Koreanische Literatur: Ausgewählte Erzählungen Band 1 by HŎ GIUN et al. - HTML preview

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Die Geschichte von Sim Chŏng




Um die Sŏnghoa-Jahre[107] lebte im Kreis Namgun im Ming- Reich ein namhafter Gelehrter; sein Familienname lautete Sim, sein Eigenname Hiŏn.

Er stammte zwar aus guter Familie, doch legte er selber keinen großen Wert auf Reichtum und Karriere; er gab sich lediglich als über das Alltägliche erhabener Gelehrter aus.

Seine Frau, eine gebürtige Jŏng, war die Tochter einer Iangban-Familie[108] und von anständiger Natur; sie war überdies schön und hatte während ihrer zehnjährigen Ehe niemals eine schlechte Behandlung erfahren.

Das einzige Problem des Ehepaars war, daß es nicht mit Kinderglück gesegnet war; darum saßen sich die Eheleute häufig traurig gegenüber.

Eines Tages jedoch geschah es, daß die Ehefrau einen Schwangerschaftstraum[109] hatte; in dem Monat wurde sie tatsächlich schwanger, und zehn Monate später brachte sie ein Kind zur Welt. Zwar war das Ehepaar enttäuscht, daß es kein Sohn war, aber es freute sich darüber, daß das Mädchen ungewöhnlich hübsch war. Liebevoll gaben sie ihm den Namen Chŏng sowie den Beinamen Mongsŏn und betrachteten es als wertvollen Schatz in ihrer Hand.

Als Chŏng allmählich heranwuchs und drei Jahre alt wurde, war sie noch schöner, unvergleichlich klug und voller Pietät ihren Eltern gegenüber; deshalb erhielt sie von den Nachbarn und Verwandten reichlich Lob.

Dann jedoch starb die Ehefrau nach einer Krankheit, wie es seit alten Zeiten üblich ist, daß auf Glück ein trauriges Los folgt. Herr Sim setzte seine Frau in einer feierlichen Zeremonie in großer Trauer bei und hörte nicht auf, Tag und Nacht, seine kleine Tochter im Arm, den Tod seiner Frau zu betrauern. Chŏng suchte nach der Mutter und weinte; die mitleiderregende Lage von Vater und Tochter war kaum mitanzusehen.

Überdies verarmte Herr Sim zusehends und konnte schließlich wegen immer häufigerer Krankheiten das Krankenbett nicht mehr verlassen. Nicht nur das, er zog sich noch ein Augenleiden zu und wurde innerhalb weniger Monate völlig blind, so daß er nicht einmal Dinge dicht vor seinen Augen erkennen konnte.

Die Folge war, daß sich der Zustand des Haushaltes weiter verschlimmerte; sämtliches Hab und Gut mußte verkauft werden, damit die beiden auch nur notdürftig überlebten, auch wenn sie sich niemals satt essen konnten.

Als Chŏng größer wurde und ein gewisses Alter erreichte, war sie unglücklich wegen ihres Vaters, der hungern mußte, und ging in den Dörfern betteln. Dreimal am Tag gab sie ihrem Vater auf diese Weise etwas zu essen; die Dorfbewohner empfanden Mitleid mit ihr und waren nicht kleinlich, wenn es darum ging, ihr zu helfen.

Eines Tages war Chŏng noch nicht nach Hause gekommen, obwohl es schon ziemlich spät war. Gleichermaßen von Hunger und von Sorge um seine Tochter getrieben, schleppte sich der alte Sim mit Hilfe eines Stocks, die Schuhe schleifend, an das Haustor, lehnte sich daran und wartete. Schließlich tapste er aus dem Haustor heraus. Dabei strauchelte er und fiel in eine Grube, in der er sich kaum bewegen konnte; er befand sich in einer lebensgefährlichen Situation.

Da kam ein alter Mönch vorbei. Als er ihn sah, holte er ihn aus der Grube heraus und fragte:

„Wo wollten Sie trotz Ihrer Blindheit denn hin? Nun ist Ihnen dabei auch noch etwas zugestoßen!"

Der alte Sim heulte laut.

„Ich bin blind", antwortete er, „und habe mich ohne nachzudenken auf die Suche begeben, weil mein Kind nicht nach Hause gekommen ist. So bin ich in diese lebensgefährliche Lage geraten; ich habe Ihnen unendlich zu danken, daß Sie mich gerettet haben."

