Angelika 2.0 weigerte sich, aufzustehen. Angeblich ausgefallene Lehrstunden. Im Briefkasten erblickte ich einen Briefumschlag aus steifem Büttenpapier, an mich persönlich adressiert. Innen befand sich eine im Tiefdruck geprägte Einladung zu einer Informationsveranstaltung am selben Abend. Nobel. Veranstaltungsort: Ein privater Klub in der Innenstadt in bester Lage, um Antwort wurde nicht gebeten. Der Absender war mir unbekannt, sein Beruf war mit Senior Ideology Officer der Firma Garidans angegeben. Ovids Plan schien Erfolg zu haben. Was beabsichtigte er bloß?
Beim Mittagessen zwinkerte mir Frau Malowas zu und raunte im Vorübergehen: "Machen Sie mir keine Schande!" Die Stunden zwischen Büro und Abendveranstaltung verbrachte ich in einem Café auf einer der teuren Promenadenstraßen der Hauptstadt. Vor einem Latte macchiato sitzend, betrachtete ich die Passanten, andere NTs suchend wie ein Blinder, der in einer Viehherde scheckige Kühe identifizieren will. Sinnlos. Welche besonderen Kennzeichen hat ein NT?
Ich verschloss die Toilette und untersuchte mich im Spiegel. Dem Neandertaler Jo sah ich äußerst ähnlich, das war nicht zu leugnen. Im Detail erkannte ich Unterschiede. Der Oberkörper war geringfügig gerader; der Brustkorb vorgeschoben, der Kopf empor gereckt. Brustkorb, Bizeps oder Trizeps waren nicht muskulöser, meine Genitalien gleichfalls unverändert. Das Profil meines Gesichtes war stärker ausgeprägt, die Backenknochen, die Nase, die Augenwülste und die Kinnpartie plastischer. Meine Augen hatten die stärkste Modifikation erfahren. Das matte, verwaschene Braun war klarer, glänzender und erdiger, die Pupillen schärfer konturiert und verkleinert. Aus Hasenaugen waren Adleraugen geworden.
Der Klub lag im ersten Stock eines klassizistischen Patrizierhauses im Zentrum der Hauptstadt. Der Zugang erfolgte über eine ausladende, repräsentative Stiege, Vorbild aller Neandertalerfernsehshows des Holozäns. Ein muskulöser Anzugträger Ende 20 mit gelierten Haaren und Fotomodellvisage stand vor dem Eingang und musterte mich. Sein abfälliger Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel am Ergebnis seiner Einschätzung. Dummkopf! Nach Vorzeigen meiner Einladung ließ mich der Luxusgorilla wortlos passieren, ohne seine Verachtung zu verbergen.
Der dahinter liegende Vorraum diente in der kalten Jahreszeit vermutlich als Garderobe. Eine langbeinige, junge Frau mit eng anliegendem Rock, einer schicken weißen Bluse und einem unauffälligen Garidans-Sticker darauf trat auf mich zu. Sie lächelte mich weiß-rot an und ich roch ihr Maiglöckchenparfum.
"Herzlich willkommen bei der Garidans-Familie! Wir hoffen, Sie bald ganz in unserem Kreis aufnehmen zu können, Herr …?"Ich zögerte kurz, dann ließ ich mich herab, ihr gefällig zu sein: "Krall".
"Herr Krall, hier habe ich für Sie einen weißen Aufkleber mit Ihrem Namen, bitte tragen Sie den immer nahe dem Herzen". Sie lächelte routiniert freundlich bei dem kleinen Scherz. "Wenn Sie bitte in den Saal treten würden."
Die Kleine war adrett, appetitlich und makellos sauber. Ihre Unnahbarkeit und glatte Fassade reizten Ovid. Unvermittelt beugte ich mich vor, umarmte sie fest und gab ihr einen Kuss. Zuerst erduldete, dann genoss sie ihn. Als ich sie losgelassen hatte, nahm sie sichtlich in Gedanken meinen Sticker wieder von meinem Sakko, sagte: "Einen Moment", und betrat eines der Zimmer. Zum Sicherheitsmann vor der Tür war sie nicht gegangen. Hatte ich Frau Malowas Schande bereitet? Egal.
Nach zwei Minuten kam sie mit ernstem Gesicht wieder heraus und musterte mich ausgiebig. Sie nahm ein rotes mit Nadel versehenes Plastikschild aus einer neben ihr stehenden Tasche, notierte meinen Namen darauf und befestigte es auf meiner Brust. Verstohlen lächelnd schrieb sie ihre Telefonnummer auf einen Zettel, reichte ihn mir und sprach leise: "Wenn du Zeit hast, ruf mich an. Ich heiße Mireille." Nach einer kurzen Pause fügte sie mit kräftiger Stimme hinzu: "Herr Krall, bitte gehen Sie nicht in den Prunksaal, sondern in den Raum daneben und warten dort."
