Die Katastrophale Metamorphose des Ovid by Jo Krall / Hugo C - HTML preview

PLEASE NOTE: This is an HTML preview only and some elements such as links or page numbers may be incorrect.
Download the book in PDF, ePub, Kindle for a complete version.

Tag 8 – Mittwoch 23. Juni

Der Rückfall. Mein Körper fühlte sich nach dem Aufwachen anders an. Er kam mir unangenehm bekannt vor, wie eine schlechte Angewohnheit aus der Kindheit. Die Schultern nach vorne gedrückt, mein Kopf mit angezogenem Hals zwischen ihnen versteckt. War ich Jos Meiosepartnerin gegenüber schuldbewusst? Sie war lediglich eine Ersatz-Angelika, kein Mensch, schon gar kein NT. Vergeblich. Ängstlich trollte ich mich aus dem Haus, bevor sie aufwachte. In der U-Bahn drängten sich die U-Menschen näher als sonst an mich heran. Mein Lebensraum war gefährdet, es war, als ob sie meine Existenz kaum registrierten. Schrecklicher Gedanke: Vielleicht hatten sie beschlossen, mir die Existenzberechtigung abzuerkennen und meinen Platz zu annektieren. Das war es: Sie wollten mich und jede Erinnerung an mich auslöschen. Ängstlich drückte ich mich in die Ecke und vermied jeden Augenkontakt. Endlich bei meiner Station angekommen, machte huschte ich mich bückend auf die Straße, wie eine Ratte vor der Katzentüre.

Im Büro gelang es mir nicht, mit den Anwesenden zu reden. 17 Leute, Primzahl. Gut. Keiner mit orangefarbener Kleidung. Gut. Leider vier Bluejeans mit Gürtel. Mein Blick war nach unten gerichtet, die Worte abgehackt, die Syntax inexistent. Ihre Sprache war unverständlich. Ich nahm das Geräusch  ihrer  Münder  wahr,

konnte es aber nicht in Worte transformieren. Mein A/D Wandler war defekt. Meinem Kugelschreiber entflossen Tintenzeichnungen, die sich auf dem Papier festkrallten. Lauter Männchen mit langen Beinen ohne Arme. Kopffüßer. Mit der linken Hand deckte ich das Papier vor den Blicken der Eindringlinge ab. Ich war zweigeteilt, meine Redeöffnung murmelte meinem Gehirn unverständliche Worte. Um eine Antwort auf meine Fragen zu finden, zählte ich die Kuppen der Raufasertapete ab. Sobald der vermutete Wortschwall der Besucher versiegte, brummte ich, stand auf und schüttelte ihre Hand. Zweifelnd blickten mich die meisten an, bevor sie das Zimmer verließen.

Beim Mittagessen kam Frau Malowas kurz an meinen Tisch. Wie durch ein Wunder verstand ich sie. Verschwörerhaft raunte sie mir zu, alle Weichen seien gestellt. Ich möge mich auf eine Begegnung mit einem Repräsentanten des Unternehmens Garidans einstellen.

