Jenny by Sigrid Undset - HTML preview

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III.

„Nun, Sie haben also Post bekommen,“ sagte Jenny. Sie hatte in der Vorhalle des Postamtes gewartet. „Jetzt werde ich Ihnen zeigen, mit welcher Straßenbahn Sie fahren müssen.“

Der Platz war vom Sonnenschein weiß überflutet, die Luft noch morgenfrisch und rein. Doch schon wimmelten Wagen und Menschen in geschäftiger Eile in den engen Straßen.

„Wissen Sie, Fräulein Winge — ich fahre nicht nach Haus; ich bin jetzt so wach wie nur irgend möglich. Ich hätte die größte Lust, einen Spaziergang zu machen. Ist es aufdringlich, wenn ich frage, ob ich Sie ein kleines Stückchen Wegs begleiten darf —?“

„Aber gar nicht —. Doch wie werden Sie nachher zu Ihrem Hotel zurückfinden?“

„Pah, am hellichten Tage.“

„Freilich, eine Droschke treffen Sie überall an.“

Sie kamen auf den Corso hinaus. Sie nannte die Namen der Paläste, war ihm aber jeden Augenblick ein Stück voraus, da sie schnell ausschritt und sich geschmeidig durch die vielen Menschen wandte, die sich schon auf dem schmalen Bürgersteig drängten.

„Mögen Sie Wermut?“ fragte sie; „ich will eben hier hinein und einen zu mir nehmen.“

Sie leerte das Glas in einem Zuge, während sie am marmornen Schenktisch der Bar stand. Helge fand keinen Geschmack an dem bittersüßen Getränk, das zur Hälfte mit Chinin gemischt war. Es war aber etwas Neues für ihn und es gefiel ihm, so unvermittelt in eine Bar zu laufen.

Jenny bog in schmale Gassen ein, wo die Luft noch nächtlich kühl und dumpf war. Nur hoch oben streifte der Sonnenschein die Mauern der Häuser. Helge schaute mit überwachen Sinnen um sich, betrachtete die blaugestrichenen Karren mit Maultiergespannen, deren Sattelzeug mit Messingbeschlägen und roten Troddeln geschmückt war, sah barhäuptige Frauen und schwarze Kinder, kleine billige Läden und die Verkaufsstände für Obst und Gemüse in den Torwegen. In einer Häusernische stand ein alter Mann und briet Schmalzgebäck auf einem kleinen Herd. Jenny kaufte einige Kuchen und bot sie Helge. Er lehnte jedoch dankend ab. Ein Teufelsmädchen! Sie aß die Kuchen mit gesundem Appetit, ihm aber wurde übel bei der bloßen Vorstellung, eines dieser fettriefenden Stücke zwischen die Zähne zu bekommen, noch dazu mit dem Wermutgeschmack im Mund und nach dem Genuß der vielen Getränke in dieser Nacht. Und außerdem — so schmierig wie der Alte war.

Seite an Seite mit verfallenen, armseligen Häusern, wo graufarbenes Leinenzeug zum Trocknen zwischen den brüchigen Fensterläden hing, lagen große, wuchtige Paläste mit vergitterten Fenstern und ausladenden Gesimsen. Einmal ergriff Jenny ihn am Arm — ein brandrotes Automobil kam tutend aus einem Barockportal, wendete schwerfällig und sauste die schmale Straße hinauf, deren Rinnstein mit Müll und Kohlblättern angefüllt war.

Helge ging und genoß. Wie südlich fremd war hier alles .. Sein einziges inneres Erlebnis seit vielen Jahren war immer nur der Zusammenstoß seiner phantastischen Traumwelt mit der kleinlichen Wirklichkeit des Alltags gewesen, bis er schließlich gleichsam aus Notwehr gelernt hatte, seine Träumereien zu belächeln und seiner Phantasie eine Richtung ins Reale zu geben. So versuchte er auch jetzt, sich unwillkürlich klar zu machen, daß in diesem romantischen Quartier die gleiche Art von Menschen lebte wie in anderen großen Städten. Ladenmädchen und Fabrikarbeiter, Typographen und Telegraphisten — Menschen, die tagtäglich in Geschäften, auf Kontoren und an Maschinen ihre Arbeit verrichteten und nicht anders waren wie überall auf der Welt. — Er spann den Gedanken jedoch mit einer seltsamen Freude weiter aus, weil diese Straßen und Häuser, die seinen Traumgebilden glichen, doch helle Wirklichkeit waren.