Der alte Mönch sprach: „Ich bin ein Bettelmönch aus dem Gaebŏbdang-Tempel in der Gemeinde Unsimdong auf dem Miŏnguŏlsan-Berg; ich befinde mich auf dem Rückweg von einem Dorf, wo ich Spenden gesammelt habe, und bin zufällig hier vorbeigekommen; so konnte ich Sie retten. Wie ich an Ihrem Gesicht ablese, werden Sie, auch wenn Sie im Augenblick arm sind, Fürst, General oder Minister werden, und Ihre Tochter wird höchstes Ansehen und größten Wohlstand erfahren. Wenn Sie eine großzügige Spende leisten, kommt Ihre Tochter in den Adelsstand, und Sie werden wieder Ihre Augen öffnen können."

„Wie großzügig sollte die Spende ausfallen?" fragte der alte Sim.

Der alte Mönch antwortete: „Wenn man dem Gaebŏbdang-Tempel etwas spenden will, eignet sich Opferreis am besten; Sie müßten schon dreihundert Sack Reis spenden."

Als der alte Sim dreihundert Sack Reis in das Spendenbuch eintragen wollte, verbeugte sich der Mönch mit gefalteten Händen und sagte, er werde in einigen Tagen wiederkommen. Danach kehrte er um.

Der alte Sim kam nach Hause und seufzte:

„Ich Blinder kann nicht einmal sterben, so wie ich es will, und überlebe nur durch die Bettelgänge meiner Tochter. Wo könnte ich armer Mensch dreihundert Sack Reis borgen, um sie zu spenden? Wenn man Buddha betrügt, ist das eine schlimme Sache; da ich nun gegen meinen Willen Buddha betrügen muß, werde ich es nicht abwenden können, im nächsten Leben in die Hölle zu fahren", klagte er traurig.

Als Chŏng von ihrem Bettelgang mit Essen nach Hause kam, fand sie ihren Vater traurig.

„Ich bin heute später gekommen", sagte sie, „weil ich bei einer reichen Familie im Westteil des Dorfes Getreide stampfen mußte; als Lohn dafür habe ich Essen bekommen. Vater, du bist sicher deshalb traurig, weil ich dich nicht gut genug pflege."

Darauf wischte er sich die Tränen ab und sagte:

„In letzter Zeit werde ich häufig ohne Grund traurig; ich spüre mein unseliges Schicksal so stark, daß mir die Trauer bis ins Mark dringt. So bin ich zum Tor hinausgegangen und umhergetappt, um nach dir zu suchen, obwohl ich nicht wußte, wohin du gegangen bist. Dabei bin ich in eine Grube gefallen; ich wäre gestorben, wenn nicht ein Bettelmönch vorbeigekommen wäre und mich gerettet hätte. Er meinte, meine Blindheit sei auf die Sünden aus meinem Vorleben zurückzuführen und mein Bettelleben sei ebenfalls die Folge früherer Sünden. Wenn ich aber als Zeichen der Sühne dreihundert Sack Reis opferte, würde ich die Augen öffnen, und auch du würdest dein ganzes Leben glücklich sein. Daher bin ich, ohne genau darüber nachzudenken, auf die Idee gekommen, eine Spende für einen wohltätigen Zweck zu geben, und habe ihm gesagt, er solle unter meinem Namen dreihundert Sack Reis in sein Spendenbuch eintragen. Als ich nach Hause zurückgekehrt war und darüber nachgedacht hatte, wußte ich nicht, wie wir diese Spende auftreiben sollen; wir sind ja nicht einmal in der Lage, einen einzigen Groschen oder eine Handvoll Reis zu besorgen. Wenn ich nun Buddha betrüge, wird es noch schlimmeres Unheil geben. Darum bin ich traurig."

Als Chŏng ihm zugehört hatte, sagte sie:

„Vater, sei doch nicht traurig! Es gibt ein Sprichwort, das besagt, daß der Himmel hilft, wenn man sich nur genug bemüht. Da du dich, Vater, so um die Spende bemühst, wird Buddha dir bestimmt helfen. Mach dir keine Sorgen!"

Darauf brachte sie den Abendtisch[110] und bot dem Vater Abendessen an. Der alte Sim aber aß nichts; er seufzte nur und hörte nicht auf zu weinen. Er tat Chŏng leid, und sie tröstete ihn mit sanfter Stimme:

„Mach dir keine Sorgen, Vater! Wie hoch der Himmel auch sein mag, so ist er doch barmherzig; darum werden alle Götter auf der Erde und im Himmel, Sonne und Mond so gerührt sein, daß sie dir helfen."