Es handelte sich dabei um den Vorraum eines Büros, dessen braune, gepolsterte Türen geschlossen waren. Über dem Eingang stand in Stein gemeißelt:
"Nehmet, dann wird euch gegeben; Gebet, dann wird euch genommen."
Ich wartete eine Minute, zwei Minuten, nichts geschah. Schließlich trat ich auf die Polstertüren zu, öffnete sie schwungvoll ohne Anklopfen und trat ein. An einem Schreibtisch saß ein junger Mann, blickte auf seine Uhr, murmelte "140 Sekunden, naja. Wenigstens nicht geklopft." und notierte etwas in einer Akte.
An den Tisch tretend, setzte ich mich auf den Besucherstuhl und sah den Mann erwartungsvoll an. Dieser schwieg, meinen Blick erwidernd. Die nächste Prüfung, Gesprächsmachismo. Wer kann das Schweigen länger aushalten. Aus dem Augenwinkel musterte ich mein Visavis. Der ungefähr 27-jährige trug einen grauen, betont klassisch geschnittenen Einreiher mit Maßhemd. Die Krawatte war unpassend mit schrägen goldroten Streifen. Die Geschmacklosigkeit erweckte den Eindruck des bewusst Gewählten. Nobel-Schule oder Eliteuniversität. Er stank nach altem Geldadel. Ein elektronisches Piepen ertönte. Der Snob wandte seinen Blick ab und drückte auf einen Knopf. Zufrieden trug er in der Akte einen Haken ein.
"So, genug der bürokratischen Spielereien, auf zum Wesentlichen. Sie bemerken, dass sich in diesem Raum kein Garidans-Staubsauger befindet. Stattdessen werde ich Ihnen einige Fragen stellen. Sollten Sie lieber in den großen Saal zu der Verkaufspräsentation gehen wollen, steht Ihnen dies selbstverständlich jederzeit frei."
Ich nickte.
"Hier habe ich Ihren Lebenslauf. Papier ist vertrauensselig. Vielleicht könnten Sie mir in eigenen Worten die Wahrheit erzählen."
Ich unterdrückte die Frage, warum ich einem Staubsaugerverkäufer meine Lebensgeschichte vorbeten sollte. Vor mir saß ein NT, oder zumindest ein Vorbote. Ovid hatte recht gehabt. Wie ein Kamel in der Wüste Wasser hatte er NTs gerochen und diesen Termin herbeigeführt. Statistisch war das praktisch auszuschließen gewesen. NTs waren meiner Einschätzung nach in der Gesamtbevölkerung seltener als Kamele in der Wüste. Wie pflanzten NTs sich fort? Kamel plus Kamel gleich Kamel. Einfach. Neandertaler und NT, was gab das? Das altmenschliche Missbildungs-Gen war vermutlich dominant. Die Bastarde wären zu einem Leben in tierischer Sinnlosigkeit verurteilt. Russisches Roulette für die Eltern. Dagegen war Mongolismus gnädig. Laboruntersuchung, Trisomie 21 Diagnose, gefolgt vom Abortus. Minimiertes emotionales Investment, in sechs Monaten war das Thema beendet. Bei den NTs bedeutete das jahrelanges Warten, tausende Investitionsstunden und ein ungewisses Ergebnis. Außerdem: Wenn es die Geheimgattung der NTs gab, den Homo sapiens neotechnologiensis, warum hatte er nicht offiziell die Weltherrschaft übernommen?
Nein, es war davon auszugehen, dass NTs gekoren, nicht geboren wurden. Meine eigene Fallstudie belegte das. Als gebürtiger Neandertaler hatte ich die die spontane Veränderung, die Genese des Ovid, erlebt. Im Fall einer Mutation hätte das neue Erbgut von der mutierten Einzelzelle ausgehend chimärenhaft meinen Körper erobern müssen. Ein Prozess, der Wochen und Monate dauert. Bei mir hatte die Metamorphose schlagartig eingesetzt und war innerhalb einer Nacht beendet gewesen.
"Die biografischen Details meiner früheren Existenz sehen Sie in Ihrer Akte. Sie sind irrelevant. Unbedeutend wie die Frage, welche Nahrung eine Raupe zu sich nahm, bevor Sie sich verpuppte. ‚Warum wählten Sie in Ihrer Raupenzeit das untere Blatt und wechselten auf den kleineren Strauch, während der größere fruchtreicher war? Welchen Trieb versuchten sie, zu sublimieren?‘ Unsinnige Fragen, Zeitvergeudung. Was wir in früheren Entwicklungsstadien gemacht haben, ist bestenfalls eine Fußnote, kein Gesprächsstoff.
