Zur Regierungszeit des Königs Injo[3] in der I-Dynastie hatte I Dŭng, der Präfekt von Namuŏn in der Provinz Jŏnrado, einen Sohn namens Doriŏng. Mit sechzehn Jahren war sein Charakter wie Edelsteinschmuck in einer Krone, er besaß eine so stattliche Gestalt wie Du Mogji[4] und eine dichterische Begabung wie I Baeg[5]; es gab kaum jemanden, der ihn nicht lobte. Abgesehen davon, daß er morgens seine Eltern in ihrem Schlafzimmer aufsuchte, um sie nach ihrem Befinden zu fragen, blieb er in seinem Arbeitszimmer und lernte fleißig.
Es war eine schöne Jahreszeit. Allerlei Blumen waren aufgeblüht, und die Zweige der Trauerweiden hingen geschmeidig herab. Die gesamte Schöpfung, Pflanzen, Bäume und alle Lebewesen hatten Freude am Leben. Die Dachse bekamen verspätet Nachwuchs, die Kröten waren erleichtert nach dem Eierlegen, auf schönen Bergwiesen, die man im Winter angezündet hatte[6], sprossen nach einem nächtlichen Frühlingsregen die Triebe. Um das Haus eines zurückgezogen in Pension lebenden Gelehrten hingen grasgrüne Vorhänge. In grünen Wäldern hinter den Häusern riefen Nachtigallen ihre Artgenossen; Bienen und Schmetterlinge saßen, von Böen überrascht, auf blütenübersäten Stengeln, die hin und her wogten. Kurzum, es war eine Zeit im Frühling, in der die Frauen besonders empfindsam wurden; so packten junge Witwen im Licht des Mondscheins am frühen Morgen ihre Sachen und gingen fort.
Auch Doriŏng konnte seine Frühlingsstimmung nicht unterdrücken und rief Bangja[7], denn er wollte hinausgehen, um die Natur zu bewundern. Er fragte Bangja:
„Ich will einen Ausflug machen. Wo gibt es etwas zu sehen?"
Bangja antwortete: „Neben den acht Sehenswürdigkeiten in der Region Guandong[8] gibt es viele berühmte Orte, zum Beispiel Maeuŏldang in Haeju[9], der Chogsŏgru-Pavillon in Jinju[10], der Bubiŏgru-Pavillon in Piŏngiang[11], der Gangsŏnru-Pavillon in Sŏngchŏn[12] oder die Uolpa-Doppelburg in Hoangju[13], aber keiner von diesen wird den Anblick des Goanghanru-Pavillons in Namuŏn[14] an Schönheit übertreffen. Dieser Pavillon ist so berühmt, daß man ihn ein kleines Gangnam[15] nennt."
„Wenn alles stimmt, was du gesagt hast", sagte I Doriŏng, „müßte das der schönste Ort des Landes sein. Du sollst mich dorthin führen!"
I Doriŏng machte sich in Begleitung von Bangja auf den Weg. Unbekümmert schlenderte er die breite Straße entlang, angezogen vom Anblick der geschmeidigen Trauerweidenzweige und vom Frühlingswind.
Nachdem er eine Weile herumgewandert war, erreichte er den Goanghanru-Pavillon; er spazierte mit auf dem Rücken verschränkten Armen um den Pavillon herum und sagte zu Bangja:
„Diese Schönheit hier übertrifft wahrlich die der Bonghoangdae-Terrasse am Agiangru-Pavillon[16] und der Gosodae-Terrasse am Hoanghagru-Pavillon[17]!"
Bangja sagte schelmisch:
„Kein Wunder, daß die Götter ab und zu herunterkommen und sich hier amüsieren, wenn das Wetter schön ist und wenn sich Nebel und Wolken heben."
Zur gleichen Zeit war Chunhiang, eine Gisaeng aus der Stadt Namuŏn, dabei, sich festlich zu kleiden, um sich zum Gŭne-Spiel[18] zu begeben. Chunhiang bot einen schönen Anblick. Ihr Gesicht war ganz leicht in Frühlingsfarben geschminkt, ihre Augenbrauen waren in Form des Zeichens für acht[19] bemalt und wirkten wie ein blauer Berg; die weißen Zähne und die roten Lippen sahen so aus, als hätten sich Knospen an Pfirsichzweigen, angeregt durch den kühlen Tau, über Nacht in drei verschiedenen Farben halb entfaltet. Ihr gelöstes Haar, das schwarzen Wolken glich, hatte sie mit einem sichelförmigen Kamm mit dem Muster eines gekrümmten Drachens geschickt gekämmt; ihr Zopf, dick zusammengeflochten, hing hübsch herab.
