Die klassische Literatur Koreas
Die koreanische Nationalliteratur ist in folgende Epochen unterteilt:
1. Klassische Literatur (von ihrer Entstehung bis zur Öffnung Koreas in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts).
2. Neue Literatur bzw. Neuer Roman (von den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bis 1918).
3. Moderne Literatur (von den 20er Jahren bis 1945).
4. Gegenwartsliteratur (von 1945 bis heute).
In Korea, in dem bis 1446 die chinesische Schrift als das einzige Ausdrucksmittel gedient hatte, hat es zwar zuvor Blütezeiten der Literatur gegeben, aber die Dichtung in chinesischer Schrift, wie hervorragend sie auch immer gewesen sein mag, gilt im Korea der Gegenwart nicht als die Nationalliteratur; das bedeutet, daß die Nationalliteratur Koreas im wahrsten Sinne des Wortes nur solche literarischen Werke umfaßt, die in koreanischer Schrift geschrieben worden sind, oder zumindest koreanisch in Verbindung mit chinesischen Schriftzeichen abgefaßt worden sind. Während die Lyrik unter dem Einfluß der konfuzianischen Ethik meist durch vornehmen Stil geprägt war, hatte die Prosaliteratur starke Züge der volkstümlichen Dichtung.
Hier seien ein paar Worte zu der genannten koreanischen Schrift, urspr. Hunmin Jŏngŭm, heute einfach Hangul genannt, erlaubt; dieses „Wunder" ersten Ranges in der koreanischen Kulturgeschichte ereignete sich während der Regierungszeit des mittlerweile über die koreanischen Grenzen hinaus bekannten Königs Sejong (Regierungszeit 1419-1450). Eine Gruppe von Wissenschaftlern arbeitete im Auftrag des Königs ein völlig neuartiges Schriftsystem aus, das im Gegensatz zur chinesischen Schrift der koreanischen Lautung voll gerecht war; es handelt sich dabei um eine Alphabetschrift aus 28 Buchstaben, nämlich 11 Grundvokalen und 17 Grundkonsonanten, die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten zu Silben zusammengesetzt werden[1]. Dieser herausragenden Schrift wurden nicht nur phonetisch-phonologische Kriterien, sondern auch philosophische Gesichtspunkte zugrundegelegt.
Nach ihrer Veröffentlichung verfügte das koreanische Volk über ein eigenes Ausdrucksmittel, das auch einfache Menschen ohne Schwierigkeiten erlernen konnten. Damit wurde zum ersten Mal in der koreanischen Geschichte die Grundlage für eine Volksliteratur geschaffen; denn die Koreaner waren, bis auf die Oberschicht, bislang von der literarischen Entwicklung weitgehend ausgeschlossen, abgesehen davon, daß die Legenden und Anekdoten von Generation zu Generation, von Mund zu Mund überliefert worden waren.
Die Aristokratie Koreas bediente sich auch nach der Erfindung des Hangŭl weiterhin der chinesischen Schrift, um ihre Prestigestellung nicht aufzugeben, und die Erzählungen, die in der Bevölkerung große Begeisterung hervorriefen, wurden von ihr als Sache des gemeinen Volkes abgetan.
Die neu entstandene volkstümliche Literatur war ausschließlich die Errungenschaft des einfachen Volkes, das in einer erzkonservativen konfuzianischen Gesellschaft bis dahin keine Möglichkeit gehabt hatte, sich schriftlich zu artikulieren. Es entdeckte alsbald eine literarische Welt und schuf sich somit einen Freiraum. Die Autoren übten in ihren Werken scharfe Kritik an der tradierten feudalistischen Gesellschaft und machten sich ohne Hemmungen, wenn auch manchmal in der Verkleidung der Ironie und des Humors, über die Mächtigen lustig. Daß sie meist anonym blieben, ist auf die Umstände zurückzuführen, daß die Autoren sich vor drohenden Gefahren schützen mußten. Hier bildet der Abenteuer- und Sozialroman „Die Geschichte von Hong Gildong" von Hŏ Giun (1569-1618) eine der wenigen Ausnahmen[2].
Die klassischen Erzählungen Koreas sind in verschiedene Gattungen zu unterteilen, in die Biographie, in den Sozial-, Liebes-, Abenteuer-, Familien-, Kriegs-, Geschichtsroman usw.