Sie traten auf einen offenen Platz hinaus. Hier umfing sie die Sonne mit ihren weißen weichen Strahlen und befreite sie vom letzten Hauche klammer, dumpfer Luft aus den kleinen Gassen, die sie durchwandert hatten. Jenseits des Platzes war der Erdboden kreuz und quer zerwühlt, Berge von Schutt und Müll und Stapel alten Gerölls lagen einträchtig beieinander. Alte, verfallene Häuser, zum Teil halb niedergerissen mit gähnenden Höhlen, vervollständigten in Gemeinschaft mit antiken Ruinen das Bild der Verwüstung.

An einigen zerstreut liegenden Gebäuden vorbei, die verlassen standen, als habe man nur vergessen, sie niederzureißen, gelangten Jenny und Helge auf den Platz am Vestatempel. Hier lag die große neue Dampfmühle und dort das schöne alte Kirchlein mit seiner Säulenhalle und dem schlanken Glockenturm. Und im Hintergrunde stieg der Aventinerhügel klar zum sonnigen Himmel empor, mit den Klöstern auf dem Gipfel, staubiggrauen Bogen namenloser Ruinen in den Gärten auf den Hängen, überwuchert von schwarzem Efeu, grauem kahlen Dorngebüsch und gelbem, winterwelken Gras.

Immer wieder hatten diese Ruinen ihn enttäuscht, in Deutschland wie in Florenz. Er hatte von ihnen gelesen und sie im Geiste mit einem romantischen Rahmen aus grünem Laub umgeben. Blumen sah er in den Mauerspalten blühen, wie auf alten Kupferstichen oder Theaterkulissen. In Wirklichkeit waren sie schmutzig und verstaubt; vergilbtes Papier, zerbeulte Blechbüchsen, schmutziger Abfall hatte sich ringsum angesammelt, rauhe, winterliche Luft entströmte dem Gemäuer. Die einzige Vegetation des Südens bildeten grauschwarzes Immergrün, nacktes dorniges Gebüsch und das welke, farblose Gras.

An diesem sonnigen, durchsichtigen Morgen aber wurde es ihm plötzlich klar, daß sie, betrachtete man sie mit den rechten Augen, dennoch schön sein konnten. —

Hinter der Kirche schlug Jenny einen Weg ein, der zwischen Gärten hindurch führte. Pinien ragten dahinter auf und der Efeu fiel in losen Ranken über die Mauern. Sie machte Halt und entzündete eine Zigarette.

„Ja,“ erklärte sie, „ich bin dem Tabak verfallen, doch Cesca verträgt das Rauchen nicht, ihres Herzens wegen, darum muß ich mich mäßigen, wenn sie dabei ist; hier draußen dampfe ich wie eine Lokomotive — da sind wir.“

Ein kleines gelbes Haus lag vor ihnen, von einem Reisiggitter eingezäunt. Im Garten standen ein Tisch und Bänke unter zwei großen, kahlen Ulmen, und eine Laube, aus Binsen geflochten. Jenny begrüßte vertraulich ein altes Weib, das in die Tür getreten war.

„Wie wär’s mit einem Frühstück, Kandidat Gram —?“

„Kein übler Gedanke. Vielleicht etwas starken Kaffee — und Brot und Butter —.“

„Gott segne Sie — Kaffee! und Butter! Eier und Brot und Wein — Salat und Käse vielleicht —. Ja, sie hat Käse, sagt sie. Wieviele Eier möchten Sie haben?“

Während die Frau den Tisch deckte, brachte Jenny Staffelei und Malgerät heraus. Ihren langen blauen Abendmantel vertauschte sie gegen eine von Oelfarbenflecken bedeckte Wetterjacke.