Ihre gefütterte Jacke aus weißem Hanf war mit Goldplättchen besetzt; dazu trug sie eine purpurne Unterjacke aus chinesischer Seide, eine feinseidene Unterhose und darüber eine weitere Unterhose in Weiß. Über diese hatte sie einen Rock aus chinesischer Seide mit Paradiesvogelmuster und lauter feinen Falten gezogen. Zu dieser festlichen Kleidung trug sie eine Handtasche aus Seidenstoff, weiße Hanfsocken und purpurne, mit Stickereien geschmückte Schuhe. Vorn im Haar steckte eine schlichte Haarnadel mit Bambusknotenmuster, am Hinterkopf eine goldene Haarnadel mit einem Kopf in Gestalt eines Paradiesvogels.
An den Fingern Jaderinge, an den Ohren mondförmige Ohrringe, dazu schöne Schmuckstücke wie Parfümfläschchen in verschiedenen Formen, Korallenzweige, Schmuck aus Bernstein, ein kleines Schmuckmesser mit Fransen aus Goldfaden – all dies hing an ihrer Kleidung an verschiedenfarbigen Schmuckbändern, wie die hölzernen Schildchen, die die beiden Oberkommandierenden der Armee beim Einsatz der Truppen trugen, oder wie der lederne Pfeilköcher der Regionalkommandanten.
So reich geschmückt, machte sich Chunhiang auf den Weg; sie stieg auf einen steilen, grünen Berg, wobei sie Blüten abstreifte, um sie sanft auf das klare Wasser des sich windenden Bächleins zu werfen. Dann hob sie Kiesel am Bächlein auf, die sie zwischen die Zweige einer Weide warf, worauf eine Nachtigall erschrocken aufflog. Trug nicht auch das zur Schönheit der Landschaft bei?
In guter Laune stieg sie den Berg weiter hinauf bis zur Schaukel und ergriff die unendlich langen Schaukelseile mit ihren feinen, weichen Händen, um sie festzuhalten; dann begann ihr Flug durch die Luft. Ein Stoß nach vorn, ein weiterer nach hinten, so stieg sie immer höher, wobei sie mit ihren beiden, in weißen Socken steckenden Füßen den herabhängenden Pfirsichzweigen voll prachtvoller Blüten leichte Tritte gab, so daß die Blütenblätter umherflogen. Die hintere Haarnadel, deren Kopf die Gestalt eines Paradiesvogels hatte, fiel mit hellem Klang auf einen breiten Felsen. Trug das nicht auch zur Schönheit der Landschaft bei?
Während Chunhiang schaukelte und spielte, wanderte Doriŏng um den Goanghanru-Pavillon herum und betrachtete die Landschaft; dabei versuchte er, sich auf vergessene Verse zu besinnen. Auf einmal fiel ihm zwischen den Bäumen ein schönes Mädchen auf, das schaukelte, einmal hoch, einmal nieder. Von ihrer Gestalt bezaubert, rief er Bangja zu sich und fragte ihn:
„Was siehst du da drüben?"
„Sehen Sie etwas, Herr?" antwortete Bangja.
„Siehst du denn nichts da drüben? Eine Fee muß herabgestiegen sein."
Darauf antwortete Bangja: „Wo es keine Berge gibt, auf denen Götter wohnen, kann es unmöglich eine Fee geben."
„Was könnte das denn dann sein? Ist es vielleicht ein Goldstück?"
„Man sagt, daß Gold nur in Iŏsu[20] vorkommt. Wie kann es ein Goldstück sein, wo wir nicht in Iŏsu sind?"
„Was ist es denn sonst? Ist es vielleicht ein Edelstein?"
„Man sagt, daß Edelsteine nur in Gongang[21] vorkommen. Wie kann es ein Edelstein sein, wo wir nicht in Gongang sind?"
„Ist es dann eine wilde Rose?"