Unsere Entwicklung erfolgt in Sprüngen, vom Baby zum Kleinkind, vom Teenager zum Erwachsenen. Vor Kurzem mutierte ich vom Herdentier zum Leithammel. Ich realisierte, dass ich meinem Leben einen neuen Impuls geben musste. Zu dem Zweck setzte ich mich mit Ihnen in Verbindung. Vorhin hatten sie zu Recht festgestellt, dass ich 140 Sekunden in meiner alten Daseinsform verbracht hatte. Es gibt Rückschläge, keine Frage, aber ich arbeite daran."
Der junge Mann schaute mich ausdruckslos an.
"Da haben wir ja einen Philosophen an Land gezogen. Sie sind Universitätsprofessor? Wanderprediger? Nein, eher Sachbearbeiter bei einer Konsumentenberatung."
"Was interessiert Sie das Leben der Raupe, wenn Sie mit dem Schmetterling sprechen?"
"Fairer Punkt. Wollen Sie dort weiter tätig bleiben?"
"Die Raupe hat mir kein Kapital hinterlassen, von dem ich leben könnte. Ich werde so lange dort bleiben, bis ich andere Einnahmequellen erschlossen habe."
"Eleganter Übergang. Was wissen Sie über Garidans?"
"Erstaunlich viel. Abgesehen davon, dass ich Ihr Unternehmen über Frau Malowas kontaktierte, kenne ich eine Vielzahl Ihrer Kunden aus meiner beruflichen Tätigkeit. Jedes Mal kaufte ein Kunde einen Garidans-Staubsauger zu einem bemerkenswert hohen Preis, eine Verkettung unvorhersehbarer Umstände trat ein und der Kunde ging bankrott."
"Unvorhersehbar, soso. Sie kennen nur die Geschichte bis zum Bankrott? Und Sie glauben, unser Geschäft wären Staubsauger? Andere Frage: Womit verdienen Fast Food Unternehmen ihr Geld?"
"Sie verkaufen Hamburger, Pizzas und Pommes. Was sonst? "
"Falsch. Das verkaufen sie nur, wenn sie keinen Franchisee finden. Nein, die meisten sind in einem anderen Sektor tätig: Gewerbeimmobilien. Schauen Sie sich die Geschäftsberichte an: Die Bilanzen der Firmen weisen zumeist lediglich einen wesentlichen Aktivposten auf: Immobilien. Wo immer Sie Fast Food-Ketten sehen, können Sie davon ausgehen, dass die Immobilie dem Franchisegeber gehört, sofern das juristisch möglich ist. Das Geschäftsmodell ist einfach: Finde einen Mieter und hilf ihm, möglichst viel zu verkaufen. Die Miete ist ebenso umsatzabhängig wie die Franchisegebühr. Am Ende des Tages beträgt die Eigenkapitalverzinsung in guten Jahren über 40 Prozent. Perfekt!"
"Sie sind der Frittenkönig der Staubsaugerproduktion?"
"Hinsichtlich unserer ökonomischen Komponente gehen wir einen Schritt weiter. Bei uns werden keine Staubsaugerkomponenten hergestellt. Lediglich das Entwicklungsteam sitzt bei uns, ein notwendiges Übel.
Eines unserer höherrangigen Mitglieder war nach der deutschen Wiedervereinigung bei der Treuhand für die Abwicklung vom ‚VEB Staub-Weg‘ zuständig. Blöder Name, ich weiß. Das war eines dieser kleinen Unternehmen, die aus der Weimarer Republik stammten, ganz hinten im letzten Winkel. Die Kenntnis von seiner Existenz versickerte im DDR-Amtsapparat und so wurde es nie in die großen VolksEigenen Betriebe integriert. Die Firma konnte sich folglich unbehindert von jeder Bürokratie entwickeln und nannte sich zur Tarnung ebenfalls VEB. Fast die ganze Produktion ging in den Westexport. Ein cleveres Jungchen hatte es in den sechziger Jahren geschafft, eine Schweizer Tochterfirma zu gründen. Von da an verwendeten sie überall den Stempel ‚Made in Switzerland‘. Sie entwickelten eine neue Marke, engagierten die besten Designer aus Italien und den USA und konzentrierten sich auf exklusive Nischenprodukte im Direktvertrieb. Von den Kunden wusste keiner, dass der vermeintliche Schweizer Luxusstaubsauger in Wirklichkeit ein DDR-Gerät war. Alles erfolgte sehr diskret, in den Auslagen der Geschäfte waren die Geräte dank des Direktvertriebs nie zu sehen. Über die Schweizer Tochterfirma konnte VEB Staub-Weg ungehindert moderne westliche Mikrotechnologie erwerben, vieles wurde am MIT in den USA entwickelt. Die Schweizer Niederlassung kaufte ein und sandte die Komponenten in die DDR zur Endfertigung. Die finalen Produkte wurden wieder in die Schweiz re-importiert und durch eine Schweizer Enkelin verkauft. Das war nicht COCOM-konform, doch niemand beschwerte sich. VEB Staub-Weg in der DDR erhielt Devisen in homöopathischen Mengen, um die Augen der lokalen Bonzen zum Wegsehen zu bewegen. Der Löwenanteil der Gewinne wurde niemals repatriiert, sondern blieb auf den Schweizer Konten.