Mit allen möglichen Reden versuchte sie, den Vater zu trösten, doch vergeblich.

Ohne Ende überlegte sie hin und her. Um Mitternacht machte sie sich zurecht und ging in den Hof, wo sie eine Strohmatte ausrollte, um darauf zu beten:

„Ich, ein Menschenkind namens Sim Chŏng, schrecke auch vor dem Tod nicht zurück. Ich möchte gern dreihundert Sack Reis für Buddha opfern, in dem inbrünstigen Wunsch, mein blinder Vater möge die Augen öffnen; aber wir haben uns des Betruges an Buddha schuldig gemacht. Ihr Götter im Himmel und auf der Erde, habt Mitleid mit uns!"

Sie betete die ganze Nacht; auch nachdem sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, konnte sie nicht einschlafen. Sie seufzte und seufzte. Dann wurde sie plötzlich müde und fiel in Schlaf. Im Traum erschien ihr ein alter Mönch und sagte:

„Morgen wird jemand kommen, der dich kaufen will. Du sollst diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen, auch wenn du dafür sterben müßtest. Da der Himmel von deiner Pietät ergriffen ist, wirst du auch dort, wohin du nach dem Tode gelangen wirst, etwas Ungewöhnliches erleben."

Mit diesen Worten verschwand der alte Mönch spurlos; da wurde sie gewahr, daß sie geträumt hatte. Das erschien ihr sehr merkwürdig; sie wartete auf das Morgengrauen und war gespannt, ob tatsächlich jemand käme, um sie zu kaufen.

Indessen fuhren Händler aus Nanking mit ihrem beladenen Schiff nach Peking und zu manchen anderen Orten, um Handel zu treiben; dazu mußten sie ein großes Meer überqueren. Nun gab es unweit des Landes Iurigug ein Gewässer namens Indanso, das von dem bösen Geist Iacha bewohnt wurde. Dieser Geist ließ zwar kleine Schiffe unbehelligt vorbeifahren, große Schiffe aber, die mit Schätzen und Seide voll beladen waren, durften erst dann ungestört passieren, wenn dem Wassergeist ein Menschenleben geopfert wurde. Deshalb pflegten die Händler jedes Jahr ein Mädchen zu kaufen, das sie als Opfergabe in das Meer warfen.

An dem betreffenden Morgen kamen die Händler wieder und gingen auf der Suche nach einem Mädchen von einem Dorf zum anderen. Chŏng hörte davon und freute sich. Sie eilte nach draußen und fragte:

„Kaufen Sie auch ein kleines Mädchen wie mich?"

Als die Händler sich ihr zuwandten, sahen sie ein ungewöhnlich schönes Mädchen vor sich. Die Augen waren so klar wie Morgensterne, die Brauen sahen aus wie gemalte Frühlingshügel, die roten Lippen wie Perleneinlagen, die hohen Ohren waren wie für Sonne und Mond geschaffen, die Schultern glichen einer fliegenden Schwalbe, und die schmale Hüfte wirkte wie mit einem Seidengürtel gebunden - sie war eine außergewöhnliche Schönheit, wie man sie nur selten zu sehen bekam.

Sie hatte ein Gesicht, dessen Züge auf ein glückliches Leben hindeuteten, aber ihre abgenutzte Kleidung vermochte die Haut nur notdürftig zu bedecken. Ihr Körper war mager, das besorgte Gesicht wirkte unter dem verworrenen Haar blaß und sah so aus, als stände eine schöne Blume inmitten einer paradiesischen Landschaft im Frühlingswind. Ihre klare Stimme hörte sich an, als riefe ein chinesischer Wundervogel am Himmel nach seinen Jungen.

Kein Wunder, daß die Händler, die in abgelegenen Dörfern aufgewachsen waren und sich auf nichts anderes verstanden, als Geld zu verdienen, noch nie im Leben ein so schönes weibliches Wesen gesehen hatten. Sie verbeugten sich vor dem Mädchen; einer von ihnen sagte:

„Wir sind nur Händler, die Waren kaufen und verkaufen. Es ist eine schlimme Tat, ein Mädchen zu einem hohen Preis zu kaufen, um es auf dem Indanso-Gewässer dem Drachengott zu opfern. Einen Menschen töten zu müssen, ist schlimm, aber es ist für uns zum Überleben notwendig. Wir sind nun hergekommen, weil du uns gerufen hast, aber dein Gesicht verrät, daß du nicht dazu bestimmt bist, zu diesem Zweck verkauft zu werden. Aus welchem Grund möchtest du dich denn verkaufen?"

