Lauras Unschuld by Hugo C - HTML preview

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GEHEIME TREFFEN

Sebastian Gruber genoss sein Leben in vollen Zügen. Sein Haus war abbezahlt, die Kinder flügge, der vierte Enkel unterwegs. Mit dem Geld, das seine Frau als Kassiererin eines Supermarktes verdiente, hatten sie ein passables Auskommen. Seine Tätigkeit als Chauffeur von Dr. Friedrich Stuck zwang ihn, lange Stunden zu arbeiten. Da er die Überstunden zur Hälfte ausbezahlt bekam, hatte er nichts dagegen, der Rest erhöhte sein Urlaubskontingent. Dies ermöglichte es ihm, lange Wandertouren außerhalb der Hochsaison durchzuführen und seiner Leidenschaft, der ornithologischen Beobachtung, zu frönen.

Zumeist ging er alleine, denn er schätzte die gelegentliche Einsamkeit. Am Abend einer Exkursion war Gesellschaft hingegen sehr willkommen. Daher hatte Gruber es sich angewöhnt, bei seinen Kurzurlauben in preiswerten Pensionen zu übernachten, in denen er Gesprächspartner fand. Eines Abends war er der einzige Gast und die Wirtin klagte ihm ihr Leid, alleine den Betrieb zu führen, der Ehemann geschieden, die Kinder aus dem Haus. Bald stellte Gruber fest, dass ihr Bedauern der Einsamkeit physische Aspekte inkludierte, und in dieser Nacht betrog er seine Frau zum ersten Mal.

Von nun an trachtete er danach, den Zufall bewusst herbeizuführen. Selektiv nahm er Pensionen, die von Frauen geleitet wurden, und achtete bei der Bestellung des Zimmers darauf, dass die Dame im richtigen Alter war. Bald ergänzte Sebastian Gruber seinen Ehrgeiz, während des Tages möglichst viele ihm neue Vogelarten zu beobachten, durch das Unterfangen, während der Nacht möglichst viele Frauen zu erobern.

Seine urlauberischen Fähigkeiten und Interessen nutzte er zunehmend im Alltagsleben. Bald hatte er herausgefunden, in welche Cafés der Stadt einsame Damen seines Alters zu gehen pflegten. Noch wichtiger war die Eliminierung derjenigen, die seine Frau oder deren Freundinnen frequentierten. Dr. Stuck unterstützte unbeabsichtigt seine Amouren, denn er hatte ein präzise durchgetaktetes Leben. Seinen Tagesablauf steuerte Frau Semmler und zumeist war er mehrere Wochen im Vorhinein verplant. Theoretisch hatte Gruber Fahrbereitschaftsdienst für die nächste Führungsebene, wenn Dr. Stuck ihn nicht brauchte. Erfolgreich vermittelte Gruber hingegen allen Interessenten den Eindruck, Dr. Stuck würde es hassen, seinen Fahrer zu teilen.

In letzter Zeit war sein wohlgeordnetes Leben in Unordnung geraten. Dr. Stuck hatte angefangen, morgendliche, vor allem jedoch abendliche Termine kurzfristig anzusetzen. Etliche seiner sorgfältig geplanten Schäferstündchen musste Sebastian Gruber zum Unwillen seiner jeweiligen Partnerin in letzter Sekunde absagen.

An diesem Freitagabend entließ Dr. Stuck seinen Chauffeur vorzeitig in das Wochenende. Statt seiner setzte er sich selbst an das Volant und gab die Koordinaten seines Zielortes in sein GPS ein. Heute wollte er John Swansea in klaren Worten das Ergebnis seiner Analysen mitteilen. Der offerierte Preis von 105 Euro pro Aktie läge erheblich unter dem fairen Wert. Er würde seinem Aufsichtsrat davon abraten, weitere Gespräche mit RSS zu führen.

Dr. Stuck pfiff vergnügt, als er sich nach einstündiger Fahrt der Adresse näherte. Das Ziel entpuppte sich als modernes Appartementhaus der obersten Preisklasse. Er parkte in der Tiefgarage und fuhr mit dem Aufzug direkt in das oberste Geschoss, in dem sich das Büro der "Maritime Yachting", einer Briefkastenfirma im Besitz von Meir Huxley, befand.