Den Mitarbeitern von VEB Staub-Weg gelang es, Ausreisegenehmigungen zum Besuch von Messen im kapitalistischen Westen zu erwirken. Die wichtigsten Veranstaltungen fanden zufälligerweise immer in Las Vegas und Monaco statt. Ich sah einige Fotos dieser Tagungen. Mensch, so schön möchte ich es auch einmal haben! Dom Perignon Jahrgangschampagner, dicke Churchills, in jedem Arm eine nackte Schönheit, Butler, Rolls-Royce, Präsidentensuite in Las Vegas und Jacht in Monaco. Vulgär, natürlich, aber so lupenrein neureich, dass man das bewundern muss. Dem Druck der Konten, die sich unvermeidbar mit den Gewinnen aus dem Staubsaugerverkauf bis zum Bersten füllten, diesem ungeheuren Druck standzuhalten, gelang nur elf Monate im Jahr. Im zwölften Monat, im Ausland, wurde er durch Saufen, Huren, Fressen, Prassen abgelassen. Am Ende stand die totale Erschöpfung der Menschen und der Konten. Ermattet und geläutert entflohen sie jedes Jahr der Hölle der Kapitalisten in ihr kleines Provinzkaff im Paradies der Werktätigen. Daran ist nichts Verwerfliches. Ihre westlichen Kollegen meditierten zur gleichen Zeit in spartanischen Klöstern zum Zweck der inneren Reinigung, die sozialistischen Genossen prassten im Luxus. Der Zweck war der gleiche, die Ausgestaltung wurde durch die äußeren Umstände bestimmt.
Nach der Wende stellte das Management beim Ministerium einen Antrag auf Kauf der Unternehmensanteile, sogar mit Arbeitsplatzgarantie. Der Vorschlag zum Erwerb eines nur halboffiziell existierenden VEBs landete auf dem Schreibtisch eines Mitarbeiters, der wusste, dass seine Tage gezählt waren. Er zeigte keinen übertriebenen Eifer, die Sache zu verfolgen.
Dann kam die Treuhand und dem Ministerium wurde die Befugnis zur Veräußerung von Staatseigentum entzogen. Erneut blieb der Akt auf einem Schreibtisch liegen. Diesmal war es kein Sachbearbeiter, dessen Tage gezählt waren, sondern ein junger Akademiker aus gutem Haus, der stutzig wurde.
Er las den Antrag des Managements und fand in seinen Akten die Beschreibung des VEB Staub-Weg, der zu guter Letzt von den Mühlen der Treuhand-Bürokratie erfasst worden war. Sein erster Impuls war die Zustimmung. Laut Unterlagen handelte es sich um einen unbedeutenden Lohnproduktionsbetrieb, eine verlängerte Werkbank für westliche Kunden. Seit der Wiedervereinigung war das währungsbedingte Lohngefälle verschwunden, die Zukunftsaussichten für Staub-Weg waren grimmig. Im Geschäftsbericht waren keinerlei bemerkenswerte Aktiven verzeichnet, kaum Patente, lediglich eine kapitalschwache Vertriebstochter in der Schweiz. In der Rubrik ‚Immaterielle Güter‘ wurde angeführt, dass die VEB Staub-Weg die COMECON-Namensrechte für ‚Garidans Staubsauger‘ innehatte.
Die finanzielle Sorglosigkeit seiner Mutter machte sich bezahlt. ‚Garidans’ kannte er, sie hatten einen zu Hause, den ihre Haushaltshilfen bedienten. Er erinnerte sich des Streits, den seine Eltern deswegen gehabt hatten, so teuer war das Gerät, gemessen an anderen Staubsaugern, gewesen. Es war sogar im Scheidungsprozess der Eltern aktenkundig geworden. Der Vater hatte den Garidans-Staubsauger als Beispiel für die schlechte Haushaltsführung seiner Noch-Ehefrau angeführt. Dies erwies sich als Fehler. Das Urteil der Richterin, selbst begeisterte Garidans-Besitzerin, sprach der Ehefrau nicht nur die von ihr geforderten Vermögensbestandteile und Alimente zu, sondern erhöhte die Beträge erheblich.