„Ich habe so ein schreckliches Schicksal und führe ein nutzloses Leben", antwortete Chŏng unter Tränen. „Das Schicksal meinte es immer schlechter mit mir, und mein Vater ist erblindet. Ich als sein Kind werde darum mit meiner Trauer nicht fertig. Nun kam eines Tages ein Mönch vorbei und gab meinem Vater, als er ihn traf, einen Rat. Als Kind meines Vaters schrecke ich vor nichts zurück. Auch wenn ich mich verkaufen müßte und an einen Ort gebracht würde, wo ich sterben müßte, wäre ich nach meinem Tod glücklich, wenn nur mein Vater wieder die Augen öffnen könnte. Ich bitte Sie, mich für dreihundert Sack Reis zu kaufen."

Als die Händler sie angehört hatten, begriffen sie, daß sie sich in einer bemitleidenswerten Lage befand, und bewunderten ihre Pietät.

„Ich kann entscheiden, wie ich will, ob ich dich kaufe oder nicht, aber wer wird nicht von deiner Pietät berührt sein, es sei denn, er besteht aus Holz oder Eisen? Ich für meine Person würde dir auch dreihundert Sack Reis schenken, aber es geht um eine Sache, an der viele Leute beteiligt sind; deshalb muß ich mich mit ihnen besprechen. Einstweilen werde ich mich zu einer Besprechung zurückziehen; den Reis werde ich später schicken."

Nachdem Chŏng die Vereinbarung mit dem Händler getroffen hatte, kehrte sie nach Hause zurück und erzählte ihrem Vater eine erfundene Geschichte:

„Ein reicher Mann aus dem Dorf gegenüber hat kein Kind, deshalb hat er mich lieb und hat mir öfters Getreide gegeben. Ich habe mich nun für dreihundert Sack Reis an ihn verkauft, damit diese dem Tempel gespendet werden können. Wann wollte der Bettelmönch dich aufsuchen?"

Als der alte Sim dies hörte, war er einerseits froh darüber; andererseits aber wurde er bei dem Gedanken, daß seine kleine Tochter in das Haus eines Fremden ziehen mußte, so traurig, daß sein Herz zu zerspringen drohte.

„Es ist wahrlich ein Glück", sagte er unter Tränen, „daß man, sofern du die Wahrheit erzählt hast, Buddha nicht zu betrügen braucht. Aber du bist zu einem hohen Preis an einen Fremden verkauft worden; nun wirst du nicht mehr lange zu Hause bleiben. Wie kann ich ohne dich allein leben?"

Als der Vater so traurig war und in Tränen ausbrach, war Chŏng, die den Vater doch nur belogen hatte, zumute, als drehte sich ihr das Herz im Leibe herum; sie dachte:

Wenn Vater schon trauert, nachdem er nur gehört hat, daß ich in ein Haus umziehe, wo es genug Kleidung und Essen gibt, dann würde er wohl bestimmt nicht weiterleben wollen, wenn er hörte, daß ich an einen Ort gebracht werde, wo ich sterben muß. Welche noch schlimmere Pietätlosigkeit könnte ich in dieser Welt oder im Jenseits begehen?

Sie vergoß so viele Tränen, daß dadurch das Meer hätte anschwellen können.

Schließlich kam der Tag, an dem die Händler den Reis brachten. Zur gleichen Zeit erschien der Bettelmönch vor dem Tor und wollte den Vater sprechen. Chŏng übergab ihm auf der Stelle den Reis, den sie von den Händlern erhalten hatte. Der Bettelmönch verbeugte sich mehrmals und nahm den Reis in den Tempel mit. Chŏng fragte die Händler:

„Wann wollt ihr mich denn abholen?"

„Wir laufen am dritten Tag des siebten Monats im Herbst aus", antworteten die Händler. Dann kehrten sie um.