Am Nachmittag gab es keine Sprechstunde und ich buchte "Zeitausgleich" auf der Stechuhr. Fluchtartig verließ ich das Gebäude, weg von den Geräuschen. Ich musste allein sein. Zu Hause kontrollierte Angelika Schularbeiten. Die U-Bahn brachte mich in einen Vorort. Auf der Fahrt wurde ich nicht ermordet. Das angrenzende Erholungsgebiet war während der Woche menschenleer. Die Panik verließ mich mit jeder Haltestelle mehr. Am Ziel angekommen, stieg ich aus und sprintete los. Die U-Menschen zögerten, das Dunkel zu verlassen. Meinen Vorsprung nutzend, hetzte ich atemlos über die grasbedeckten Hügel. Fünf Minuten, zehn Minuten. Ich hechelte, Seitenstechen, Schweiß. Stolperte, rollte den Hügel einige Meter hinunter. Kratzte mich an den Büschen auf. Die Kleidung voller Dornen, Grasflecken, Risse. Weiter lief ich, weiter nach vorne, wie ein Lemming. Die Erschöpfung kam vor den Klippen. Keuchend lag ich auf dem grünen Boden, die Augen geschlossen. Es reichte nicht. Der Druck auf meiner Brust war geblieben. Aufstehen, laufen, stolpern, fallen. Wieder auf und vorwärts. Endlich war die Beklemmung weg. Eine Sitzbank, die Einzige weit und breit. Ein Obdachloser lag auf ihr. Egal, ich setzte mich, schob seine Beine zur Seite. Im Schlaf protestierte er undeutlich. Geschlossene Augen, Sterne, kalte Schmerzen in der Brust, Stiche im ganzen Körper. Mein kybernetisches System konnte den Ruhezustand wieder herstellen. Während des Laufes hatte ich Bilder gesehen, Vorstellungen gehabt. Keinen Anblick, den Jo mochte. Er konnte kein Blut sehen. Ovid schon. Ob sie mich einholen würden? Entspannt öffnete ich die Augen. Der Penner stierte mich an. Unrasiert, alt, dicklich, rote Nase, schlechte Haut, alter Mantel, Sakko, mehrere Pullover, Hemden. Wie viele Schichten hatte er an? Alles schmutzig: Kleidung, Zähne, Haare. Ich stand nicht auf. Er murmelte. Die Worte weigerten sich, sich durch sein verfaultes Gebiss zu quetschen. Ich ignorierte ihn, auf meinen defekten Konverter vertrauend. Überflüssigerweise funktionierte er wieder.

"Haben Sie mich gefunden? Und Sie kommen, mich zu holen? Das ist zu spät, ich habe alle meine Karten Rüdiger gegeben."

Sein Lachen war schmutziger als die Kleidung. Es ging in Husten über. Krampfhaft, ein TBC-kranker Kettenraucher klang gesund im Vergleich zu ihm. Sein Akzent deutete auf einen russischen Einwanderer hin.

"Die paar, die er nicht von mir erhalten hat, die sind bei Jesus – Jesus Henriquez. Aber jetzt, jetzt gibt es nichts mehr für Sie."

"Karten. Sprechen?"

"Als ob Sie das nicht wüssten? Warum wären Sie sonst da. In den Ferien bekomme ich nie Besuch. Habe niemandem vor meiner Abreise erzählen können, wohin ich wollte. Viel zu gefährlich. Ich weiß genau, was Sie wollen. Können mich nicht täuschen."

Der alte Mann richtete sich auf der Bank auf. Es war ein lang währendes Unterfangen. Er verbog sich, presste sich an der Lehne hoch, rutschte herum, kniete sich hin, kroch mit dem Oberkörper auf die Sitzfläche wie eine Schnecke und saß endlich neben mir. Ich hatte ihn die ganze Zeit angewidert gemustert und eine Berührung vermieden. Er nahm aus einer Plastiktüte eine Glasflasche und trank gierig. Der Obdachlose schloss seine Augen und schwieg eine Minute. Als sie sich wieder öffneten, spielte ein liebenswürdiges Lächeln auf seinem Gesicht.

"Schönen guten Tag, junger Mann. Kenne ich Sie? Sie müssen entschuldigen, seit einiger Zeit bin ich ein wenig vergesslich. Womit kann ich Ihnen dienen?"

Seine junge Stimme klang glockenhell, die Betonung präzise und deutlich. Die Aussprache gebildetes Hochdeutsch. Keine Spur von einem Akzent.

"Gott. Mensch."

Anerkennendes Nicken, der Connaisseur blickte zufrieden. Er ließ seine Worte wie einen alten Wein auf der Zunge rollen, bevor er sie mir anvertraute.