„Da wir nicht in Miŏngsa Sibri[22] sind, kann es unmöglich eine wilde Rose sein."
„Ist es dann ein Gespenst?"
„Hier ist doch kein Friedhof. Wie könnte es hier spuken?"
Doriŏng wurde zornig und sagte: „Was ist es dann, um Himmels willen?"
Erst da antwortete Bangja ernsthaft: „Das ist nichts anderes als Chunhiang, eine Tochter der Gisaeng Uŏlmae aus der Stadt."
„Welch ein Glück!" erwiderte Doriŏng. „Man darf sich also das Mädchen näher ansehen, wenn es von einer Gisaeng stammt. Hol sie her!"
Laut schnalzend brach Bangja einen Eichenzweig ab und fertigte daraus einen Stock an, nachdem er Ober¬ und Unterteil des Zweiges abgeschnitten hatte. Er nahm das dünne Ende als Handgriff, stürmte los und rief keuchend, die Hand vor der Stirn:
„He Chunhiang, he Chunhiang!"
Erschrocken stieg Chunhiang von der Schaukel und fragte:
„Hat mich jemand gerufen?"
„Beeilung, Beeilung! Komm schnell!"
Als Bangja sie auf diese Weise drängte, fragte Chunhiang:
„Du unverschämter Kerl, warum hast du mich so erschreckt? Was geht es dich an, ob ich schaukele oder nicht? Habe ich dir jemals erlaubt, Doriŏng zu verraten, ob ich Chunhiang heiße, Sahiang, Chimhiang, Gangjinhiang[23] oder was weiß ich?"
Darauf sagte Bangja: „Wenn du schaukeln willst, dann tu das besser mit mir, nur mit mir allein und an einem geheimen Ort. Habe ich dir etwa geraten, hier beim Goanghanru-Pavillon zu schaukeln, noch dazu an einem so auffälligen Berghang? Mein Herr Doriŏng, Sohn des Präfekten, ist zum Goanghanru-Pavillon gekommen, weil er die schöne Landschaft in der Umgebung bewundern will. Unterwegs hat er dich zwischen den Bäumen schaukeln sehen; er befahl mir dringend, dich zu ihm zu holen. Ich kann doch nichts dafür. Mein Herr Doriŏng verliebt sich halt leicht in eine Frau. Geh hin, mach ihn mit deinen duftigen Worten weich und verzaubere ihn. Laß deine weiblichen Reize spielen; dann wird die ganze Stadt Namuŏn dir gehören!"
Chunhiang ordnete ihr zerzaustes Haar und steckte die Haarnadel wieder in den Haarknoten, bevor sie Bangja folgte. Dabei suchte sie möglichst die ebenen Stellen auf dem Weg, hob mit den feinen, weichen Händen den Sommerseidenrock mit Paradiesvogelmuster ein wenig hoch und hielt ihn fest. Es war so, als kröche eine Schildkröte auf weißem Sand oder als schliche eine Riesenschlange auf dem Hauptbalken eines Palastes; sie beeilte sich, so daß sie ziemlich außer Atem geriet. Als sie schließlich vor den Stufen angelangt war und Doriŏng begrüßte, war dieser von ihr so hingerissen, daß seine Augen die Farbe änderten und seine Vernunft ins Wanken geriet. Er sagte zu Bangja, die Beine verschränkt:
„Du Bangja, sie darf mich nicht von unten begrüßen. Hol sie schleunigst auf den Pavillon herauf!"
Als Chunhiang widerwillig auf den Pavillon gestiegen war, setzten sich die beiden nach einer formellen Begrüßung gegenüber. Doriŏng fragte sie:
„Wie alt bist du, und wie heißt du?"
Chunhiang antwortete mit schöner Stimme: „Ich bin sechzehn Jahre alt, und ich heiße Chunhiang."
Doriŏng lächelte. „Ich freue mich, daß du genauso alt bist wie ich. Dein Name entspricht deiner Gestalt[24]. Du bist wunderschön. Du siehst aus wie eine Blüte der Winterpflaume im Mondschein, du bist wie ein Kranich oder wie eine Eule auf einem verfallenen Baum oder wie eine grüne Schwalbe auf einer Wäscheleine."
Er fragte sie weiter: „Wann bist du geboren?"