Als Chŏng nun in Ruhe dasaß, wurde ihr bewußt, daß sie nur noch wenige Tage zu leben hatte. Sie schaute nur in den Himmel und klagte:

„Da Vater blind ist, wartet er schon auf mich, wenn ich nur einen halben Tag draußen bleibe; es gibt ja sonst niemanden, der ihm einen Schluck Wasser in den Mund schöpft. Wer in aller Welt sollte sich nach meinem Tod um Vater kümmern, damit er weiterleben kann? Er würde bestimmt bald verhungern. Wie könnte ich dann diese Trauer ertragen? O weh! Dreizehn Jahre sind vergangen, seit ich zur Welt gekommen bin; ich habe das Gesicht meiner Mutter nie gesehen und einzig den blinden Vater gepflegt. Aber ich konnte ihn niemals ausreichend ernähren und der Jahreszeit entsprechend anziehen. Ich selbst trage eine Jacke ohne Kragen und einen Rock, der zu eng geworden ist, um meine ganze Hüfte zu bedecken. Ungeachtet meiner Leiden habe ich erst dann aufgeatmet, wenn ich feststellte, daß Vater sich wohlfühlte. Ich schluckte die Tränen herunter und ging nach Osten, um Essen zu erbetteln, nach Westen, um ein wenig Getreide zu besorgen. Dabei nahm ich keine Rücksicht auf Würde und Schamgefühl. Jetzt, wo ich Vater verlasse und an einen Ort fahre, wo mich der Tod erwartet, wird meine Seele, die so bitterlich geweint hat, in den Himmel aufsteigen, wo sie sich an die selige Mutter klammern und vor ihr weinen wird!"

Diese Gedanken bedrückten sie und zerbrachen ihr fast das Herz. Seit diesem Tag ging sie noch fleißiger betteln als zuvor, um Essen für den Vater zu sammeln und ihm eine warme Mahlzeit servieren zu können.

Unversehens kam der Tag der Verabredung mit den Händlern. Chŏng hatte im voraus gewußt, daß sie den Vater nicht länger belügen könnte; so setzte sie sich vor ihn, warf sich nieder und schluchzte heftig. Sim erschrak und fragte sie direkt nach dem Grund ihres Weinens, aber Chŏng war so traurig, daß sie kein Wort über die Lippen brachte. Darauf brach der Vater ebenfalls in lautes Weinen aus, streichelte die Tochter und fragte sie wiederholt, warum sie so heftig weinte. Chŏng nahm sich mit Mühe zusammen und antwortete:

„Die dreihundert Sack Reis, von denen ich dir erzählte, habe ich nicht von dem Reichen aus dem Dorf gegenüber bekommen, sondern sie sind der Preis, den ich von den Kaufleuten für mein Leben erhalten habe. Jetzt sind diese Kaufleute gekommen, um mich abzuholen. Ich habe dir am Anfang nicht die Wahrheit erzählt, weil ich fürchtete, du könntest traurig werden. Heute, wo ich von dir für immer Abschied nehmen muß, will ich dir die Wahrheit sagen. Wie traurig bin ich! Unsere Beziehung als Vater und Kind war zehnmal enger als bei anderen. Du hast mich ohne eine Mutter großgezogen; als ich ein Alter erreichte, in dem ich einigermaßen vernünftig denken konnte, bist du blind geworden, und mit unserem Haushalt ging es bergab. Wir konnten uns kaum über Wasser halten. Wo gäbe es ein Leben, das mit unserem vergleichbar wäre? Wenn ich jetzt daran denke, daß ich dich, meinen kranken Vater, verlassen muß und mich in einen grollenden Wassergeist verwandeln werde, kann ich nicht beschreiben, wie mir zumute ist!"

Sie brach in lautes Weinen aus. Auch Sim heulte laut und sagte:

„Meine liebe Tochter! Was sagst du da? Es ist mir egal, wenn ich wegen eines Betrugs an Buddha abermillionenmal zur Hölle führe und dort Millionen Jahre verbringen müßte. Wie in aller Welt bist du auf diese Idee gekommen, durch die auch mein Leben kürzer wird? Auf wen soll ich mich denn stützen und wie soll ich allein weiterleben auf dieser Erde, wo es ohnehin für dich und mich so viel Unglück gibt? Ich will mit dir zusammen sterben!"

Der Alte schlug sich auf die Brust und heulte laut.

Die Dorfbewohner, die das traurige Weinen der beiden gehört hatten, eilten zu ihnen und fragten sie nach dem Grund. Als sie zugehört hatten, sprachen sie voller Mitleid zu ihnen:

„Wir haben zwar verschiedene rührende Geschichten gehört, aber noch nie, daß große Ehrfurcht ein Mädchen dazu geführt hat, sich um des Vaters willen zu verkaufen und für dieses Geld den Tod in Kauf zu nehmen, was den Vater wiederum in größte Trauer gestürzt hat. Die beispiellose Pietät und der Mut eines dreizehnjährigen Mädchens sind wahrlich lobenswert! Wir haben uns über die Ungerechtigkeit in dieser Welt seufzend beklagt, daß Chŏng schon vom siebten oder achten Lebensjahr an ein mühevolles Leben führte; aber wie hätten wir ahnen können, daß dieses Mädchen jetzt vor dem unabwendbaren Schicksal steht, zu einem grollenden Wassergeist zu werden!"

