Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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IX.

Sie saß ihm am nächsten Tage nach dem Frühstück, bis es zu dämmern begann. Ruhte sie sich aus, so wechselten sie einige gleichgültige Worte, während er fortfuhr, am Hintergrund zu arbeiten oder die Pinsel wusch.

„So!“ Er legte die Palette fort und ordnete den Malkasten. „Für heute bist du erlöst!“

Sie ging zu ihm, und sie betrachteten das Bild.

„Das Schwarz ist sehr fein — findest du nicht, Jenny?“

„Doch. Ich finde, es läßt sich gut an.“

„Ja,“ er blickte auf die Uhr. „Es ist eigentlich Essenszeit — gehen wir zusammen?“

„Ja, gern. Ich will nur mein Kostüm anziehen, wartest du so lange?“

Kurz darauf, als er an ihrer Tür pochte, stand sie fertig da, den Hut vor dem Spiegel aufsetzend.

Wie schön sie ist, dachte er, als sie sich ihm zuwandte. Schlank und hell in dem festanliegenden stahlgrauen Kleide, wirkte sie so damenhaft fein und zugeknöpft, kühl und stilvoll. Und er wollte nicht glauben, was er selbst gedacht hatte —.

„Hattest du nicht übrigens mit Fräulein Schulin verabredet, sie heute Nachmittag zu besuchen, um dir ihre Sachen anzusehen?“

„Ja, ich gehe aber nicht hin.“ Sie wurde sehr rot. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Lust, diese Bekanntschaft zu pflegen — an ihren Sachen ist wohl auch nicht viel zu sehen?“

„Nein, das weiß der Herrgott! Ich begreife nur nicht, wie du ihre Annäherungen gestern Abend zulassen konntest. Pfui, ich würde lieber einen Teller mit lebenden Mehlwürmern essen.“

Jenny lachte. Dann sagte sie ernst:

„Die Aermste, im Grunde ist sie wohl unglücklich.“

„Pah — unglücklich! Ich begegnete ihr in Paris vor einigen Jahren. Das Schlimmste ist ja, daß sie von Natur sicher gar nicht pervers ist. Nur dumm und eitel. Nun war das interessant. Wäre es modern gewesen, tugendhaft zu sein, so hätte sie auf einer Empore gesessen und Kinderstrümpfe gestopft, vielleicht sich hin und wieder damit beschäftigt, Rosen zu malen mit Tauperlen darauf. Sie wäre die tugendsamste aller Johanne Luisen im Danneweg gewesen — und obendrein fröhlich. Aber als sie den ‚Etatsrätlichen‘ entronnen war, von denen sie stammte, da wollte sie den übrigen nicht nachgeben, befreit und Malerin, und meinte, sie müsse sich jetzt einen Liebhaber anschaffen um ihrer Selbstachtung willen. Unglücklicherweise erwischt sie dann einen Tolpatsch, der sie in andere Umstände bringt. Er ist altmodisch und will, daß sie sich — völlig unmodern — heiraten und verlangt, sie solle das Kind warten und die Wirtschaft führen.“

„Du kannst ja gar nicht wissen — es kann ja zum Teil auch Paulsens Schuld gewesen sein, daß sie ihm davonlief.“

„Ja, natürlich war es seine Schuld. Er war altmodisch, wie gesagt, und fand Geschmack am häuslichen Glück, er bot ihr wohl zu wenig an Liebe und keine Prügel.“

„Ja ja, Gunnar. Du willst nun absolut haben, daß das Leben so verflucht leicht zu übersehen sein soll.“

Heggen setzte sich rittlings über einen Stuhl und schlang die Arme um die Lehne.

„Das wenige Gewisse im Leben, an das wir uns halten können, ist wahrlich leicht genug zu übersehen. Man muß seine Rechnung und seine Ansichten danach in Ordnung bringen. Mit all dem Ungewissen aufräumen, so gut man kann, sobald es auf dem Tapet erscheint.“

Jenny setzte sich aufs Sofa und stützte den Kopf in die Hand:

„Ich habe nicht mehr das Gefühl, daß es irgend etwas im Leben gibt, worüber ich die genügende Uebersicht habe, so daß ich es als Grundlage für meine Anschauungen gebrauchen oder meine Rechnung danach machen könnte,“ sagte sie ruhig.

„Das ist nicht dein Ernst.“

Sie lächelte nur.

„War es nicht immer,“ sagte Gunnar.