Unseren jungen Mann ließen die Namensrechte nicht ruhen. Er unterbrach den Veräußerungsprozess und recherchierte VEB Staub-Weg. Sogar zum Werk fuhr er, wobei er - um kein Aufsehen zu erregen – einen Wartburg aus dem Pool nahm, statt seines Mercedes. Dort angekommen blieb er auf einem nahe gelegenen Hügel stehen. Mit einem Feldstecher blickte er durch die erstaunlich sauberen Fenster der Fabrik. Die Maschinen sahen durchwegs ansprechend und in gutem Zustand befindlich aus, Details waren nicht auszunehmen.
Nach dieser erkenntnisarmen Fahrt ließ er sich aus dem Handelsregister Zürich (Stadt) die Jahresabschlüsse der Schweizer Tochter ausheben. Es dauerte einige Wochen, bis er die Unterlagen auf dem Amtsweg erhielt. Er ging in sein Zimmer. Voller Spannung öffnete er das Aktenbündel und blätterte im kurzen Jahresabschluss, der hinterlegt worden war. Die Schweizer Tochter hatte fast keine operativen Kontenbewegungen vorzuweisen. Nahezu kein Umsatz, kaum Kosten, der Gewinn eine schwarze Null. Die Bilanz war klein: ein bisschen Bargeld, keine Schulden und eine kleine Finanzanlage, Buchwert 25.000 Schweizer Franken. Im Anhang stand unter den Kommentaren, dass es sich bei der Finanzanlage um 100 Prozent der Gesellschafteranteile an der Garidans Holding GmbH handle.
Unser vielversprechender junger Mann konnte an dieser Stelle seine Erregung kaum beherrschen. Die nächsten zwei Wochen, 13 Tage genau, waren die schlimmsten seines Lebens. So lange dauerte es, bis die in der Schweiz nachgefragten Jahresabschlüsse der Garidans Holding GmbH bei ihm im Akteneinlauf ankamen. Seine Erwartungen wurden von dem Inhalt der Unterlagen übertroffen.
Die Garidans Holding GmbH war ein weltumspannender Konzern mit Niederlassungen in allen Kontinenten. Wie er später herausfand, war der Vertrieb ausschließlich über Vertreter organisiert. Die Firma verzichtete auf Werbung. Jeder Kunde, der einen anderen Kunden geworben hatte, erhielt eine kleine, geschmackvolle Anerkennung. Es war nicht genug, um den Vertrieb als Schneeballsystem zu qualifizieren, doch ausreichend, um sich die Loyalität der Kunden zu sichern. Jeder Vertreter war angewiesen, darauf zu achten, welche Aufmerksamkeiten den zukünftigen Kunden besonders erfreuen würden. Es gab moderne Glasvasen, elektronische Gimmicks, strassbesetzte Broschen, Zigarrenschneider und Seidenschals. Nirgends ein weithin sichtbarer Firmenname, diskret war auf jedem Stück in kleinstmöglicher Letterngröße ‚Friends of Garidans‘ angebracht.
Die finanziellen Resultate, die er in seinen Händen hielt, konnten sich sehen lassen. Die Umsätze waren mit 572 Millionen Franken überschaubar. Der jährliche Gewinn nach Steuern, die sich dank der kooperationswilligen Züricher Steuerbehörde im Rahmen hielten, betrug beachtliche 282 Millionen Franken, rund 190 Millionen Euro. Seit der Wende, wir schreiben das Jahr 1993, hatte sich die Firma explosionsartig weiterentwickelt. Das Management hatte die erleichterten Reisebestimmungen nicht nur zum Feiern genutzt, sondern auch den außereuropäischen Vertrieb richtig aufgesetzt. Mittlerweile konnten selbst die intensivsten Anstrengungen der Geschäftsführung die Konten der Firma Garidans nicht mehr leeren. Doch wo war das Geld geblieben? Die Bargeldposition des Jahresabschlusses entsprach einer mittleren Vereinsportokasse, nicht mehr. Nach intensivem Studium der letzten Geschäftsberichte enthüllte sich ihm das Rätsel.
1991 hatte die Garidans Holding GmbH mit der O.E.U. Ltd., Sitz in Grand Cayman, einen Akquisitionsvertrag abgeschlossen. Dabei hatte die Garidans von der O.E.U. Ltd. Patente und Technologien um 840 Millionen Franken erworben, über 500 Millionen Euro. Die Kaufzahlung war zur Hälfte in bar erfolgt, der Rest wurde der Garidans Holding GmbH gestundet, wobei 18 Prozent Zinsen pro Jahr verrechnet wurden. Jedes Jahr überwies die Garidans Holding GmbH sämtliche Überschüsse an die O.E.U. Ltd., um die verbleibenden Raten zu begleichen.