"Ich sehe es Ihnen an. Es treiben Sie tiefschürfende Überlegungen in mein Sommerdomizil. Was macht den Gott zum Gott und unterscheidet den Menschen von ihm? Das wollen Sie wissen, nicht wahr? Kann der Mensch durch sein eigenes Wollen und Walten im Diesseits zum Gott werden?"

Freundschaftlich schlug er mir auf die Schulter:

"Werter Herr Kollege, als ich in Ihrem Alter war, hat mich diese Frage ebenfalls nicht schlafen lassen. Nach meiner Emeritierung will ich mich ihr stärker zuwenden. Bis dahin bin ich leider gezwungen, meine Zeit mit der leidigen Universitätsbürokratie zu vergeuden. Bis zu meiner nächsten Vorlesung bleiben mir jedoch ein paar Minuten, die ich Ihnen gerne widme."

Dar alte Mann stand leichtfüßig auf und ging mit elegantem Schritt vor mir auf und ab, mit den Händen lebhaft gestikulierend.

"Fangen wir mit den einfachen Fragen an. Was unterscheidet Gott von den Menschen? Antwort: die Tat oder vielmehr die Fähigkeit dazu. Es ist alles eine Frage der Potenz!"

Er kicherte wie ein Pennäler, beruhigte sich, setzte erneut seine strenge Professorenmiene auf und dozierte weiter:

"Ein Gott ist definiert als ein Wesen, das erheblich mächtiger ist als alle Menschen zusammengenommen. Für die Menschen ist es irrelevant, ob dieser Gott absolut allmächtig ist. Relative Allmächtigkeit reicht. Bleiben wir in einem für unser Verständnis fasslichen Bereich: das klassische Laborexperiment mit Experimentator und Versuchsratte."

Ich wurde stutzig. Wie war das möglich? Der Mann dachte in den gleichen Begrifflichkeiten wie Ovid. Erst gestern hatte er diesen Vergleich verwendet.

"Für eine Laborratte ist es unbedeutend, ob der experimentierende Wissenschaftler sterblich ist, seine Frau ihn betrügt und er sich die Anschaffung eines Wochenendhauses nicht leisten kann. Entscheidend ist, dass seine Lebenserwartung die der Ratte bei Weitem übertrifft und es in seiner Macht liegt, das Tier mit Nahrung zu versorgen oder einzuschläfern. Stellen Sie sich vor, es gäbe eine besonders vernunftbegabte Ratte, den Rattus Spinoza, der zur Reflexion über sein Leben befähigt wäre. Für den Rattenphilosophen ist das Sinnieren über die absolute Allmächtigkeit des Wissenschaftlergottes reine Theorie. Sie bleibt ohne Relevanz, da der Wissenschaftlergott der Ratte gegenüber so handelt, als ob er allmächtig wäre. Hier treffen sich Allmächtigkeitsfiktion und Realität. Entscheidend ist die Relativität, ich nenne das ‚Sonnensteins Spezifische Relativitätstheorie’."

Erneut infantiles Kichern.

"Sie lautet folgendermaßen: Wenn ein Wesen in dem Maß Macht über ein anderes Wesen hat, dass es dessen Leben ohne erkennbare Einschränkungen beenden kann, dann ist die relative Allmacht von der absoluten Allmacht nicht unterscheidbar. Es reicht das Überschreiten eines kritischen Schwellwertes, damit die relative Allmacht aus Sicht des dieser Allmacht ausgelieferten Wesens absolut wird. Das lässt sich übrigens mit der Newton’schen Infinitesimalrechnung schön mathematisch darlegen."

