras gelegen, dem Wellenschlag und dem Sausen des Windes in den zerzausten Kronen lauschend.

Diese oder jene der Damen sandte ihr einen interessierten oder teilnehmenden Blick nach, wenn sie den Weg am Badestrand entlang spazierte, mit ihrem schwarzweißen Sommerkleide angetan. Die Badegäste im Ort hatten natürlich erfahren, daß sie eine junge Norwegerin war, die ein Kind bekommen hatte, über dessen Tod sie so furchtbar trauerte. Einige waren auch darunter, die es mehr rührend als skandalös fanden.

Im übrigen wanderte sie meist landeinwärts; dorthin kamen niemals Sommergäste. Ganz selten ging sie bis hinauf zur Kirche und zum Kirchhof, wo der Knabe lag. Sie saß dann und starrte auf das Grab, das sie nicht hatte herrichten lassen. Sie legte dann einige wilde Blumen nieder, die sie unterwegs gepflückt hatte, aber ihre Phantasie weigerte sich, den kleinen, grauen Erdhügel, auf welchem Unkraut und Gräser in die Höhe schossen, mit ihrem Bübchen in Verbindung zu bringen.

An den Abenden saß sie in ihrem Zimmer mit einer Handarbeit, die sie nicht anrührte, und starrte in die Lampe. Sie dachte immer an das Gleiche, rief die Tage wieder zurück, als sie ihren Jungen besessen hatte, die erste Zeit, das matte, friedliche Glück, während sie lag und genas, später, wenn sie aufrecht im Bett saß und Frau Schlessinger ihr das Baden und Wickeln, das An- und Auskleiden des Kindes zeigte, dann, als sie zusammen nach Warnemünde reisten, um feinen Stoff, Spitzen und Band zu kaufen, als sie heimkehrte, zuschnitt, nähte, zeichnete und stickte — ihr Junge sollte feine Sachen haben statt des schlechten fertiggekauften Zeuges, das sie aus Berlin bestellt hatte. Eine drollige Gartenspritze hatte sie gekauft mit Abziehbildern auf dem grünbemalten Blech: ein Löwe und ein Tiger standen zwischen Palmen an einem himmelblauen Meer und betrachteten entsetzt die deutschen Panzerungetüme, die den afrikanischen Besitzungen des Reichs zudampften. Sie fand das Ding so lustig — Bübchen sollte es zum Spielen haben, wenn er einmal groß genug geworden war. Erst mußte er ja Mutters Brust finden, an der er sich jetzt nur blind festsog — und seine eigenen kleinen Finger, die er nicht voneinander bekommen konnte, sobald er sie ineinander verfilzt hatte — bald würde er die Mutter kennen, nach der Lampe blinzeln und nach Mutters Uhr, die sie vor ihm schaukeln ließ — da war so viel, was Bübchen lernen mußte.

In einer Schieblade lagen alle seine Sachen, sie nahm sie nie heraus. Sie wußte ja doch, wie jedes Stück aussah und wie es sich auf der Handfläche anfühlte — das glatte, weiche Linnen, die rauhe Wolle und die halbfertige Jacke aus grünem Flanell, die sie mit Butterblumen bestickt hatte, die sollte er haben, wenn er ausgefahren wurde. —

Sie hatte ein Bild vom Strande angefangen mit den roten und blauen Kindern auf dem weißen Sandstrand. Einige der teilnehmenden Damen kamen herbei, schauten zu und versuchten, eine Bekanntschaft anzubahnen: „Wie nett!“ Sie war aber unzufrieden mit der Skizze und mochte sie nicht beendigen, auch eine neue wollte sie nicht anfangen. —

Eines Tages schloß das Badehotel wieder, es stürmte auf See, und der Sommer war vorüber.

Gunnar schrieb aus Italien und riet ihr, herunterzukommen. Cesca wollte sie nach Schweden haben. Die Mutter, die nichts wußte, schrieb und begriff nicht, warum sie dort blieb. Jenny dachte daran, fortzureisen, konnte aber zu keinem Entschluß kommen. Obgleich doch allmählich eine unbestimmte Sehnsucht in ihr wach wurde. Sie wurde selbst dadurch nervös, daß sie so umherging und nichts tun konnte. Sie mußte einen Entschluß fassen — wenn sie auch nur eines Nachts von der Mole aus in die See spränge.

Eines Abends hatte sie die Kiste mit Heggens Büchern hervorgeholt. Unter ihnen befand sich ein Band italienischer Gedichte — Fiori della poesia italiana. Eine Ausgabe, für Touristen berechnet, in einfaches Leder gebunden. Sie blätterte darin, um zu sehen, ob sie all ihr Italienisch vergessen hätte.

Sie schlug das Buch zufällig bei Lorenzo von Medicis Karnevalslied auf und fand ein zusammengefaltetes Stück Papier, von Gunnars Hand beschrieben:

„Liebe Mutter. Jetzt kann ich Dir endlich berichten, daß ich glücklich und wohl in Italien angekommen bin, und daß es mir in jeder Hinsicht gut geht, sowie —“ Der Rest des Bogens war mit Vokabeln bedeckt. Bei den Verben standen zugleich die Deklinationen. Auch am Rande des Buches standen Vokabeln — ganz dicht, an dem tragisch frohen Karnevalsgedicht entlang. „Wie schön ist die Jugend, die so schnell entflieht“.