„Darf ich mir Ihr Bild anschauen?“ fragte Helge.

„Ja, — ich werde wohl das Grün abtönen müssen, es liegt so hart auf. Bis jetzt ist kein rechtes Licht über dem Ganzen. Der Hintergrund ist, glaube ich, gut.“

Helge betrachtete das kleine Bild, auf dem die Bäume wie große grüne Flecken standen. Er konnte nichts Besonderes daran finden.

„Ah, das Essen steht bereit! Sie kriegt sie an den Kopf, wenn sie hartgekocht sind. — Nein, Gottseigelobt!“

Helge war nicht hungrig. Jedenfalls brannte ihm jetzt der Hals von dem sauren, weißen Wein, und das ungesalzene trockene Brot konnte er kaum herunterbringen. Jenny zermalmte große Stücke davon zwischen ihren weißen Zähnen, stopfte kleine Bissen Parmesankäse dazu in den Mund und trank Wein, denn drei Eiern hatte sie bereits den Garaus gemacht.

„Daß Sie das gräßliche Brot so trocken essen können,“ sagte Helge.

Sie lachte:

„Ich finde dieses Brot so gut. Butter habe ich kaum zu sehen bekommen, seit ich von Kristiania fort bin. Die pflegen Cesca und ich nur für Gesellschaften zu kaufen. Wir müssen nämlich sparen, sehen Sie.“

Er lachte auch:

„Was nennen Sie sparen — Perlen und Korallen —.“

„Ach, — das ist Luxus —. Ich finde beinahe, das ist das Notwendigste — ein wenig jedenfalls. Nein, wir wohnen billig und essen billig, kaufen Seidenschärpen und trinken ein paar Wochen lang des Abends Tee und genießen trockenes Brot und Rettiche dazu.“

Sie hatte ihre Mahlzeit beendet und entzündete eine neue Zigarette. Das Kinn auf die Hand gestützt, saß sie und sah hinaus:

„Nein, Kandidat Gram. Sehen Sie — hungern — ja, ich habe das niemals erleben müssen, aber es kann ja noch einmal kommen. — Heggen zum Beispiel hat es durchgemacht — und doch gibt er mir Recht. Es ist besser, zu wenig vom Notwendigen zu haben, als niemals etwas von dem, was eigentlich überflüssig ist. Das Ueberflüssige, eben das ist es, wofür man arbeitet, wonach man sich sehnt —.

Daheim bei meiner Mutter — da hatten wir das dringend Notwendige ja immer — freilich. Aber nichts darüber. Das mußte eben so sein — die Kinder sollten ja Essen haben.“

Helge lächelte ein wenig unsicher:

„Ich kann mir Sie gar nicht als einen Menschen denken, der jemals die Bekanntschaft mit — mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten gemacht hat!“

„Wieso?“

„Nein, Sie sind so unverzagt, so frei und sicher. Wenn man in engen Verhältnissen aufgewachsen ist, wo man nichts anderes hört als Sparen, da wagt man es bald nicht mehr, sich Anschauungen zuzulegen — in weiterem Sinne. Es ist peinlich, zu wissen, daß der Mammon alles regiert und daß man Mittel besitzen muß, will man sich Pläne und eine eigene Meinung gestatten.“

Jenny nickte nachdenklich.

„Das braucht man nicht, wenn man gesund und frisch ist und etwas kann.“

„Nun zum Beispiel ich. Ich habe immer geglaubt, ich hätte die Fähigkeiten zu wissenschaftlicher Arbeit. Das ist das einzige Ziel, das ich mir gesetzt. Ich habe einige kleine Bücher geschrieben — etwas ganz Populäres natürlich; jetzt arbeite ich jedoch an einer Abhandlung: das Bronzezeitalter in Südeuropa. Ich bin aber Lehrer und habe eine sehr gute Stellung. Bin Leiter einer Privatschule.“

„Jetzt sind Sie aber doch hierher gekommen, um zu arbeiten, wenn ich Sie heute Morgen recht verstand,“ sagte sie lächelnd.