Chunhiang antwortete: „Ich bin in der Sommerzeit geboren, am achten Tag im vierten Monat nach dem Mondkalender; meine Geburtszeit war elf Uhr nachts."
Doriŏng lachte und sagte: „Du sagst, du bist im vierten Monat geboren; dann sind wir im gleichen Monat und im gleichen Jahr geboren. Das hat der Himmel so bestimmt. Nur schade, daß die Geburtstage und die Zeiten voneinander abweichen."
Doriŏng bot all seine Überredungsgabe und Verführungskunst auf:
„Ich erkläre dir, warum ich dich hierher gerufen habe. In Seoul habe ich im Frühling wie im Herbst, morgens und abends die aromatischsten Weine gekostet, ich meine, in unzähligen Gisaenghäusern; dort habe ich die schönsten Gisaengs kennengelernt und die Zeit mit Gesang und Tanz verbracht. Aber noch nie habe ich eine so schöne Frau gesehen wie dich. Ich bin so entzückt; es fällt mir schwer, mein Verlangen nach dir zu unterdrücken. Wir wollen uns eng miteinander verbinden und uns niemals trennen!"
Als Chunhiang dies hörte, senkte sie ihre Augen und sagte:
„Ich stamme zwar nur aus einer Gisaengfamilie, aber ich habe dem Himmel geschworen, niemals eine Konkubine zu werden. Wie groß mein Respekt vor Euch auch sein mag, ich kann Euren Wunsch nicht erfüllen."
Darauf erwiderte Doriŏng: „Wir werden keine normale Hochzeitszeremonie feiern können, aber ich will mit dir eine Ehe schließen und dir treu bleiben; widersprich mir nicht und heirate mich!"
Darauf antwortete Chunhiang: „Egal ob ich ja sage oder nicht, Ihr werdet bestimmt auch nach Seoul zurückkehren, wenn Euer Vater, der Herr Präfekt, dorthin versetzt wird. Ihr werdet ein Mädchen aus einer hohen Beamtenfamilie heiraten und mit ihr eine glückliche Ehe führen. Dann werdet Ihr mich, dieses Mädchen von niedriger Abstammung, vergessen, denn ich passe nicht zu Euch. Es hat also keinen Sinn, ich werde hinterher sowieso verlassen. Versucht mich zu überreden, soviel Ihr wollt, ich kann Euch nicht gehorchen."
Doriŏng wandte all seine Überredungskunst auf:
„Sagen wir, ein Unglück geschieht, und mein Vater kehrt in die Hauptstadt zurück, auch dann werde ich dich nicht verlassen. Ich werde dafür sorgen, daß du in einer Prachtkutsche fährst, selbst wenn meine Mutter in einer Trauersänfte fahren müßte. Mach dir keine Sorgen! Ein Mann aus einer Iangban-Familie[25] lügt nicht. Gib mir endlich dein Wort!"
„Wenn das so ist, bitte ich Euch, das niederzuschreiben, damit Ihr später daran erinnert werden könnt, wenn Ihr Euer Wort brechen solltet. Man sagt, was mit Tusche geschrieben ist, ist unveränderlich; auch die Behörden richten sich nach schriftlichen Unterlagen."
Doriŏng konnte seine Freude kaum unterdrücken. Er schlug sein Briefbogenheft auf, rieb den Tuschereibstein auf dem Tuschestein mit Drachenmuster[26], tauchte den Schreibpinsel mit Wieselhaar in die Tusche und schrieb, den Pinsel schwingend, in einem Atemzug nieder:
„Denkschrift, vom x. Tag, im x. Monat und im x. Jahr. Was ich in dieser Denkschrift niederschreiben will, ist folgendes: Ich war auf den Goanghanru-Pavillon gestiegen, um mir die schöne Landschaft anzusehen. Auf dem Weg dahin habe ich zufällig ein Mädchen getroffen, das durch den Himmel für mich bestimmt ist. Ich mußte sie lieben; daher habe ich ihr versprochen, sie zu heiraten. Falls mein Versprechen gebrochen wird, soll dieses Dokument als Anklageschrift dienen."
Chunhiang nahm das Schriftstück entgegen, faltete es mehrfach zusammen, steckte es in ihre seidene Handtasche und sagte:
„Es heißt, ein Wort fliegt zehntausend Meilen weit, obwohl es kein Bein hat. Wenn der Herr Präfekt durch eine Indiskretion von dem heutigen Ereignis erfährt, werde ich dem Tod nicht entgehen können. Ich bitte Euch, es nicht zu verraten."