„Es gibt wohl niemanden, der immer dasselbe meint.“

„Doch, immer, wenn man nüchtern ist. Wie du heute Nacht sagtest, man ist nicht immer nüchtern, auch wenn man nichts getrunken hat.“

„Jetzt — wenn ich mich hin und wieder nüchtern fühle —“ Sie brach ab und schwieg.

„Du weißt, was auch ich weiß. Du hast es immer gewußt. Im großen und ganzen leitet der Mensch sein Geschick selbst. Man ist seines eigenen Schicksals Herr — in der Regel. Hin und wieder ist man es nicht. — doch dann tragen Umstände die Schuld, über die man nicht gebietet. Aber es ist eine gewaltige Uebertreibung, zu behaupten, daß es oft der Fall sei.“

„Gott mag wissen, mir ist es nicht ergangen, wie ich gewollt, Gunnar. Ich habe viele Jahre hindurch den Willen gehabt und nach meinem Willen gelebt.“

Sie schwiegen beide eine Weile still.

„Eines Tages,“ sagte sie langsam, „änderte ich einen Augenblick den Kurs. Ich fand es so kalt und hart, dieses Leben zu leben, das, wie ich glaubte, das würdigste sei. So einsam, weißt du. So bog ich denn einen Augenblick zur Seite, wollte jung sein und ein wenig spielen. Und dadurch geriet ich in eine Strömung hinaus, die mich trieb — ich endete in Dingen, mit denen in Berührung zu kommen, ich niemals eine Sekunde für möglich gehalten hatte.“

Heggen schwieg.

„Es gibt einen Vers,“ sagte er dann leise. „Rosetti — er ist nämlich ein weit besserer Dichter als Maler:

Was that the landmark? What, — the foolish well

Whose wave, low down, I did not stoop to drink

But sat and flung the pebbles from its brink

In sport to send its imaged skies pell-mell,

(And mine own image, had I noted well!) —

Was that my point of turning? — I had thought

The stations of my course should raise unsought,

As altarstone or ensigned citadel.

But lo! The path is missed, I must go back,

And thirst to drink when next I reach the spring

Which once I stained, which since may have grown black.

Yet thought no light be left nor bird now sing

As here I turn, I’ll thank God, hastening,

That the same goal is still on the same track.“

Jenny erwiderte nichts.

That the same goal is still on the same track,“ wiederholte Gunnar.

„Glaubst du,“ fragte Jenny, „daß es so leicht ist, zu seinem Ziel zurückzufinden?“

„Nein. Aber müßte man es nicht?“ sagte er beinahe kindlich.

„Was für ein Ziel hatte ich übrigens,“ sagte sie plötzlich hastig. „Ich wollte so leben, daß ich mich niemals zu schämen brauchte, weder als Mensch noch als Künstlerin. Niemals wollte ich etwas tun, von dem ich wußte, daß es nicht richtig sei. Rechtschaffen wollte ich sein, fest und gut und wollte niemals eines Menschen Schmerz auf mein Gewissen laden. Und darin bestand dann das ganze Verbrechen, das den Anfang bildete — woraus alles andere folgte? Daß ich mich nach Liebe sehnte, ohne daß ein bestimmter Mann da war, dem diese Sehnsucht galt. War das so seltsam? Daß ich so gern glauben wollte, als Helge kam, daß er es war, nach dem ich mich gesehnt? Daß ich es schließlich wirklich glaubte? Das war ja der Anfang, worauf das andere folgte. Gunnar — ich habe geglaubt, daß ich sie glücklich machen könnte — und dann tat ich ihnen nur weh.“

Sie hatte sich erhoben und wanderte im Zimmer auf und nieder:

„Glaubst du, daß die Quelle, von der du sprichst — glaubst du, daß sie jemals wieder rein und klar wird bei einer, die weiß, daß sie selber sie getrübt hat? Meinst du, es würde mir jetzt leichter, zu resignieren? Ich sehnte mich nach dem, wonach sich alle Frauen sehnen. Und ich sehne mich jetzt — wieder danach. Nur mit dem Unterschied, daß ich jetzt weiß, ich habe eine Vergangenheit. Und eine Folge davon ist, daß ich das einzige Glück, das ich anerkenne, nicht annehmen darf — denn es sollte frisch und gesund und rein sein — und das alles bin ich selbst nicht mehr. Ich muß weiter eine Sehnsucht mit mir schleppen, deren Erfüllung — oh, ich weiß es — unmöglich ist. Diese Sehnsucht ist also mein Schicksal, mein ganzes Leben ist durch sie gezeichnet.“