Helge antwortete nicht darauf:

„So erging es meinem Vater auch. Er wollte Maler werden — das Einzige, wozu er Lust hatte. Er hielt sich auch ein Jahr lang hier auf. Dann verheiratete er sich. Jetzt hat er nun eine lithographische Werkstätte — hat sie sechsundzwanzig Jahre hindurch in Gang gehalten, zum Teil unter großen Schwierigkeiten — Ich glaube nicht, daß er der Meinung ist, er habe viel vom Leben gehabt.“

Jenny sah gedankenvoll in den Sonnenschein hinaus. In der Senkung ihnen zu Füßen wuchsen Küchengemüse in Reihen mit kleinen bescheidenen Blätterbüscheln über der grauen Erde. Draußen über den grünen Wiesen leuchteten die Ruinen auf dem Palatin, gelbschimmernd in dem dunklen Laub. Der Tag versprach warm zu werden. Die Albanerberge drüben hinter den Pinien der fernen Villengärten lagen in dämmrigem Dunst unter dem tauigen Blau des Himmels.

„Aber — Kandidat Gram.“ Sie nippte an ihrem Glase, den Blick noch immer in die Ferne gerichtet. Helge folgte mit den Augen dem lichtblauen Rauch ihrer Zigarette — ein kleiner Lufthauch erfaßte diesen und wirbelte ihn hinaus in die Sonne. Jenny hatte das eine Bein über das andere geschlagen — über den ausgeschnittenen perlenbestickten Schuhen erschienen die schmalen Knöchel in dünnen violetten Strümpfen. Die Wetterjacke stand offen über dem faltigen, silbergrauen Kleide mit dem weißen Kragen und über dem Perlenband, welches rosenrote Lichtflecken auf ihren milchweißen Hals warf. Die Pelzmütze auf dem blonden, welligen Haar war weit zurückgeglitten.

„So haben Sie jedenfalls eine Stütze an Ihrem Vater — er versteht Sie und weiß, daß Sie nicht an die Schule gefesselt sein dürfen, da Ihnen eine andere Arbeit am Herzen liegt?“

„Das weiß ich nicht. Er freute sich zwar sehr, daß ich Gelegenheit hatte, ins Ausland zu kommen. Aber —“ Helge zögerte, „sehr vertraut miteinander sind mein Vater und ich nie gewesen. Meine Mutter dagegen quälte mich mit ihrer ständigen Sorge, daß ich mich überanstrengen könnte, daß meine Zukunft nicht genügend gesichert sei. Und meiner Mutter widerspricht mein Vater nicht. Sie sind grundverschieden, Vater und Mutter. Sie hat ihn wohl nie verstanden. So überschüttete sie dann uns Kinder mit ihrer heißen Liebe — in meiner Kindheit war sie mir unendlich viel — doch diese Liebe begleitete eine blinde Eifersucht. Mutter fürchtete sogar, daß Vater mehr Einfluß auf mich gewinnen könne als sie. Auch auf meine Arbeit war sie eifersüchtig, weil ich mich abends einschloß, um zu studieren und zu schreiben, wissen Sie. Sie sorgte sich, wie gesagt, um meine Gesundheit und fürchtete, daß ich den Einfall bekommen könne, meinen Posten aufzugeben —.“

Jenny nickte einige Male gedankenvoll.

„Der Brief, den ich eben holte, war von ihnen.“ Helge zog ihn hervor und betrachtete ihn, öffnete ihn jedoch nicht. — „Heut ist nämlich mein Geburtstag,“ sagte er und versuchte ein Lächeln. „Ich werde heute sechsundzwanzig.“

„Ich gratuliere.“ Jenny reichte ihm die Hand.