Doriŏng lachte: „Ich weiß zwar nicht, ob der Herr Präfekt in seiner Jugend in Gisaenghäusern ein und ausging, aber ich weiß, daß er bei Bekannten mit deren Dienstmädchen verkehrt hat. Daher kann er es ruhig erfahren. Mach dir bloß darüber keine Sorgen!"
Nachdem sie sich so unterhalten hatten, fragte er sie:
„Wo wohnst du eigentlich?"
Da hob Chunhiang ihre feine Hand und antwortete:
„Wenn man über diesen und über jenen Hügel geht und um eine und dann noch eine Straßenecke biegt, kommt man an einen Ort, der von dichten Bambuswäldern umgeben ist. An diesem Ort, hinter einem Paulowniabaum, steht unser Haus."
Nachdem Doriŏng sich von Chunhiang verabschiedet hatte, kehrte er nach Hause zurück und trat in sein Arbeitszimmer. Er war so durcheinander, daß er sich kaum beruhigen konnte. Lustlos schlug er ein Buch auf, doch alle Zeichen und Worte verwandelten sich in den Namen Chunhiang. Aus einem Zeichen wurden zwei Zeichen und aus einem Wort zwei, so daß überall der aus zwei Zeichen bestehende Name Chunhiang stand. In dieser verwirrten Verfassung las er in diesem und jenem Buch herum.
Nach einer Weile redete er vor sich hin:
„Ich kann nicht weiterlesen. Alle Zeichen und Worte verwandeln sich in andere Zeichen mit völlig anderer Bedeutung. Was ich sehe, ist nur Chunhiang. Welche Sehnsucht habe ich nach ihr! Ich sehne mich nach ihr, als würde man sich nach einer siebenjährigen Dürrezeit nach dem Regen sehnen, als würde man sich nach einem neun Jahre andauernden Regen nach dem Sonnenschein sehnen. Was soll ich nur machen? Das ganze Haus ist voll von Chunhiang! Was soll ich nur machen? Ich sehne mich so sehr nach ihr. Ich möchte sie so gern sehen, wenn auch nur für einen Augenblick."
Unruhig drehte er sich hin und her, ohne zu wissen, daß er die ganze Zeit laut gesprochen hatte.
Auch der Präfekt, der sich in seinem Büro aufhielt, erfuhr davon; er rief einen Diener und sagte:
„Lauf sofort zum Arbeitszimmer des jungen Herrn und bring heraus, warum er keine Bücher liest, sondern nur sagt, er möchte jemanden sehen."
Als der Diener dies vor Doriŏngs Arbeitszimmer vortrug, antwortete dieser:
„Sag dem Herrn, daß ich nichts anderes sehen möchte als das Kapitel 'Der siebte Monat' aus der Gedichtsammlung 'Shi-ching'" [27].
Er hörte jedoch auch weiterhin nicht auf zu klagen:
„Ich möchte so gern sehen ...".
Schließlich rief er Bangja zu sich und fragte ihn:
„Wie hoch steht die Sonne?"
„Die Sonne hat erst die Mitte des Himmels erreicht", antwortete Bangja, wobei er zum Himmel zeigte.
Doriŏng jammerte vor sich hin: „Gestern ist der Tag so schnell vergangen, als wäre er nach vorn geschubst worden; heute aber vergeht er so langsam, als wäre er gefesselt. Dieser Tag meint es nicht gut mit mir."
Als Bangja schließlich das Abendessen brachte, sagte Doriŏng:
„Ich pfeife auf das Essen; sag mir lieber, wieviele Stunden es noch bis zum Sonnenuntergang dauert!"
„Die Sonne ist bereits im See versunken. Der Mond ist eben über dem Berg im Osten aufgegangen", antwortete Bangja.
Doriŏng wartete, bis der Präfekt die Kerze löschte, um schlafen zu gehen; dann kletterte er im Schutz der Dunkelheit über die Mauer und ging in Bangjas Begleitung auf Zickzackwegen in die Richtung von Chunhiangs Haus.