„Jenny,“ — Gunnar erhob sich ebenfalls — „ich behaupte dennoch, es kommt auf dich selbst an — es muß so sein. Ob es dein Wille ist, daß diese Erinnerungen dich vernichten oder ob du sie als ein Lehrgeld betrachten willst, so grausam hart es sich auch anhört. Das Ziel, das du einstmals vor dir hattest, war, glaube ich, das richtige — für dich.“

„Kannst du dir denn nicht vorstellen, daß das unmöglich ist, mein Junge. Es hat sich etwas in mich hineingeschlichen wie eine Säure, die alles zerfrißt, was einst mein Wesen war; ich fühle selber, wie ich inwendig zerfalle. — Oh. Und ich will doch nicht, ich will nicht. Und ich habe ein Verlangen nach — ich weiß nicht —. Will alle Gedanken zum Stillstand bringen. Sterben —. Oder leben — ein wahnsinniges, abscheuliches Dasein, zugrunde gehen in einem Elend, das noch fürchterlicher ist als dies —. Laß mich so tief in den Schmutz treten, daß ich spüre, hiernach kommt das Ende. Oder —“ sie sprach leise und wild, es klang wie erstickte Schreie — „mich unter einen Eisenbahnzug schleudern — mit dem Bewußtsein der letzten Sekunden, daß jetzt — jetzt gleich — mein ganzer Körper, Nerven und Hirn und Herz, — alles — zu einem einzigen zuckenden blutigen Klumpen zermalmt ist.“

„Jenny!“ schrie er auf. Er war fahl im Gesicht geworden. Dann flüsterte er mühsam: „Ich kann dich nicht so sprechen hören.“

„Ich bin hysterisch,“ sagte sie beruhigend. Aber sie ging trotzdem zu dem Winkel, wo ihre Leinwand stand und schleuderte sie fast die Wand entlang:

„Man kann doch nicht leben und bestehen, um so etwas da zu bearbeiten. Oelfarben auf die Leinwand zu kleistern — du siehst ja, etwas anderes wird nicht daraus — tote Malkleckse. Du großer Gott, du hast gesehen, wie ich die ersten Monate hindurch gearbeitet habe, wie ein Sklave — ich kann überhaupt nicht mehr malen.“

Heggen betrachtete die Bilder. Es war ihm trotzdem, als fühle er wieder festen Grund und Boden unter den Füßen.

„Du darfst ruhig deine aufrichtige Meinung über diese — Schweinerei sagen,“ meinte sie herausfordernd.

„Ja, es sind nicht gerade schöne Sachen — das will ich gern zugeben.“ Er stand, mit den Händen in den Hosentaschen, und betrachtete die Bilder. „Aber das ist doch etwas, was einem jeden von uns begegnen kann — Perioden, wo wir nicht können. Was das betrifft, so müßtest du wissen, meine ich, daß es etwas Vorübergehendes ist — für dich. Ich glaube nicht daran, daß man sein Talent einbüßen kann, und wenn man noch so unglücklich ist. Deine Arbeit hat übrigens zu lange geruht. Man muß sich doch wieder erst einarbeiten, die Herrschaft über seine Schaffensmöglichkeiten zurückgewinnen, siehst du. Allein die Modellstudie dort, Mädel — es ist wohl bald drei Jahre her, seit du einen Akt zeichnetest. So etwas bleibt nicht ungestraft, das weiß ich aus Erfahrung.“

Er trat an das Regal und wühlte unter Jennys alten Skizzenbüchern:

„Denk nur daran, wie du dich in Paris hochgearbeitet hattest — ich werde dir Einiges zeigen.“

„Nein, nein — nicht das da,“ sagte Jenny hastig und streckte die Hand nach dem Buche aus.

Heggen hielt es zusammengeklappt in der Hand und sah sie erstaunt an. Sie wandte das Antlitz ab:

„O, du darfst übrigens ruhig hineinsehen. Ich versuchte nur, eines Tages den Jungen zu zeichnen.“

Heggen blätterte langsam darin herum. Jenny hatte sich wieder aufs Sofa gesetzt. Er betrachtete eine Weile die kleinen Bleistiftzeichnungen von dem schlafenden Kindchen. Dann legte er das Buch behutsam fort.