Viele waren wegen Chŏng traurig. Da hörte Chŏng zu weinen auf und bat die Nachbarn rundherum:

„Wenn ihr, liebe Onkelchen und Tantchen, viel Mitleid mit meinem Vater hättet und ihm helfen würdet, damit er bis an sein natürliches Lebensende weiterleben kann, würde ich euch auch nach meiner Rückkehr ins Jenseits[111] eure Wohltaten vergelten, so gut ich könnte."

Da waren die Anwesenden noch stärker berührt, und ihr Mitleid war noch größer.

„Wir sind alle von deinem Anstand so ergriffen", trösteten sie Chŏng; „auch wenn du uns nicht darum bätest, würden wir dir zuliebe deinen Vater ganz sorgsam behüten. Mach dir keine Sorgen! Du mußt jetzt an den Ort deines Todes hinausfahren; wir wünschen dir, daß du im Jenseits als Kind einer reichen Familie geboren und so für dein trauriges Los in dieser irdischen Welt entschädigt wirst."

Da sagte jemand: „Der Himmelsgott, der immer gerecht ist, wird es bei dir, einem dreizehnjährigen Mädchen, nicht zulassen, daß du ein grollender Wassergeist wirst! Es gibt bestimmt einen Ausweg, daß du gerettet wirst."

Chŏng wiederholte ihre eindringliche Bitte an die Nachbarn und bat die Kaufleute um Erlaubnis, noch einen einzigen Tag beim Vater zu bleiben, damit Vater und Tochter sich in Liebe aussprechen könnten. Die Kaufleute waren von Chŏngs unvergleichlicher Elternliebe ergriffen und hatten großes Mitleid mit ihr; daher erlaubten sie ihr, noch einige Tage beim Vater zu bleiben, und kehrten zurück. Der alte Sim jedoch heulte unaufhörlich und flehte seine Tochter an, ihn mitzunehmen. Schließlich fiel er in Ohnmacht.

So vergingen einige Tage, bis die Kaufleute wiederkamen. Sie gaben Chŏng weitere fünfzig Sack Reis und sagten:

„Wir geben dir noch fünfzig Sack Reis dazu, weil du uns so sehr gerührt hast. Sorge dafür, daß dein Vater davon einige Jahre ernährt werden kann!"

Als die Kaufleute sie aufforderten, mitzukommen, dankte sie ihnen hundertmal. Sie brachte den Reis zu einer Familie im Dorf und bat diese eindringlich, ihn für ihren Vater zu verwenden. Dann trat sie vor die Ahnentafel ihrer verstorbenen Mutter, um sich zu verabschieden; ihre weinende Stimme war so laut, daß ihre Mutter, falls sie es hätte wahrnehmen können, bestimmt mitempfunden hätte.

Chŏng riß sich zusammen und ging zu ihrem Vater, um von ihm Abschied zu nehmen. Vater und Tochter saßen Gesicht an Gesicht und weinten so sehr, daß sie in Ohnmacht fielen; schließlich raffte Chŏng sich auf, faßte die Hand ihres Vaters und sagte:

„Vater, vergiß bitte, daß du jemals eine Tochter gehabt hast, und trauere nicht! Vorerst ist genug Reis da; ich wünsche dir ein gesundes und langes Leben! Wir werden uns im Diesseits nicht wiedersehen, aber ich wünsche dir, daß du im Jenseits als reicher Mann deine unerfüllten Wünsche verwirklichen kannst."

Als sie sich in ihrer tiefen Trauer erheben wollte, hielt der Alte die Tochter fest und heulte:

„Auf wen soll ich mich in Zukunft stützen, wenn du mich jetzt verläßt?"

Chŏng bemühte sich, den Vater zu trösten, und nahm schließlich von ihm Abschied. Als sie nun zum Haustor hinausging, war sie immer wieder kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren; sie stolperte fast bei jedem Schritt. Welcher noch so herzlose Mensch hätte bei diesem Anblick die Trauer unterdrücken können?

Der Alte tappte unter Mühen hinaus und heulte laut, wobei er sich auf die Brust schlug und mit den Füßen stampfte:

„Chŏng! Liebe Chŏng! Wohin willst du gehen, wenn du mich verläßt?"