Zur gleichen Zeit öffnete Chunhiang in der Einsamkeit, die sie umgab, das mit Seide bespannte Fenster zur Hälfte. Darauf zog sie auf das Gŏmungo[28] aus Paulowniaholz drei Saiten auf; sie legte das Zupfinstrument auf ihr Knie, spielte darauf einige Melodien und sang dazu. Während sie auf diese Weise stimmungsvoll auf dem Gŏmungo spielte, rief Bangja vor dem Haus nach ihrer Mutter. Diese ging hinaus und erschrak, als sie den jungen Herrn erblickte.
„Was ist denn los, Bangja? Mach, daß du fortkommst! Wenn der Herr Präfekt davon erfährt, sind wir, Tochter und Mutter, so gut wie tot."
Doriŏng trat vor: „Keine Sorge. Laß mich ein!"
Hinterlistig, wie sie war, schmiedete Chunhiangs Mutter insgeheim einen Plan.
„Wie der junge Herr wünscht; aber nur für einen Augenblick!"
Sie folgte Doriŏng ins Haus.
Chunhiangs Haus war ein prachtvoller viereckiger Bau mit einem Innenhof. Das große Haustor zwischen hohen Pfeilern, zwei innere Tore, ein Damenflügel und ein Dienerschaftsflügel standen wohl angeordnet da. In den Wänden gab es viele Fenster, dahinter luxuriöse Einbauschränke; eine riesige Halle mit Holzboden, ein großes Familienzimmer[29], ein geräumiges Hinterzimmer, ein kleiner Abstellraum, ein kleiner Wirtschaftsraum, große hochklappbare Türen vor der Halle[30], ein runder Dachbalken, breite Dachtraufen in Fächerform und Ornamente für die Pfeiler - alles war ordnungsgemäß vorhanden. Fenster mit Muster[31] und Schiebefenster mit geschnitztem Chrysanthemenmuster - alles war prachtvoll. Die geräumige Küche, eine noch geräumigere Scheune, ein großer Pferdestall - alles war großartig. Die Tapeten mit einem Muster aus weißen Blumen waren mit blauem Blumenmuster umrandet. Der mit schönem, starkem Ölpapier belegte Fußboden, die Decke aus Holzmosaik, die Fußbodenumrandung aus chinesischem Ölpapier - alles war bestens eingerichtet.
Die Bilder und Kalligraphien an den Wänden waren lauter Meisterwerke bekannter Künstler. Auf einem Gemälde an der Ostwand war der chinesische Dichter Do Iŏnmiŏng[32] abgebildet, wie er, nachdem er es abgelehnt hatte, eine Präfektur zu übernehmen, in einem Boot auf einem herbstlichen Fluß nach Samiang[33] ruderte; der Vollmond bezauberte ihn, und es wehte eine frische Brise. Ein Bild an der Westwand stellte Iu Hiŏndŏg aus der Herrscherfamilie des Han-Reiches dar, wie er in der unruhigen Zeit, als die Drei Reiche[34] sich bekämpften, auf einem roten Pferd mit ernster Miene eilig zu Jegal Gongmiŏng[35] ritt, der die kritische Zeit in einer Grashütte in Namiang verbrachte. An der Südwand war der Gangtaegong[36] abgebildet, der die achtzig Jahre seines Lebens so arm war, daß er am See Uisu[37] mit einer Angelrute ohne Schnur und Haken, den Sonnenhut aus Schilfrohr tief über der Stirn, beim Angeln saß, wobei er auf den Ruf von König Munoang aus dem Chou-Reich[38] wartete. An der Nordwand betete Sŏngjin[39], ein Jünger des Priesters Iuggoan, mit gefalteten Händen, nachdem er auf einer Steinbrücke im Frühlingswind acht Feen getroffen und darauf seinen Stock mit sechs Ringen hoch in die weißen Wolken geworfen hatte.
Ein Bild in einem Rahmen im Querformat zeigte Pfirsiche, die den Menschen Unsterblichkeit verleihen sollten, und zehn langlebige Pflanzen und Wesen[40]. Auf die Küchentür waren acht Götter in einer Reihe gemalt. Auf dem Scheunentor stand der Spruch geschrieben: „Wieviel man auch nehmen mag, es geht durch den Verbrauch nimmer aus." Über der Zimmertür hing eine Kalligraphie mit folgenden Sätzen: „Die Eltern mögen tausend Jahre leben, der Nachwuchs stets gedeihen, der Regen pünktlich fallen, der Wind zur rechten Zeit wehen. Im Lande herrsche Frieden, und es gebe gute Ernten."