„Es war traurig, daß du deinen kleinen Jungen verlorst,“ sagte er leise.

„Ja. — Hätte er gelebt, so wäre ja alles andere gleichgültig gewesen, weißt du. Du sprichst vom Willen, aber eines Menschen Wille kann nicht einmal — seines Kindes Leben — festhalten, und dann —. Ich bin nicht dazu imstande, nach Höherem zu streben, Gunnar, denn ich sah, dies war das Einzige, wozu ich etwas taugte, woraus ich mir etwas machte — meines kleinen Knaben Mutter zu sein. Ja, ihn konnte ich lieben. Vielleicht bin ich ein Egoist durch und durch, denn jedesmal, wenn ich den Versuch machte, die anderen zu lieben, so erhob sich mein eigenes Ich wie eine Mauer zwischen uns. Doch der Knabe war mein. Hätte ich ihn, so könnte ich arbeiten — ach, wie würde ich dann arbeiten! Ich schmiedete Pläne. Mir fiel es wieder ein im vergangenen Herbst, als ich hierher reiste, — ich wollte ja den Sommer mit ihm in Bayern verbringen. Ich fürchtete, die Seeluft würde zu scharf für ihn sein. Er sollte im Wagen liegen und unter den Apfelbäumen schlummern, während ich arbeitete. Siehst du, ich könnte an keinen Ort der Welt kommen, wo ich nicht im Traum schon mit dem Kind gewesen wäre. Es gibt auf der Welt nichts Gutes und Schönes, von dem ich nicht gedacht, daß er es lernen oder sehen sollte. Ich besitze nichts, was nicht auch ihm gehörte, das rote Plaid brauchte ich, um ihn darin einzuhüllen. Das schwarze Kleid, in dem du mich malst, wurde in Warnemünde für mich genäht, nachdem ich genesen war, ich wählte diese Form, damit es bequem wäre, ihn zurecht zu legen. Im Futter sind noch Milchflecken.

Ich kann nicht arbeiten, weil ich ganz von ihm beherrscht bin. Ich sehne mich so heftig nach ihm, daß es mich fast lähmt. Des Nachts rolle ich mein Kopfkissen zusammen, nehme es in den Arm und wimmere nach Bübchen. Ich rufe ihn und rede mit ihm, wenn ich allein bin. Ich hatte ihn malen wollen, so daß ich Bilder von ihm aus jedem Alter gehabt hätte. Jetzt wäre er bald ein Jahr alt gewesen, denk nur — hätte Zähnchen bekommen und würde kriechen können, hätte sich aufgerichtet und wäre vielleicht ein bißchen gelaufen. Jeden Monat, jeden Tag denke ich, heute wäre er so und so alt gewesen — wer weiß, wie er wohl ausgesehen hätte. — Alle Frauen, die mit einem bambino auf dem Arme herumlaufen — alle Jungen, die ich auf der Straße sehe, erinnern mich daran, wie wohl meiner ausgesehen hätte, wenn er größer geworden wäre —.“

Sie schwieg wieder. Heggen saß ganz still vornübergebeugt.

„Ich glaubte nicht, daß es so sei, Jenny,“ sagte er leise und heiser. „Ich sah wohl, daß es schmerzlich war, aber ich dachte, andererseits — wäre es besser so. Hätte ich gewußt, wie es sich wirklich verhielt, so wäre ich zu dir gekommen —.“

Sie antwortete nicht und fuhr fort in ihren Gedanken:

„Und dann starb er — so winzig, winzig klein. Es ist ja nur Egoismus von mir, daß ich es ihm nicht gönne — gestorben zu sein, ehe er anfing, das allergeringste zu verstehen. Er konnte nur nach dem Lichte blinzeln oder schreien, wenn er zurechtgemacht werden sollte oder hungrig war. Er suchte nach meiner Wange in dem Glauben, es sei die Brust. Er kannte mich auch noch nicht, jedenfalls noch nicht richtig. Ein ganz schwacher Schimmer von Bewußtsein war vielleicht in seinem kleinen Köpfchen erwacht, aber stell dir vor, er hat nie gewußt, daß ich seine Mutter war —. Einen Namen hat er auch nicht gehabt, der Arme, nur Mutters Bübchen war er. Keinerlei Erinnerung habe ich an ihn, außer dieser rein körperlichen.“ Sie erhob die Hände, als drückte sie das Kind an sich. Dann fielen sie tot und leer auf den Tisch zurück.