Unser junger Mann war nicht dumm und er ahnte sofort, was hier gespielt wurde. Er durchsuchte alle beim Registergericht hinterlegten Schriftstücke, zu denen in diesem Fall der notariell beglaubigte und beurkundete Akquisitionsvertrag gehörte (15 Tage Wartezeit). Als er die Abschrift in den Händen hielt, las er sie sorgfältig durch. Das kostete ihn keine fünf Minuten: Das 840 Millionen Franken Abkommen war lediglich zwei Seiten lang. Beim zweiten Durchlesen wurde er stutzig, legte das Papier weg und Tränen stiegen ihm in die Augen. Es waren keine Schmerzen, die ihn durchströmten, nur unbeschreibliches Glück. Er lachte zunehmend hysterischer, tränenüberströmt, das Gesicht gerötet. Der Vertrag war abgeschlossen zwischen Garidans Holding GmbH und O.E.U. Ltd., ausgeschrieben ‚Ossis Enrichment Un Limited‘. Sie ahnen, was kommt, nehme ich an?"
Die Frage war nicht rhetorisch gemeint. Die lange Eröffnung, die ganze Historie hatten auf diesen Moment hin abgezielt. Es war die Prüfungsfrage, die mein weiteres Leben verändern würde. Ich zögerte nicht und antwortete:
"Ihr junger Mann hätte, wenn er sich nicht sicher wäre, um Amtshilfe in Grand Cayman angesucht. Ohne richterlichen Beschluss wären die Erfolgsaussichten niedrig gewesen. Diesen hätte er in Anbetracht der Faktenlage erwirken können, doch wäre sein Plan dadurch gefährdet worden. Viel eher hätte er einen kleinen Aktenvermerk geschrieben und den einer laufenden Akte beigefügt, die seine Kollegen im Falle seiner Abwesenheit bald öffnen hätten müssen. Mit dem Geschäftsführer der VEB Staub-Weg hätte er einen dringenden Termin vereinbart, ohne den Inhalt zu verraten. Diesmal wäre er mit dem Mercedes gefahren und hätte laut und prollhaft vorher im Gasthaus im Ort ein Bier getrunken. Jedem, der es nicht wissen wollte, hätte er erzählt, wer er sei und was für ein toller Hecht er wäre. Den Geschäftsführer des VEB könne er trotz seiner Jugend herumkommandieren. Ganz Bilderbuch-Wessi, nur um jedem im Gedächtnis zu bleiben."
"Bravo, genauso war es. Nach seinem peinlichen, leider erforderlichen Auftritt in der lokalen Kneipe fuhr er zum VEB und parkte den Wagen so sichtbar und unpraktisch wie möglich. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand zu ihm in die Sitzung käme, um ihn aufzufordern, das Auto an eine andere Stelle zu fahren. Dies war seine Sollbruchstelle im Gespräch, seine Möglichkeit, lebend zu entkommen, wenn der Manager unvernünftig wäre.
Nachdem unser junger Mann dem Werkleiter die Geschehnisse der letzten Jahre auf den Kopf zugesagt und einen Vorschlag gemacht hatte, dachte dieser nach. Er ging zu seinem Schreibtisch und drückte auf den Knopf seiner steinzeitlichen Gegensprechanlage. Seiner Sekretärin trug er auf, fünf weitere Kollegen zu holen. Denen erzählte er von dem vorhergehenden Gespräch und fügte hinzu: "Ich hätte ihn hinausschicken können, um mit euch alleine zu sprechen, doch das ist Zeitvergeudung. Früher oder später wird er herausfinden, dass Ossis Enrichment Un Limited uns gehört. Vielleicht hätte es ein bisschen länger gedauert, wenn wir einen anderen Namen gewählt hätten, geändert hätte es nichts. Von den 840 Millionen Franken haben wir 700 Millionen bekommen und unser junger Freund ist nicht abgeneigt, uns den Rest zu zahlen. Das sind insgesamt 140 Millionen pro Kopf, fast 200 Millionen D-Mark (das war vor der Euro Einführung). Steuerfrei, wie ihr wisst.
Wir haben ein paar Möglichkeiten:
1) Wir sagen ihm ‚Danke, aber danke nein‘. Dann geht er zur Polizei und wir haben die Wahl zwischen Gefängnis und Grand Cayman. Das restliche Geld bekommen wir in dem Fall nicht mehr. Kein Aufwärts- doch viel Abwärtspotenzial. ‚Danke nein‘ gilt auch für mich.