Waren die Bilder von Ulji Giŏngdŏg[41] und Jin Sugbu[42] am Haustor beim Amt für Gemälde und Kalligraphien bestellt worden? Über der Tür hing ein Rahmen im Querformat; darin stand geschrieben: „Der Frühling ist vor dem Tor angekommen; mögen sich Würde und Reichtum des Hauses vermehren."
Hinter dem Haus stand ein Bergpavillon, vor dem Haus war ein Lotusteich angelegt. Auch eine Treppe aus einheitlich behauenen Steinen war dort gebaut worden. Auf dem Wasser schwammen paarweise Wasserenten, tellergroße Goldfische tauchten zur Wasseroberfläche auf und schwammen hin und her.
Was das dreistufige Blumenbeet betraf, so standen auf der östlichen Seite weiß aufgeblühte Winterpflaumenbäume, im Westen weiße und im Süden rote Chrysanthemen, auf der östlichen Seite feine Bambusbäume; in der Mitte gab es gelbe Chrysanthemen, alte und flachwachsende Kiefern, wilde Rosen in verschiedenen Farben, japanische und koreanische Azaleen, Granatapfelbäume, Trunkelbeeren, Palmen, Päonien, Pfingstrosen, Jasmin, Kamelien, Frühlingspflaumen, Zwergpflaumen, Weinstöcke, schöne Iŏngsanhong[43] und Baegilhong[44] mit einem schönen Namen, Bongsŏnhoa[45], die schönen Frauen ähnelten, Blätter von hohen Bananenstauden, duftende Wildchrysanthemen, herabhängende Taglilien, Mohnblumen, die den Namen der Geliebten eines Tang-Kaisers trugen[46]- all dies stand hier und dort.
Zum Hausinventar gehörten schöne Schränke für Kleidung und Decken, zierliche Nachtschränke, Truhen mit Perlmutteinlagen, Kommoden, japanische Spiegeltische, japanische Kleintruhen, Kleiderhaken, Bücher, hölzerne Kopfunterlagen, Tuschesteingarnituren, Reisetruhen, Kammhalter mit dem Muster zweier sich gegenüberstehender Paradiesvögel, Briefhalter, Drachenköpfe, Fasanenschwanzbesen, tragbare Kohlebecken aus Bronze[47], Kerzenständer aus Messing, Ständer für Öllampen, Nachttöpfe aus Porzellan, Spucknäpfe, Aschenbecher - alles war paarweise aufgestellt.
Zweiteilige Anrichten, Eßtische mit doppelten Aufsätzen, Reistruhen aus Ulmenholz, Kleidertruhen, farbig bemaltes Porzellangeschirr aus China, Schalen aus Sŏsan[48], Teller aus Dongrae[49], Teller mit einem dünnen Ständer, Krüge mit aufgemaltem Drachenmuster - stammten alle diese Meisterwerke aus der Hoftöpferei und war das alles vom Amt für höfische Empfänge ausgesucht?
Indessen trat Chunhiang auf. Nachdem sie im Zimmer Platz genommen hatte, begrüßte sie den Gast höflich und bot ihm Wein und Beilagen an. Auf dem Eßtisch fehlte nichts an Leckerbissen und verschiedenen Weinsorten, an schönem Geschirr und Flaschen. Sie mischte verschiedene Weine, füllte mit dieser Mischung eine kleine Weinschale und eine Muschelschale und bot diese Doriŏng an; dann sagte sie zu ihm:
„Trinkt aus der Schale mit der Aufschrift 'Langes Leben' den von Bulrocho[50] hergestellten Wein! Wenn Ihr eine Schale Wein getrunken habt, werdet Ihr so lange leben wie Namsan[51]. Wenn Ihr diese Gelegenheit nicht wahrnehmt, könnt Ihr das nie wiedergutmachen. Ist man einmal gestorben, wird niemand einem Wein anbieten. Also wollen wir die Freude auskosten, solange wir leben."