Es war eine unsäglich traurige Szene. Chŏng stolperte bei jedem Schritt zehnmal, während sie sich unter tausend Tränen nach ihrem Vater umdrehte.

Alle Dorfbewohner traten aus dem Haustor heraus und beobachteten den Zug Chŏngs.

„Diese Pietät beeindruckt selbst den Himmel!" seufzten sie. „So etwas kommt innerhalb von tausend, abertausend Jahren nie wieder vor, und wir sind nun die Zeugen!"

Schließlich erreichte Chŏng das Indanso-Gewässer; die Kaufleute hatten bereits ihre Opfergaben in das Wasser geworfen und, ungeduldig wegen der verstreichenden Zeit, auf Chŏngs Ankunft gewartet. Als es soweit war, forderten sie sie auf, ins Wasser zu springen. Chŏng war verzweifelt, doch sie hatte keine andere Wahl. Weinend blickte sie zum Himmel und betete vor sich hin:

„Ich bin die Tochter des Blinden Sim Hiŏn; ich habe mit drei, die Mutter verloren und habe notdürftig vom Betteln gelebt, um den Vater zu ernähren. Da man sagte, mein Vater werde die Augen öffnen, wenn er Buddha eine Spende leiste, habe ich mein Leben verkauft und werde im Wasser sterben. Ich bin nicht traurig, daß ich sterben muß, aber es gibt von heute an keinen Menschen, der auch nur mit einem Schlückchen Wasser für meinen Vater sorgt. Vater wird bestimmt im Gedächtnis an den Tod der Tochter krank werden und schließlich dadurch sterben. Ich werde jedoch nicht in der Lage sein, seinen Leichnam auf dem Familienfriedhof zu begraben. Wo gibt es eine noch schlimmere Untat gegen die Eltern, als als Kind getrennt vom Vater, ohne die Elternliebe recht zu vergelten, vor ihm zu sterben? Denn man wirft den Körper, den man von den Eltern bekommen hat, in das blaue Meer und sättigt damit den Bauch der Fische. Habt Mitleid mit mir, du unendlicher Himmel und ihr allwissenden Geister!"

Als sie, nachdem sie so gebetet hatte, auf das Wasser blickte, reichten die blauen Wellen des Wassers bis zum Himmel, der traurige Wind wehte kalt, die achtsamen Wolken umgaben sie endlos, das Rudergeräusch drängte ihre Seele, von dieser Welt Abschied zu nehmen; wie traurig und bemitleidenswert war doch Chŏngs Situation!

Als Chŏng darauf weinend dreimal nach dem Vater rief und, das Gesicht mit der Hand verdeckt, ins Wasser sprang, wurden alle anwesenden Kaufleute bei diesem Anblick sehr traurig. Als Chŏng, ohne unter die Wasseroberfläche zu versinken, eine Weile auf dem Wasser trieb, blies plötzlich ein duftiger Wind, und in einem kleinen Boot tauchte eine Fee auf, mit der Haartracht einer Jungfrau und auf einer Jadeflöte spielend; sie fischte Chŏng aus dem Wasser in das Boot, tauschte ihr nasses Kleid gegen ein neues aus, schenkte aus einem Jadekrug ein Wundermittel ein, das Tote zum Leben erweckt, und gab es ihr.

Nach einer langen Weile öffnete Chŏng die Augen und sah, daß sie auf einem fremden Schlaflager bequem lag und daß eine Fee ihr Hände und Füße massierte. Chŏng rüttelte sich wach und richtete sich auf; sie dankte der Fee mit gefalteten Händen und fragte sie:

„Wer sind Sie, verehrte Fee? Und warum haben Sie mich, als ich ertrunken war, gerettet?"

Aber ihre Stimme drang schwer über die Lippen, weil sie noch nicht ganz zu sich gekommen war. Die Fee antwortete:

„Ich bin ein Kammermädchen des Drachenkönigs im Ostmeer; der König befahl mir, Sie zu ihm zu bringen. Ich habe mich zwar beeilt, doch ich machte mir Sorgen, Sie könnten wegen meiner Verspätung bereits wie eine Perle zerbrochen, wie eine Blume verwelkt sein."

Chŏng sammelte ihre Gedanken und sagte:

„Ich bin dem ehrwürdigen Drachenkönig zu ehrerbietigem Dank verpflichtet, da er sich um mich, einen unbedeutenden Menschen aus der irdischen Welt, so sehr gekümmert hat."