2) Wir bringen ihn um. Schaut nicht so schockiert, natürlich ist das eine Möglichkeit. Wir sind zu sechst und er hat, glaube ich, keine Waffe. Wenn es funktioniert, bekommen wir nicht nur die 840 Millionen, sondern behalten die Firma, die wir um einen Bettel von seinem Nachfolger bei der Treuhand kaufen können. Nachteil: Wir sind Mörder und könnten ertappt werden. Bei sechs Leuten ist das Risiko, dass einer umfällt, groß. Ganz dumm kommt mir der Genosse nicht vor, also wird er zu Hause eine Nachricht über diesen Termin hinterlassen haben. Kurzgefasst: Finanziell können wir viel gewinnen und alles verlieren. In meinem Fall ist es klar: Der Unterschied zwischen einem Vermögen von 140 oder 280 Millionen ist definitiv keinen Mord wert.
3) Wir gehen auf seinen Vorschlag ein. Er bekommt eine Kaufoption für den VEB Staub-Weg, die er von uns für unseren Kaufpreis plus 10 Prozent erwerben kann. Gleichzeitig bekommt er von uns eine Finanzierungszusage für den Kaufpreis, rückzahlbar innerhalb von zwei Jahren. Wir verpflichten uns als Team, 12 Monate ab Eigentumserwerb durch ihn als Manager tätig zu bleiben. Im Gegenzug honoriert er den bestehenden Vertrag zwischen O.E.U. und Garidans Holding und zahlt die noch offenen 140 Millionen Franken nach Ablauf der 12 Monate. Die O.E.U. schüttet ihr Kapital an ihre sechs Aktionäre wie geplant zu gleichen Teilen aus. Jeder von uns kann sich danach auf das Altenteil zurückziehen. Die Sache ist klar für mich: Das ist der beste Vorschlag.
Am Montag stelle ich Antrag auf Scheidung und überlasse meiner Frau großzügig meinen alten Wartburg. Die Plattenbau-Wohnung kann sie ebenso haben wie 2500 Mark Alimente im Monat. Ich lasse es mir in einem Jahr mit meinem Geld und ein paar braunen Schönheiten in Rio gut gehen. Dort kenne ich ein Luxushotel, da kommen nur die geilsten Weiber hin. Wäre das nichts für dich, Horst?"
Die geilen Weiber siegten. Eine Flasche armenischer Cognac wurde geöffnet, dann noch eine. Am Abend waren alle sich einig, dass sie am Montag zum Scheidungsrichter gingen und in einem Jahr begänne in Rio das wilde Treiben. Richtig dankbar waren Sie unserem jungen Mann am Ende, dass er sie gezwungen hatte, ihrem jetzigen Leben als heimliche Millionäre ein Ende zu setzen und den Reichtum bis zum Ende Ihrer Tage zu genießen. Sie konnten nicht wissen, dass dieses Ende wesentlich näher war, als sie erwarteten, aber das ist eine andere Geschichte.
Der Plan wurde fehlerfrei umgesetzt. Es gab keine Gegenofferte, unser junger Mann erstellte eine positive Evaluierung des Kaufangebots und eine Treuhand-Kommission zeichnete die Transaktion ab. Per 1. 1. 1995 war Garidans im Besitz unseres Helden, der kurz vorher seinen stillen Abschied von der Treuhand genommen hatte.
Garidans war schon zu diesem Zeitpunkt ein äußerst professionell geführtes Unternehmen, mit Sicherheit das profitabelste DDR-Unternehmen überhaupt. Wenn Sie heute über DDR-Erfolgsgeschichten nach der Wende lesen, wird Garidans nicht erwähnt. Der Grund ist einfach: 1995 verkaufte die VEB Staub-Weg ihre Beteiligung an der Garidans zum Buchwert an eine andere Grand Cayman Firma. Diese stand im Eigentum eines Unternehmens in Hongkong, das seinerseits einer liechtensteinischen Stiftung gehörte. Die VEB Staub-Weg ist mittlerweile ein unabhängiges Unternehmen und heißt Mitteldeutsche Assemblierungswerke. Garidans ist weiterhin der Hauptkunde. Ein Versuch, die Fertigung nach China auszulagern, war wenig erfolgreich. Die Produktionskosten eines Staubsaugers sind so gering, dass der Aufwand der Qualitätskontrolle die Einsparungsmöglichkeiten weit übersteigt. ‚Made in Switzerland‘ steht trotzdem darauf, da die Wertschöpfung durch den Weiterverkauf sehr hoch und die Steuersätze in der Schweiz sehr niedrig sind.