„Das erste Mal, als ich sein Gesichtchen an meine Wange legte, war seine Haut so weich, ein wenig feucht, wie etwas Eingeschlossenes, die Luft hatte sie ja noch kaum berührt, weißt du. Ich glaube, man würde angewidert sein, einem neugeborenen Kinde zu nahe zu kommen, wenn es nicht das eigene Fleisch und Blut ist. Seine Augen, sie hatten noch keine richtige Farbe, waren dunkel, ich glaube übrigens, sie wären graublau geworden. Sie sind so seltsam, die Augen solcher kleinen Kinder — mystisch, hätte ich beinahe gesagt. Und sein kleines Köpfchen — wenn er bei mir lag und die Brust bekam, wenn er dann seine Nasenspitze flach drückte und es oben in der kleinen Fontanelle pochte, das dünne, flaumige Haar — er hatte soviel Haar, als er geboren wurde — dunkles —. Ich fand ihn so entzückend. Ach, sein ganzer kleiner Körper. Ich denke ja an nichts anderes. Ich kann ihn in meinen Händen spüren. Die Lenden waren so rund — er war am dicksten in der Mitte, weißt du —. Und sein Hinterteilchen war so komisch zusammengeklemmt, ein wenig spitz — ich fand natürlich auch das wunderhübsch. O Gott, wie süß war er, mein kleiner Junge —. Und dann starb er. — Ich hatte mich gefreut auf alles, was kommen sollte, so daß ich nachher meinte, ich hätte dem, was war, nicht genügend Beachtung geschenkt, der Zeit, als ich ihn hatte; ich hätte ihn nicht genügend geküßt oder betrachtet, obwohl ich in all den Wochen nichts anderes tat. — Und zurück blieb dann nur die Lücke — du kannst dir nicht denken, wie das war. Mir schien, als arbeite mein ganzer Körper in der Sehnsucht nach ihm. Ich bekam eine Entzündung in der Brust, der Schmerz und das Fieber waren nur die Sehnsucht, die hinauswollte. Ich vermißte ihn in den Armen, zwischen den Händen und an der Wange —. Manchmal, in den letzten Wochen, schloß er die Hand um meinen Finger, wenn ich ihn hinstreckte. Einmal hatte er ganz von selbst einige von meinen Haaren erwischt, die sich gelöst hatten —. Die süßen, süßen kleinen Hände.“

Sie legte sich über den Tisch, schluchzte leise und heftig, daß sie bebte.

Gunnar war aufgestanden, zögerte, im Zweifel mit sich, ein Weinen in der Kehle. Dann lief er plötzlich zu ihr hin, hastig und verlegen küßte er sie heftig auf den Scheitel.

Sie blieb eine Zeitlang liegen und weinte. Aber schließlich richtete sie sich auf, ging zum Waschtisch und badete ihr Gesicht im Wasser:

„O Gott, wie sehne ich mich nach ihm,“ sagte sie unvermittelt, mit verweinter Stimme.

„Jenny —.“ Er wußte nichts anderes zu sagen: „Jenny. — Ich wußte ja nicht, daß es dir so ergangen war —“.

Sie kam zurück und legte einen Augenblick ihre Hände auf seine Schultern:

„Ja, ja, Gunnar. Du sollst nicht so viel an das denken, was ich vorher sagte. Mitunter weiß ich nicht, wohin mit mir selbst. Aber du kannst dir denken, wenn auch nur um des Jungen willen: mich geradezu Ausschweifungen hinzugeben, das bringe ich wohl doch nicht fertig. Eigentlich will ich natürlich selber versuchen, das Bestmöglichste aus dem Leben zu machen — weißt du. Versuchen, wieder zu arbeiten, wenn es auch im Anfang nicht so leicht wird. Man hat ja immer den einen Trost, daß man nicht länger lebt, als man selber will —.“

Sie setzte sich wieder den Hut auf und suchte nach einem Schleier:

„Gehen wir also zum Essen, du mußt ja hungrig geworden sein, so spät wie es ist —.“

Gunnar Heggen wurde blutrot über sein ganzes junges Gesicht. Bei ihren Worten merkte er plötzlich, daß er einen Bärenhunger hatte, aber er schämte sich, jetzt etwas derartiges zu empfinden. Er trocknete die Tränen von seinen nassen, heißen Wangen und nahm seinen Hut vom Tisch.