Er unterbrach seine Darlegungen, um sich auf ein Bein zu stellen. Das andere streckte er nach hinten aus, beugte sich mit dem Oberkörper nach vorne und breitete seine Arme aus wie ein Vogel im Segelflug. Er zog sie wieder an, gackerte intensiv und sprang nach vorne. Mit einer eleganten Pirouette wendete er sich mir zu:

"Aus dem Sichtwinkel der Ratte ist die alles entscheidende Frage, ob sein Machthaber proportional zur Ratte selbst ein relativer oder absoluter ist. Sollte er ein absoluter Machthaber sein, dann ist er vom Rattengesichtspunkt her als Gott zu behandeln. Wenn der Erwartungswert der Einschränkung seiner Macht durch andere Götter gering ist, sei es, weil diese wenig Macht haben, sei es, weil sie wenig aufmerksam sind, dann hat er einen hohen Gotteskoeffizienten. Ist die Einschränkung groß, ist der Gotteskoeffizient gering. Der Gotteskoeffizient ist folglich umgekehrt proportional zur tatsächlichen Machteinschränkung durch andere Entitäten.

Für den Rattenphilosophen ist diese Unterscheidung bedeutsam, da er möglicherweise nicht vom Versuchsleiter betreut wird, sondern von einem Laborhelfer. Der Laborhelfer ist realiter nicht allmächtig. Er verpflegt unsere Ratte und ändert die Versuchsanordnung, aber handelt im Auftrag, ohne eigenes Ermessen. Für die Ratte ist der Unterschied schwer wahrnehmbar, doch entscheidend. Im Falle eines Laborhelfers mit geringem Gotteskoeffizienten ist es nicht erforderlich, diesen anzubeten und ihm Opfer darzubringen. Sollte die Ratte dieser Pflicht nicht nachkommen, ändert sich am Verhalten des Laborhelfers nichts. Eine sich dessen bewusste Ratte kann den Freiheitsgrad ihres Daseins erheblich erhöhen. Sie kann den Laborhelfer in den Finger beißen und auf ihn urinieren. Der Laborhelfer ist machtlos, sein Verhalten gegenüber der Ratte wird vollständig durch den Willen des wahren Gottes, des Versuchsleiters, bestimmt. Dies impliziert eine effiziente Aufsicht durch den Versuchsleiter, bei der "versehentliches" Töten eines Versuchsobjektes durch den Laborhelfer voraussichtlich sanktioniert wird.

Ein radikaler Rattenphilosoph wird folglich die Möglichkeit der eingeschränkten Allmächtigkeit genauso ins Kalkül ziehen, wie die der de facto Ohnmacht seines Gottes. Mit genügend Paranoia ausgestattet, wird er die fragliche Gott-Entität genau beobachten. Sind Kabel an ihr befestigt oder ein Mikrochip? Hantiert eine Mitratte glucksend an einer Fernbedienung? Hat sich diese zum de facto Gott aufgeschwungen?"

Das war es: Die NTs hielten die Fernbedienungen in ihren Händen, mit deren Hilfe sie den Neandertalern die Existenz der Götter vorspiegelten und deren Handlungen sie gemäß den eigenen Wünschen manipulierten. Ich musste unbedingt eine Fernbedienung finden!

"Woran würde ich eine solche Steuerung erkennen? Oder vielmehr: Wie erkenne ich den Bedienenden?"

Mein Syntaxmodul funktionierte war wieder hochgefahren, der Rückfall ging vorüber.

"Nicht so voreilig. Die Fernbedienung und der damit verknüpfte niedrige Gotteskoeffizient sind lediglich eine kühne Hypothese. Wenn Sie unberechtigt ist, wird Gott dies erkennen und den Häretiker schrecklich strafen. In jeder Kultur gibt es grässliche Geschichten über das Schicksal der Ketzer, die an Gottes Allmacht zweifeln. Die Suche nach der Fernbedienung ist theoretisch verlockend, aber rational unsinnig. Gott ist unsichtbar, daher ist die Chance zur Findung der Fernbedienung unendlich gering.