Die Technologie ist Weltspitze, das Unternehmen ist führend in Artificial Intelligence, Fuzzy Logic und kybernetischer Robotik. Bei Garidans gibt es ein paar klare Vorgaben: Maximiere Handhabbarkeit, Reinigungskraft und Lebensdauer und minimiere Emissionen, Produktionskosten und Gewicht. Das Ergebnis ist ein perfekter Staubsauger. Es heißt, Steve Jobs sei ein begeisterter Garidans-Kunde gewesen und hätte unsere Modellpolitik als Vorbild bei der Neuausrichtung von Apple genutzt.
Wie verkaufen Sie ein perfektes Produkt? Ganz genau, sie vermeiden es. Sobald es in der Auslage steht, in der Online-Preisvergleichsmaschine auftaucht und das ihr primärer Kundenkontakt ist, haben Sie verloren. Das Produkt wird austauschbar und nur der niedrigste Preis zählt. Bei Garidans entwickelten wir daher sehr früh den Communitygedanken. Sie kaufen nicht nur ein perfektes Gerät, sie erhalten Zutritt zu einer anderen Welt, zur Garidans-Familie. Die Mitgliedschaft steht nicht jedem frei. Natürlich ist das Produkt im obersten Preissegment angesiedelt, rund drei Mal so teuer wie Vorwerk. Das ist viel Geld, trotzdem erschwinglich. Es entspricht in den meisten Märkten einem durchschnittlichen Monatsgehalt unserer Kunden. Wer möchte, kann sich das leisten. Zusätzlich bieten wir exzellente Finanzierungsoptionen für unsere finanziell schwächeren Familienmitglieder an; das ist angewandte Solidarität in der Garidans-Familie.
Wie bei anderen Familien können Sie nicht einfach beitreten. Sie werden uns nicht im Telefonbuch finden, selbst im Internet existiert fast kein Hinweis auf uns. Kein Händler führt unsere Produkte, Gebrauchtgeräte können Sie ebenfalls nicht erwerben. Ersatzteile werden nur an zertifizierte Familienmitglieder ausgeliefert. Im Fall des Ablebens eines Garidans-Besitzers bieten wir dem Erben großzügige Rückkaufvereinbarungen an. Die einzige Möglichkeit zur Familienmitgliedschaft ist die Adoption.
In Ihrem Fall hat Sie Frau Malowas vorgeschlagen. Sie ist ein einfaches Familienmitglied mit dem Rang eines minderjährigen Kindes. Sie kann Vorschläge zur Adoption machen, nicht mehr. Zur Evaluierung aller Kandidaten organisierten wir die Informationsveranstaltung, zu der Sie eingeladen waren. Im Anschluss an die Präsentation gibt es gemütliche Cocktails, bei denen unsere Erwachsenen mit den Adoptionswerbern zwanglosen Kontakt aufnehmen. Wenn das Gespräch positiv war, vereinbaren wir einen weiteren Termin unter vier Augen, bei dem die Entscheidung fällt. Wenn sie positiv ist, übernimmt der dabei anwesende Erwachsene in Zukunft die Rolle des Adoptivelternteils. Das neue Familienmitglied beginnt im Rang eines Neugeborenen. Ein Neugeborener kann niemanden vorschlagen und muss sich erst im Familienkreis bewähren. Wenn eine Familie zu groß wird, zieht ein Teil der Familie aus und sucht sich ein neues Zuhause. Dabei stehen die Eltern großzügig mit Rat und Tat zur Seite. Eltern sind Erwachsene, die einen großen Teil ihrer Zeit mit der Erziehung ihrer Kinder verbringen. Das kann - muss aber nicht - eine Ganztagesbeschäftigung mein."
"Sind Sie ein Vater?"
"Nein, ich bin ein Onkel, ich stehe beratend zur Seite. Tatsächlich – und hier biegen wir die Familienanalogie ein wenig – bin ich ein Diplom-Onkel. Ich war auf einer internen Akademie und nach Absolvierung meiner Ausbildung wurde ich ein Onkel."
Der junge Mann schwieg und blickte Ovid wieder an:
"Sie sind zwar kein Akademiker, dennoch könnte ich Sie mir als Onkel vorstellen."
Ovid dachte nach und nickte: "Ich auch."
"Dann werde ich Frau Malowas informieren und ihr sagen, dass sie bis auf Weiteres im Krankenstand sind. Eines unserer Familienmitglieder wird Ihr eine ärztliche Bestätigung geben, da kümmere ich mich darum. Packen Sie Ihre Koffer, morgen früh geht es los. Nehmen Sie Kleidung für mehrere Klimazonen mit, Ihre Ausbildung wird Sie an mehrere Stationen führen."
"Wann werde ich wieder zurückkommen?"
"Das kann dauern. Ihrer Frau sollten Sie noch nichts von Ihrer beruflichen Veränderung erzählen. In Ihrem Fall ist eine Dienstreise wenig glaubwürdig