Die in diesem Buch vorgestellten vier Erzählungen, die nach koreanischem Begriff klassische Romane darstellen, gehören zu folgenden Gattungen:
1. Die Geschichte von Chunhiang: sozialkritischer Liebesroman,
2. Die Geschichte von Hŭngbu: moralistischer Roman,
3. Die Geschichte von Sim Chŏng: moralistischer Roman,
4. Die Geschichte von Hong Gildong: Abenteuer- bzw. Sozialroman.
Wie stark die gesellschaftskritischen Aspekte in den meisten der klassischen Romane Koreas auch ausgeprägt sein mochten, kann man doch eine Gemeinsamkeit nicht übersehen, nämlich die gute alte konfuzianistische Wertvorstellung und die buddhistische Lebensanschauung. Das bedeutet, daß die Werte selbst, die damals gesellschaftstragend waren, nicht in Frage gestellt wurden, sondern lediglich die Menschen, die als Vertreter dieser Gesellschaft diesen Prinzipien zuwider handelten.
Daß die klassischen Romane nicht in der gesprochenen Sprache, sondern in der Schriftsprache verfaßt worden sind, führte zu den Bemühungen der Autoren der Neuen Literatur Ende des 19. Jhs., als literarische die gesprochene Sprache einzuführen. Diese Versuche, die Kluft zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache zu überbrücken, führten nicht zu vollem Erfolg, so daß sie in die nachfolgende literarische Epoche hinein fortgesetzt werden mußten.
Die Eigenart der „Literatur der Moderne" (etwa von 1920 bis 1945) lag jedoch in den Bemühungen, die koreanische Literatur stilistisch und formal an die europäischen Literaturen anzupassen. So durchlief sie innerhalb eines einzigen Jahrzehnts, also in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts, die wichtigsten Epochen der europäischen Literaturen, wie Romantik, Naturalismus, Realismus, Symbolismus, Surrealismus usw.
In der zweiten Hälfte der 20er Jahre kam es zum Konflikt zwischen zwei Lagern unter den Schriftstellern, verursacht durch den wachsende Einfluß der sozialistisch orientierten Literatur der KAPF-Gruppe (Korea Artista Proleta Federatio). So formierten sich die Gegner der Proletarierliteratur, die sich gegen die Politisierung der Literatur zur Wehr setzten oder sich zum Nationalismus bekannten. Die KAPF-Bewegung fand jedoch durch die von 1931 an verstärkte Unterdrückungspolitik des japanischen Imperialismus ein jähes Ende — Korea stand von 1910 bis 1945 unter japanischer Besatzung. Nur die „l'art pour l'art"-Literatur vermochte diese Zeit zu überleben. „Guinhoe" (,Der Klub der Neun'), gegründet 1933, wurde zum Mittelpunkt des literarischen Geschehens. Auch die sogenannte „Literatur der Angst", die „Literatur des Zynismus" sowie die „Literatur des Surrealismus" prägten diese Epoche mit.
Als 1937 der Sinojapanische Krieg ausbrach, spitzte sich die Situation auf der koreanischen Halbinsel weiter zu; dennoch erfuhr die koreanische Literatur eine beträchtliche Bereicherung durch die heranwachsende Schriftstellergeneration: neben begabten Erzählern auch durch hervorragende Lyriker, die allein in der Zeit zwischen 1936 und 1941 vierundfünfzig Gedichtbände in koreanischer Sprache herausbrachten, obwohl die Koreaner von der Besatzungsmacht immer stärker unter Druck gesetzt wurden, auf ihre Muttersprache zu verzichten.
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erreichte die Unterdrückung ihren Höhepunkt; die meisten Literaturzeitschriften und sogar die Tageszeitungen mußten ihre Existenz aufgeben. Den nationalbewußten Schriftstellern blieb in den Kriegsjahren 1941-1945 nichts anderes übrig, als zu schweigen. Damit schloß das Kapitel der „Literatur der Moderne" in Korea ab.
Die Niederlage Japans brachte dem koreanischen Volk 1945 zwar die Befreiung, doch gleichzeitig auch die Teilung des Landes. Die unbeschreibliche Begeisterung über die Befreiung brachte die Nationalliteratur Koreas quantitativ wie qualitativ zur Blüte, vor allem in der Lyrik; aber der erbitterte Ideologiekampf spaltete auch die Schriftsteller in zwei Lager, sie suchten je nach Gesinnung ihre Heimat in Nord- oder Südkorea. Das Schlagwort, das den zum Sozialismus tendierenden Schriftstellern entgegengehalten wurde, lautete „l'art pour l'art".