Außerdem ist der Nutzen aus der gewonnenen Erkenntnis über die Existenz der Fernbedienung zweifelhaft. Stellen Sie sich vor, sie hätten herausgefunden, dass Gott eine Erfindung der Priester ist. Was würde Ihnen das bringen? Sie könnten sich die Zahlung der Religionssteuer ersparen und bräuchten nicht ins Gotteshaus zu gehen. Würden Sie das machen? Ihre Freunde sind dort, ihre Geschäftspartner verabreden sich nach dem Gottesdienst beruflich und Sie? Sie absentieren sich, ihr Ansehen nimmt Schaden. Am Ende gehen Sie dennoch hin, nur jetzt mit dem bitteren Gefühl der Zeitvergeudung. Kein Gewinn gegenüber dem Status quo. Falls Gott existiert, ist die Strafe für den Frevel gewiss. Es heißt, Gott sei allwissend und die Pein unerträglich."

Er suchte in seinen Taschen, eilte zu einem Abfalleimer und entnahm ihm eine zerknüllte Zeitung. Mit ihr rannte er aufgeregt zum nächsten Baum und legte das Papier auf eine Astgabel, sodass ich es sehen konnte. In der Rechten hielt er eine Kugelschreibermine, mit der er auf die Zeitung schrieb wie auf eine Tafel im Hörsaal.

"Wir haben folgende Parameter:

P1 Wahrscheinlichkeit Entdeckung Fernbedienung ≈ 0,01

U1 Nutzen Entdeckung Fernbedienung ≤ 1

P2 Erwartete Wahrscheinlichkeit Existenz Fernbedienung

P3 Wahrscheinlichkeit Bestrafung durch Gott ≈ 1

U2 Nutzen Bestrafung durch Gott - ∞

G Gesamtnutzen

Das ergibt eine eindeutige Gleichung:

G = P1 ∙ U1 ∙ P2 + P3 ∙ U2 ∙ (1 – P2)

P2 misst die Existenz einer Fernbedienung. Falls eine Fernbedienung existiert, bedeutet dies, dass es keinen allmächtigen Gott gibt. P1 wiederum ist die Chance, dass wir dies erkennen. Aus dieser Gleichung ergibt sich eine Schlussfolgerung. Selbst wenn die Chance für die Existenz eines allmächtigen Gottes nur ein Hundertausendstel ist, gilt:

G = 0,01 ∙ 1 ∙ 0,99999 + 1 ∙ (- ∞) ∙ 0,00001 = 0,01 - ∞ = - ∞

Es gilt für alle P2 < 1 ist G = - ∞, d. h., wenn eine theoretische minimale Möglichkeit besteht, dass Gott existiert und relativ allmächtig ist, dann ist es erforderlich, nicht nach der Fernbedienung zu suchen, sondern an Gott und seinen hohen Gotteskoeffizienten zu glauben. Der zu erwartende Gesamtnutzen der Suche nach der Fernbedienung ist unendlich negativ. Selbst wenn Sie an einen besonders gnädigen Gott glauben, dessen Zorn Sie nicht unbedingt verschlingen wird, ändert sich das Bild nicht. Sagen wir, Sie sind Optimist und setzen die Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung durch Gott mit nur 0,01 Prozent an. Sie erwarten also mit 99,99 Prozent Sicherheit eine verzeihende Behandlung durch Gott, ein Optimismus, mit dem sie in der Geschichte der Theologie einsam dastehen. Immer noch ist der erwartete Gesamtnutzen der Suche nach der Fernbedienung unendliche Qualen:

G = 0,01 ∙ 1 ∙ 0,99999 + 0.0001 ∙ (- ∞) ∙ 0,00001 = 0,01 - ∞ = - ∞

Der Erwartungswert für Ihren Zweifel an Gottes Allmacht ist in allen Fällen und trotz der verschwindend geringen Chance der Existenz Gottes unendliche Qualen. Fällt Ihnen das Leitmotiv meiner Darlegungen auf? ‚Zweifel = unendliche Qualen!‘ Folglich würde kein rationaler Homo oeconomicus an Gott zweifeln, obwohl die Chance, dass er existiert, minimal ist. Es ist diese Gleichung, die allen skeptischen Theologen die große Bürde auferlegt, zu glauben, obwohl es unwahrscheinlich, aber eben weil es nicht unmöglich ist.