„Wenn Sie mit mir kommen, werden Sie verstehen, wie es dazu kam", erwiderte die Fee. „Denn Ihre große Tat war eine Bestimmung des Himmels, und es ist auch ein Befehl des Himmels, daß der Drachenkönig Sie zu sich bittet."

Die Fee ruderte weiter, während sie auf der Jadeflöte blies, worauf harmonische Gesänge folgten. Plötzlich verspürte Chŏng eine ungemeine Erleichterung in ihrem Innern; ihr Körper war, als wollte er hoch hinauffliegen.

Gleich darauf kam das Boot am Ziel an. Dort ragte ein großer Palast empor, auf dessen Portal ein Schild mit der Aufschrift „Drachenpalast im Ostmeer" zu sehen war. Die Fee steuerte mit dem Boot das Portal an und bat Chŏng, auszusteigen. Als sie das tat, kamen aus dem Palast mehrere in prachtvolle Seide gekleidete Feen paarweise mit einer goldenen Sänfte heraus und baten Chŏng, einzusteigen. Chŏng lehnte höflich ab:

„Ich stamme aus der unwürdigen Menschenwelt; wie könnte ich es wagen, in diese Sänfte einzusteigen?"

„Sie waren in einer ungünstigen Zeit auf die Menschenwelt gekommen", entgegneten die Feen, „deshalb hatten Sie es schwer im Leben. Hier in diesem Drachenpalast sind Sie eine ehrwürdige Person. Diese Sänfte hatte Ihnen in Ihrem Vorleben gehört; steigen Sie daher bitte ein, ohne länger zu zögern! Denken Sie daran, daß der Drachenkönig auf Sie wartet!"

Chŏng traute sich weiterhin nicht, einzusteigen, aber schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als in der Sänfte Platz zu nehmen. Alle Feen begleiteten sie, indem sie allerlei Musik spielten, während ihre Sänfte von sechs Drachen getragen wurde. Es war eine großartige und prunkvolle Szene.

Sie wurde durch mehrere Tore getragen und kam vor dem Palastgebäude an. Von dort, wo Jadegeländer ihre Augen blendeten und Perlenvorhänge prachtvoll glänzten, stiegen glückbringende Wolken empor, und alles war in Nebel gehüllt, so daß Chŏng verwirrt und verlegen war. Da traten einige Feen hervor und führten Chŏng in den Palast hinein; sie zeigten auf einen Sessel, der auf der nördlichen Seite stand, und bedeuteten ihr, sich zu verbeugen. Als sie aufblickte, saß ein König voller Würde auf dem goldenen Sessel, eine Krone auf dem Haupt, in der offiziellen Tracht aus blauer Seide, mit einem Gürtel aus weißem Edelstein; in der Hand hielt er ein Zepter, das gleichfalls aus weißem Edelstein bestand. Neben ihm standen ehrerbietig Kammerdiener, in der Hand einen Fächer in Form des Paradiesvogels.

Als Chŏng sich höflich verbeugte, freute sich der Drachenkönig und sagte: „Meine liebe Giusŏng, wie war dein Leben unter den Menschen, hast du dort viel Spaß gehabt?"

Chŏng verbeugte sich erneut ehrfürchtig und sagte: „Ich bin nur ein gemeines Wesen aus der Menschenwelt, deshalb verstehe ich nicht, was der große König zu sagen geruht."

Der Drachenkönig lächelte: „Du warst in deinem Vorleben[112] die teure Tochter des Königs Chogan. Du bekamst den Befehl, im Reich der Heiligen den Wein zu verwalten, der für die Gelage der Königsmutter bestimmt war. Wegen gewisser Umstände gabst du No Gunsŏng so viel Wein, daß auf einem Fest der Wein ausging. Der Bote des Himmelsgottes bat den Herrn um Entschuldigung; dieser aber wurde wütend und befahl, diese Angelegenheit, da die Schuld nicht bei dem Boten liege, sondern bei der Kammerdienerin, gründlich aufzuklären und die Schuldige strengstens zu bestrafen. Darauf wurde No Gunsŏng in die Menschenwelt geschickt, wo er vierzig Jahre ohne Probleme lebte, bis Chŏng vom Himmelsgott das Geheiß erhielt, seine Tochter zu werden, um ihm ihre Pietät unter Beweis zu stellen. So geschah es auch, daß No Gunsŏng vierzig Jahre, nachdem er als Mensch namens Sim Hiŏn in die Menschenwelt verbannt worden war, dich zur Tochter bekam. Damit e