Die literarische Welt Südkoreas war durch den Verlust eines Flügels ärmer geworden, und diese Armut verschärfte sich dadurch, daß weitere renommierte Schriftsteller während des Koreakrieges (1950-1953) in den Norden verschleppt wurden. Weder die freiwillig übergesiedelten noch die verschleppten Schriftsteller haben in Nordkorea ihr Glück gefunden; die meisten von ihnen sind entweder stumm oder verschollen geblieben.
Die Nachkriegsliteratur konnte sich jedoch von diesen Verlusten relativ schnell erholen. Hauptsächlich angeregt durch die Gründung der Akademie der Künste in der Republik Korea im Jahr 1954, entstanden so viele Literaturzeitschriften wie noch nie, was eine positive Entwicklung für die koreanische Literatur darstellte, da der Schriftstellernachwuchs traditionsgemäß in einer solchen Zeitschrift die Gelegenheit zum Debüt bekommt. Die Monatszeitschrift „Hiŏndae Munhag" (, Moderne Literatur'), das im Januar 1955 gegründete Organ der Schriftstellerprominenz, gab in den vergangenen dreißig Jahren mehr als 360 Hefte heraus, wobei in jedem einige junge Talente ihren Einstieg in die literarische Welt, auf koreanisch „Mundan", fanden.
Es ist selbstverständlich, daß in der Literatur der 50er Jahre die Kriegserlebnisse dominierten. Die Bewältigung des Koreakrieges, dieses grausamen Bruderkrieges, erfolgte nur langsam.
In den 60er Jahren, die durch die Studentenrevolte gegen die korrupte Regierung Syngman Rhees eingeleitet worden waren, trat eine neue Schriftstellergeneration zum literarischen Establishment hinzu, das stark von der Vergangenheit (der japanischen Besatzung und den Ideologiekämpfen nach 1945) geprägt war.
Diese zweite Generation in der Gegenwartsliteratur Koreas zeichnete sich durch erhöhtes Selbstbewußtsein und liberales Denken aus; so gerieten nicht wenige in Konflikt mit dem politischen System der Republik Korea von damals. Die verheißungsvolle Übergangszeit nach der Studentenrevolution wurde ein Jahr später (1961) durch einen Militärputsch abrupt beendet.
In den 70er Jahren erhielt die Gegenwartsliteratur neuen Auftrieb durch die dritte Schriftstellergeneration, die frei von Erinnerungen an den Koreakrieg ihren Idealen nachgehen konnte. Einerseits kam durch sie das Traditionsbewußtsein noch stärker zur Geltung, andererseits setzte sie sich mit transzendentalen Problemen auseinander, so auch mit religiösen Fragen, wobei nicht nur die tradierten Komponenten Beachtung fanden, sondern auch die christliche Weltanschauung. Damit verbinden sich harmonisch die gesellschaftskritischen Züge, die fast die gesamte Bandbreite der Literatur durchziehen.
Diese Entwicklung mündet in die 80er Jahre; nunmehr kommen die traditionellen Werte immer stärker zum Tragen, was als Zeichen für die Konsolidierung und Etablierung einer zeitgenössischen Nationalliteratur Koreas bewertet werden kann als Folge eines Prozesses der Besinnung und der Selbstfindung. Auch die Kritik an der seit den 60er Jahren blindlings vorangetriebenen Industrialisierung des Landes und das wachsende Umweltbewußtsein sind Erscheinungen, die häufig aus diesen Grundwerten heraus an die Oberfläche treten.
Trotz alledem dürfte hierbei das wichtige Faktum nicht vergessen werden, daß auch die Gegenwartsliteratur Koreas für die westlichen Literaturen immer aufgeschlossen gewesen ist - Autoren des Existentialismus wie Sartre, Camus, Kafka, des Nouveau roman und gar die Theorie des Strukturalismus begeisterten junge Schriftsteller - und bleiben wird, wodurch sie in der Weltliteratur ihren Platz findet.
Der Herausgeber darf den Leser auf die Sonderausgabe des Kulturmagazins „Korea" hinweisen, die der Gegenwartsliteratur Koreas gewidmet ist: Kulturmagazin „Korea", hrsg. von K. S. Kuh, Heft 5, Bonn 1984.
Der Herausgeber