Religion ist keine Geisteswissenschaft, hat nichts zu tun mit Sentimentalität und Harfenklängen im Sonnenschein. Heutzutage sprechen ihr die meisten Wissenschaftler sogar die Wissenschaftlichkeit ab. Lesen Sie Dawkins! Für den verblendeten Dummkopf steht sie auf einer Stufe mit Astrologie, Kaffeesatz und Roswell. Dawkins schreibt irrationalen Humbug, nicht die Theologen, wohlgemerkt. Nüchtern betrachtet ist die Theologie mit beiden Beinen auf der Erde verankerte Naturwissenschaft, mathematisch beweisbar und utilitaristisch notwendig. Der Rest ist Verpackung, notwendiges Übel. Religion ist die süße Hülle der bitteren Pille. Sie erleichtert uns das Einnehmen der erforderlichen Medikamente."

Er stockte in seinen Ausführungen wie eine Maschine, in deren Räder Steine geraten waren. Bewegungslos schloss er stehend die Augen wie R2D2 nach einem Kurzschluss. Ich berührte ihn am Oberarm und verwirrt richteten sich seine neblig werdenden Pupillen auf mich. Erkennen blitzte kurz auf, erlosch. Ein Stoß und er schüttelte sich. Emsig trank er einen Schluck aus seiner Flasche und fuhr hastig fort, bemüht, in diesem Kurzzeitgedächtnis-Zyklus zum Ende seiner Ausführungen zu kommen.

"Dies ist kein Gottesbeweis, sondern ein Glaubensbeweis. Der Glaube an ein höheres Wesen ist zwingend erforderlich. Die theologische Profession ist die Marketingabteilung des Utilitarismus, eine wechselseitige Versicherungsanstalt gegen den göttlichen Zorn. Die Möglichkeit Gottes zwingt zum gottesfürchtigen Handeln. Lediglich der absolute Glaube an seine Nicht-Existenz ist für Nonkonformisten eventuell mit einem gewissen Nutzen verbunden, denn nun gilt

G = 0,01 ∙ 1 ∙ 1 + 0.01 ∙ - ∞ ∙ 0 = 0,01

Das heißt, unser atheistischer Einzelgänger hat einen leicht positiven Grenznutzen durch die Nicht-Existenz Gottes. Die mögliche schreckliche Strafe im Falle einer Fehleinschätzung wiegt das bei Weitem nicht auf. Nein, Gottesfurcht ist die einzige rationale Verhaltensweise!"

Er war fertig. Auf der Bank sackte er in sich zusammen wie eine von Termiten ausgehöhlte Holzpuppe. Die geleerte Flasche rollte in das Gras. Nun war mein Moment gekommen. Ovid übernahm das Steuer. Mit dröhnender, prachtvoller Stimme belehrte er den alten Mann:

"Idiot. Seit Ewigkeiten untersuchst du die Gleichung und verstehst die Lösung nicht. Dabei ist sie so einfach! Schau dir P1 und P2 an. Damit misst du in Wirklichkeit die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes. Wer kann diese Frage beantworten? Wer hat 10.000 Götter auf Ihre Göttlichkeit hin wissenschaftlich untersucht? Niemand! Du misst mit P1 und P2 keine absoluten Größen, sondern deine eigenen Vorurteile. Sobald du sie aus der Gleichung entfernst, schaut sie anders aus:

Wenn gilt, dass:

P1 = P2 = 1

Dann folgt daraus, dass:

 

G =     1 ∙ ∞ ∙ 1 + 1 ∙ (- ∞) ∙ (1-1)  .=

G =          ∞   + 1 ∙ (- ∞) ∙ 0      ...  =

G =          ∞   +        0                 =

G =          ∞

Was sagst du dazu? Wenn Gott existiert, hast du Pech gehabt. Wenn nicht, oder wenn er dich nicht strafen kann oder will, BINGO! Du hast den Haupttreffer gezogen! Jetzt bist du Gott. Genauer gesagt hat dein Gotteskoeffizient relative Göttlichkeit erreicht. DEIN ist die Fernbedienung, DEIN Wort ist Gottes Wort, DEIN Reich ist gekommen, DEIN Wille wird geschehen!"