Selbst die gewöhnlichsten Worte waren aufgeschrieben. Gunnar mußte versucht haben, das Lied zu lesen, gleich nachdem er nach Italien gekommen war — ehe er etwas von der Sprache konnte. Sie sah auf dem Titelblatt nach: G. Heggen, Firenze und die Jahreszahl stand dort. Das war, ehe sie ihn kennengelernt hatte.

Sie blätterte und las hier und da. Dort stand Leopardis Hymne an Italia, für die Gunnar so begeistert war. Sie las sie. Der Rand war schwarz von Vokabeln und Tintenflecken.

Es schien wie ein Gruß von ihm, eindringlicher als alle seine Briefe. Er rief sie, jung und gesund, fest und voller Tatendrang. Er bat sie, zum Leben zurückzukehren und zur Arbeit. Ja, wenn sie sich doch zusammennehmen und wieder anfangen könnte. Sie mußte versuchen, zu wählen zwischen Leben — oder Tod. Sie wollte wieder dort hinab, wo sie sich einst frei und stark gefühlt hatte, allein, nur mit ihrer Arbeit. Sie sehnte sich danach, und nach den Freunden, den zuverlässigen Kameraden, die einander nicht so nahe kamen, daß Leid daraus entstand, sondern Seite an Seite, jeder in seiner eigenen Welt, die auch all den anderen gehörte, miteinander dahinlebten, im Vertrauen auf ihr Können, in der Freude an ihrem Schaffen. Sie wollte das Land wiedersehen, das felsige Land mit den stolzen, strengen Linien und den sonnedurchtränkten Farben.

Kurz darauf reiste sie nach Berlin. Sie lief einige Tage in der Stadt umher, so auch in den Galerien. Aber sie fühlte sich müde, fremd und überflüssig. So fuhr sie weiter nach München.

In der Alten Pinakothek sah sie Rembrandts Heilige Familie. Sie betrachtete das Bild gar nicht als Malerei an sich, sie sah nur die junge Bauersfrau, das Hemd von der milchgefüllten Brust weggezogen und das Kind anschauend, das eingeschlafen war. Liebkosend griff die Mutter um sein eines bloßes Füßchen. Ein häßlicher kleiner Plebejerjunge war es, aber strotzend vor Gesundheit, und er schlief so gut, war so herrlich und lieb. Josef guckte über der Mutter Schulter auf ihn nieder. Es war aber kein alter Josef, und Maria war keine weltfremde Himmelsbraut. Es war ein kräftiger, mittelalterlicher Handwerker mit seiner jungen Frau, und das Kind war ihrer beider Lust und Freude.

Am Abend schrieb sie an Gert Gram. Einen langen Brief, zart und traurig — aber es war ein Lebewohl für immer.

Am nächsten Tage löste sie eine Karte direkt bis Florenz. Beim ersten Morgengrauen saß sie am Abteilfenster nach einer schlaflosen Nacht im Zuge. Wildbäche hüpften silbrig über waldbewachsene Felshänge. Es wurde licht und lichter, die Städte, an denen sie vorüberflog, nahmen mehr und mehr italienischen Charakter an. Rostbraune und moosgoldene Dachziegel, Loggien an den Häusern, grüne Stabjalousien an rotgelben Hauswänden, barocke Kirchenfassaden, die Bogenreihen der Steinbrücken draußen im Fluß. Die Schilder auf den Stationen trugen jetzt deutschen und italienischen Text. Weinberge zeigten sich außerhalb der Städte und graue Burgruinen erschienen auf den Bergkuppen.

Ala. Sie stand an der Zollschranke, die verdrießlichen Passagiere aus der ersten und zweiten Klasse betrachtend — und war so sinnlos froh. Nun war sie wieder in Italien. Der Zollbeamte lächelte sie an, weil sie blond war, und sie lächelte zurück, weil er sie für die Kammerjungfer dieser oder jener Herrschaft hielt.

Die Felsketten wichen zur Seite, lehmgrau mit blauen Schatten in den Klüften, das Erdreich leuchtete rostrot, die Sonne flammte weiß und glühend auf.

In Florenz aber war es bitter kalt und trübe in diesen Novembertagen. Müde und verfroren irrte sie etwa vierzehn Tage in der Stadt umher, ihr Herz blieb kalt gegen all die Schönheit, die sie erblickte, und melancholisch und mutlos, weil sie sich nicht wie früher an ihr wärmen konnte. —

Eines Morgens fuhr sie nach Rom. Die Felder in der toskanischen Landschaft waren von weißem Reif bedeckt. Später am Tage lichtete sich der Nebel und die Sonne erschien. Sie sah die Stelle wieder, die sie nie vergessen konnte: Der Trasimenische See lag fahlblau zwischen den Felsen im Dunst. Ins Wasser hinaus schoß eine Landzunge mit den Türmen und Zinnen einer kleinen steingrauen Stadt. Eine Zypressenallee führte vom Bahnhof aus dort hinüber. —

In Rom hielt sie in strömendem Regen ihren Einzug. Gunnar war auf dem Bahnhof und nahm sie in Empfang. Er preßte ihre Hände, als er sie willkommen hieß. Während sie im Regen, der vom grauen Himmel auf das Straßenpflaster niederklatschte, nach der Wohnung ratterten, die er ihr verschafft hatte, fuhr er mutig fort zu plaudern und zu lachen. —