Angeheitert bat Doriŏng Chunhiang zu singen. Sie sang:
„Siehst du nicht, daß das Wasser des Gelben Flusses aus dem Himmel strömt; erreicht es einmal das Meer, kommt es nicht mehr zurück. Siehst du nicht, daß man in einem stattlichen Haus vor dem Spiegel sitzt und das graue Haar beklagt? Am Morgen hatte es noch schwarzen Fäden geglichen, am Abend ist es bereits schneeweiß geworden. Wer die Bedeutung des Lebens begreift, koste die Freude am Leben aus. Das goldene Faß soll nicht unberührt unter dem Mond stehen!"
„Wir wollen uns amüsieren, solange wir noch jung sind; wenn wir alt sind, können wir das nicht mehr. Die Blumen können nicht länger als zehn Tage blühen, und der Mond beginnt gleich wieder abzunehmen, wenn er voll ist. Das Leben ist ein Frühlingstraum, daher wollen wir uns ..."
Doriŏng war so berauscht, daß er unverständliche Worte vor sich hin plapperte; diese wiederholte er noch und nörgelte ohne Grund herum. Es fing bereits an zu dämmern.
Verlegen sagte Chunhiang: „Der Mond ist schon untergegangen, es ist tiefe Nacht. Wollt Ihr nicht schlafen gehen?"
Doriŏng freute sich darüber, doch jeder der beiden forderte den anderen auf, sich als erster auszuziehen. Schließlich sagte Doriŏng:
„Ich bin zwar betrunken, aber es wäre schade, einfach schlafen zu gehen. Ich will alte Verse und Sprüche zitieren."
Nachdem er Wein aus einer neuen Schale getrunken hatte, sammelte er in seinem Kopf altbekannte Reime:
„Daß wir uns getroffen haben, ist eine gute Sache, Punkt. Daß wir uns gegenübersitzen, ist eine schöne Sache, Punkt. Daß wir uns für das ganze Leben Liebe und Treue versprochen haben, ist eine erfreuliche Sache, Punkt. Da in tiefer Nacht niemand außer uns da ist, wollen wir uns ausziehen, Punkt. Es gibt nur ein Kopfkissen für uns zwei; das bedeutet, daß wir uns zusammen hinlegen sollen, Punkt. Da aus zwei Körpern ein Körper werden soll, wollen wir uns umarmen, Punkt. Da zwei Münder sich berühren, ist es schön, Punkt. Ich blicke an dir herunter und du an mir, und wir lachen, Punkt. Mir ist schwindlig, der Boden schwankt unter mir."
So rezitierte er eine Weile stimmungsvoll; er wollte mit dem Wortspiel gar nicht aufhören. Chunhiang stand ihm darin nicht nach, und so setzten sie dieses Spiel abwechselnd fort.
Nachdem sie sich auf diese Weise amüsiert hatten, schlich sich Doriŏng bei Tagesanbruch nach Hause zurück. Wenn es dunkel wurde, machte er sich wieder auf den Weg, um am darauffolgenden Frühmorgen heimlich den Rückweg anzutreten. So vergingen viele Tage.
Zu dieser Zeit erfuhr der König in Seoul von den Verdiensten des Präfekten in Namuŏn und ernannte ihn zum Innenminister. Als der Präfekt die Ernennungsurkunde erhalten hatte, legte er einen Abreisetermin fest. Er rief Doriŏng zu sich und befahl ihm:
„Du sollst deine Mutter nach Seoul begleiten! Ich habe hier noch einiges zu erledigen."
Als Doriŏng dies hörte, war seine Verzweiflung unbeschreiblich; die Antwort blieb ihm vor Trauer beinahe im Hals stecken. Er begab sich in das Innengebäude der Präfektur und tat so, als bereitete er sich auf die Abreise vor; tatsächlich aber schlich er gleich wieder hinaus und begab sich geradewegs zu Chunhiangs Haus.
Chunhiang lief ihm entgegen. Als sie eifuhr, was geschehen sollte, faßte sie seine Hände und brach in lautes Weinen aus. Sie schlug sich mit der Faust auf die Brust und klagte:
„O weh, welch ein Unglück! Wie traurig ich bin! Also steht der Abschied fest. So eine Trennung erlebe ich zum ersten Mal in meinem Leben; ich bin ganz sicher, daß ich Euch nie wiedersehen werde. Ich habe gehört, daß jeder Abschied mit Trauer verbunden i