Entsetzt öffnete der Mann seine Augen. Vergeblich versuchte er, meinen Mund mit seinen schmutzigen Händen zuzuhalten.

"Welch unsinniger Frevel. Aus Ihren Worten spricht Anmaßung, nicht Überlegung."

Ein Neandertaler, der über den Rand seiner Höhle geschaut hatte. Fremdschämen ist angesagt. Nein, das passt nicht zu Ovid. Weg mit dem Müll!

"Schlappschwanz. Schau meine Hände an. Siehst du die Fernbedienung? Mit offenen Augen könntest du deine eigene erkennen. Aber du bist zu feige."

Ich lächelte selten, vielmehr Jo hatte selten gelächelt. Die Steuerung und Koordination der erforderlichen Muskeln fiel ihm schwer. Ovid war anders. Amüsiert betrachtete er den senilen Professor und erklärte feierlich:

"Heute erklimmst du den Zenit deiner wissenschaftlichen Laufbahn. Du wirst Bestandteil eines Experiments sein, das die Existenz Gottes wissenschaftlich unantastbar widerlegen wird. Das war die gute Nachricht. Die Schlechte: Du wirst nie wissen, wie es ausgegangen ist. Jetzt schau auf meine Hände, wie sie die Fernbedienung betätigen."

Ich grinste zufrieden. Erstmals in meinem Leben hatte ich etwas Komisches gesagt. Jo hatte Witze nie verstanden, sie hatten ihn nur verwirrt. Ovid sah sich um und mit einer schnellen Bewegung stülpte er dem alten Mann mehrere seiner Kleidungsschichten über den Mund. Leider war das Experiment nicht so würdevoll, wie Ovid es beabsichtigte. Es gab Geräusche, Zuckungen, selbst Winde und Flüssigkeiten aus dem Leib des Versuchsobjektes. Abgesehen von diesen Nebenerscheinungen war es ein voller Erfolg. Kein Donner, kein Blitz, kein Windstoß, nicht einmal ein armseliger Passant ließ sich blicken. Als wir fertig waren, sah ich auf den Leichnam, dessen Mund Ovid am Ende wieder freigelegt hatte.

"Kein Mensch wird einen Streuner obduzieren. Ich habe ungestraft einen Mord begangen. Falls du recht hast, hat Gott keine Wahl. Wenn er existiert, ist die Konsequenz für mich die Bestrafung durch ihn. Aussatz, ewige Hölle, Fegefeuer, was dir Spaß macht. Tritt das nicht ein, ist die Hypothese H1, die Existenz Gottes, falsifiziert. Im Umkehrschluss folgert daraus, dass die Hypothese H2, Ovids Eigentümerschaft der Fernbedienung, verifiziert ist. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht."

Amüsiert schaute ich auf den Himmel und musterte meine Fingernägel.

"Gott, ich warte. Was ist los? Schläfst du? Oder putzt du gerade das Laborklo?"

Nichts. Die Sonne schien weiterhin friedlich, der Wind wurde nicht stärker, kein Vorhang zerriss. Es war ein angenehmer Frühsommertag. Nach fünf Minuten wurde ich ungeduldig. Dem Leichnam erging es genauso, seine Transparenz erhöhte sich zunehmend. Bevor er ganz verschwand, verabschiedete ich mich Richtung Station. Lauthals trällerte ich I’m singing in the rain‘. Die Steppschritte gelangen mir nicht, der Luftsprung schon. Gut gelaunt verließ ich das Labor. Zuhause angekommen legte ich mich neben die Ersatz-Angelika und schlief den Schlaf des Gerechten.