Der Blick, den sie auf ihn richtete, war so, wie wenn sie Franziska zu betrachten pflegte, wenn diese sich an sie schmiegte.

Sie hatte bisher noch nicht auf Grams Aussehen geachtet, hatte nur den Eindruck, daß er groß und fein gebaut und dunkel war, und daß er einen kleinen Spitzbart trug. Eigentlich hatte er hübsche regelmäßige Züge und eine hohe, etwas schmale Stirn. Seine Augen waren hellbraun, mit einem eigenen durchsichtigen Bernsteinglanz, der kleine Mund unter dem Schnurrbart war weich und fein, er zeigte eine leise Wehmut.

„Ich verstehe Sie so gut,“ sagte sie plötzlich „Ich kenne das. Ich war selbst Lehrerin bis Weihnachten vorigen Jahres. Ich kam fort als Erzieherin und blieb dabei, bis ich alt genug war, um im Seminar anzufangen.“ Sie lachte etwas verlegen. „Ich reiste fort — gab meine Stellung an der Volksschule auf — da ich eine Kleinigkeit von einer Tante meines Vaters erbte. Ich habe ausgerechnet, es kann etwa drei Jahre reichen — vielleicht auch länger — und wenn ich etwas verkaufen kann —. Aber meine Mutter war natürlich nicht damit einverstanden, daß ich die ganze Summe aufbrauchen wollte. Und daß ich kündigte, nachdem ich endlich nach all den Jahren, in denen ich mich mit Vertretungen und Privatschülern abgeplagt hatte, fest angestellt worden war. Ein festes Einkommen, — das halten die Mütter ja immer für das Wichtigste —.“

„Ich glaube fast, daß ich es in Ihrer Stelle nicht gewagt hätte, so alle Brücken hinter mir abzubrechen —. Ich weiß sehr wohl, es ist der Einfluß meines Vaterhauses. Ich wäre die Angst nicht losgeworden, wovon ich leben sollte, wenn das Geld verbraucht sein würde.“

„Kleinigkeit,“ sagte Jenny. „Ich bin ja frisch und stark und kann sehr viel. Nähen, kochen und plätten und waschen. Auch Sprachen. In Amerika oder England kann ich immer Arbeit bekommen. Als Malerin, glaube ich, wird man dort viel zu tun finden. Franziska“ — sie lachte in die Sonne hinaus — „sie meint, wir sollten nach Südafrika reisen und Milchmädchen werden. Und dann wollen wir Akte bei den Zulukaffern zeichnen — es sollen ganz prachtvolle Modelle sein.“

„Der Gedanke ist durchaus nicht übel. Entfernungen rechnen Sie also nicht als wesentliches Hindernis —.“

„Nein, ganz und gar nicht —. Ach ja, ich rede. Natürlich, in all den Jahren daheim meinte ich, daß es ganz unmöglich sei, hinauszukommen — allein nach Kopenhagen, dort sich eine kurze Zeit aufzuhalten und nichts anderes zu tun als zu lernen und zu malen. Ich hatte natürlich starkes Herzklopfen, als ich mich entschloß, alles aufzugeben und zu reisen. Alle meine Angehörigen fanden es wahnsinnig. Und das wirkte wohl auf mich. — Aber dann wollte ich erst recht. Malen ist ja das Einzige, wozu ich immer Lust hatte, und ich begriff, daß ich zu Haus niemals so intensiv würde arbeiten können, wie es nötig wäre — da lenkte mich so vieles ab. Aber Mama konnte es einfach nicht begreifen, daß ich sofort mit dem Studium beginnen müsse, wollte ich noch etwas lernen, da ich nicht mehr die Jüngste war. Meine Mutter ist nämlich nur neunzehn Jahre älter als ich. Als ich elf Jahre alt war, heiratete sie zum zweiten Male, und das brachte ihre Jugend zurück —.

Das ist ja eben das Wunderbare, wenn man in die Welt geht — jede Beeinflussung durch Menschen, mit denen man zufällig daheim zusammenlebt, hört auf. Man muß mit seinen eigenen Augen sehen und selbständig denken. Wir lernen begreifen, daß es ganz von uns selbst abhängt, was diese Reise uns gibt — was wir zu sehen und zu erfassen vermögen, in welche Lage wir uns bringen und unter wessen Einfluß wir uns freiwillig begeben. Man lernt verstehen, daß es von einem selbst abhängt, wieviel das Leben uns entgegenbringt. Ja, gewiß, ein wenig auch von den Umständen, wie Sie vorher einmal sagten. Aber man entdeckt bald, wie man die Hindernisse nach seiner Veranlagung am leichtesten überwindet oder sie umgeht — sowohl auf Reisen wie auch im allgemeinen. Man sieht ja, daß man sich all das Schwere, das einem begegnet, immer selbst eingebrockt hat.

In seinem Heim ist man ja niemals allein, nicht wahr, Gram? Das eben ist das Beste am Reisen, finde ich — allein mit sich sein, nicht immer jemand um sich haben, der einem helfen oder über einen bestimmen will. — Das Gute, das man seinem Zuhause verdankt, kann man doch nicht sehen und schätzen, ehe man nicht fort gewesen ist. Man weiß, daß man nie wieder davon abhängig wird, wenn man erst einmal selbständig geworden ist. Man kann nicht eher Freude daran haben — ja man kann überhaupt keine Freude an etwas haben, von dem man abhängt?“

„Ich weiß nicht. Man ist doch immer abhängig von dem, das man lieb hat? Sie sind doch abhängig von Ihrer Arbeit? — Und wenn man einen anderen Menschen liebt,“ sagte er leise, „ist man dann nicht völlig abhängig?“

„Ja, ja.“ Sie überlegte. „Aber da hat man selbst gewählt,“ sagte sie schnell. „Ich meine, man ist dann kein Sklave, man dient dann freiwillig irgend jemandem oder irgendeiner Sache, die man höher bewertet als sich selbst. — Freuen Sie sich nicht, daß Sie ihr neues Jahr allein beginnen werden, frei und frank — nur arbeiten, was Sie selbst gern wollen?“

Helge dachte an den vergangenen Abend auf dem Petersplatz. Er sah hinaus über die fremde Stadt, sah die gedämpften, grauverschleierten Farben in der Sonne, und das fremde, blonde Mädchen.

„Ja,“ sagte er.

„Ja.“ Sie erhob sich, knöpfte ihre Jacke zu und öffnete den Malkasten. „Nun muß ich aber fleißig sein.“

„Sie wollen mich wohl nun los sein?“

Jenny lächelte: „Sie sind doch jetzt sicherlich müde?“

„Oh nein. Ich möchte aber zahlen —.“

Sie rief die Frau und stellte ihm seine Rechnung auf, während sie gleichzeitig Farben auf der Palette ausdrückte.

„Glauben Sie nun, daß Sie zur Stadt zurückfinden?“

„Ja. Ich merkte mir genau, welchen Weg wir gingen. Und später finde ich schon einen Wagen. — Kommen Sie jemals in den Verein?“

„Oh ja, mitunter.“

„Ich möchte Sie sehr gern wiedersehen, Fräulein Winge.“

„Das werden Sie auch sicherlich.“ Sie überlegte einen Augenblick. „Wenn Sie Lust haben — können Sie uns dann nicht besuchen — zum Tee? Wir wohnen in der Via Vantaggio 111 — Cesca und ich sind des Nachmittags immer daheim.“

„Ich danke Ihnen.“ Er zauderte ein wenig. „Nun, dann schönen Guten Morgen! Und vielen Dank für diese Nacht!“

Er reichte ihr die Hand. Sie gab ihm ihre schmale, magere: „Auch ich danke.“

Als er sich in der Gartentür umwandte, stand sie und schabte mit dem Palettmesser auf der Leinwand. Sie summte — es war die Weise von heut Nacht, die ihm nun so vertraut schien. Er summt sie selbst, während er zur Stadt hinunter ging.