Meir Huxley besaß ein über die Großstädte aller großen westlichen Industrieländer verteiltes Netz an konspirativen Wohnungen. Das ganze oberste Stockwerk wurde von Meir Huxley besetzt, wobei es in zwei getrennt zugängliche Einheiten zerfiel. Eine diente als Empfang und war von einer Teamassistentin besetzt, die während der Besprechungen für das leibliche Wohl zu sorgen hatte. Die andere beherbergte fünf Besprechungszimmer, die bis zu 40 Teilnehmern Platz boten. Am heutigen Tag war das Kaminzimmer die beste Wahl, ermöglichte es doch einen Gedankenaustausch im intimen Rahmen.

In dem Raum standen zwei rotbraune Chesterfield-Ohrensessel, zwischen denen ein kleiner Beistelltisch positioniert war, der die Gläser der Besucher aufnehmen sollte. Der Fußboden wurde von einem seidenen Perserteppich in Blautönen fast vollständig bedeckt. Am Rand schaute das Intarsien besetzte, honigfarbene Holz des Parkettbodens aus Eiche hervor. Die Wände zierten handbemalte Seidentapeten mit floralen Mustern, die Ton-in-Ton in den schweren Vorhängen wiederholt wurden, die Decke war aus Rosenholz geschnitzt. Dr. Stuck hatte den Eindruck, 150 Jahre zurück in die viktorianische Epoche versetzt worden zu sein. Pünktlich zur vereinbarten Zeit wurde John Swansea von der Assistentin in das Kaminzimmer geführt.

"John, sehr erfreut, dich zu sehen. Hast du gut hergefunden?"

"Friedrich, was für ein Vergnügen, dich zu erblicken. Die Fahrt war toll. Kein Problem, das Haus zu finden. Nur der Name auf dem Büro: "Maritime Yachting". Sehr, sehr diskret. Wie ein Nobelpuff!"

Dr. Stuck war überrascht. Bisher war Swansea steif und hölzern gewesen. Die leutselige, geradezu flapsige Art seines Auftretens passte nicht zu ihm.

"John, kann ich dir etwas anbieten? In dem Barmöbel habe ich einen hervorragenden Cognac entdeckt, Rémy Martin XO. Oder einen Single Malt, Glenfiddich 21 Jahre, im Portfass gereift. Beides edle Tropfen."

"Was nimmst du, Friedrich?"

"Bei mir wird es wohl der Whiskey werden."

"Same here"

"On the rocks?"

"Sei nicht schockiert: Obwohl ich Amerikaner bin, bevorzuge ich meinen Whiskey pur."

"Sehr weise, da haben wir eine Übereinstimmung zwischen uns. Bitte nimm Platz!"

"Herzlichen Dank. Lass mich ein paar Worte sagen, bevor wir, wie sagt Ihr? Ah ja, in medias res gehen. Ich muss unbedingt mit dir ein paar Neuigkeiten besprechen. Bevor du mit deinen Analysen viel Zeit und Geld verschwendest, sollte ich dir das sofort erzählen. Time is money!"

Friedrich Stuck war verdutzt. Das war nicht der bedächtige John Swansea, den er kannte. Dieser Mann vor ihm redete in einer Tour, war unhöflich und missachtete das Hausherrenrecht. Er ließ ihn gewähren, um herauszufinden, was John Swansea beabsichtigte.

"Als wir unser erstes Gespräch vor ein paar Wochen führten, erwähnte ich, dass die LS Technologies für uns ein interessantes Unternehmen wäre. Aus dem Merger der beiden Unternehmen könnten erhebliche Mehrwerte resultieren. Wir hatten Erste top-down Analysen gemacht, und ich hoffte, dass sich eine Prämie auf den aktuellen Aktienkurs der LS rechnen ließe."

"Eine Prämie von 25 Euro pro Aktie, um genau zu sein" warf Dr. Stuck patzig ein.

"Ja, klingt richtig. Nun, seitdem habe ich bei uns ein kleines Team gebildet und ein paar Consultants engagiert. Wir teilten das in Subprojekte auf, du kennst das. Die einen schauen sich die Kundenverträge an, andere die Produktionsanlagen und Investitionspläne. Das nächste Team berechnet die synergies, die sich zwischen RSS und LS ergeben können. Das Ganze quetscht meine Finanzabteilung mit den Consultants in einen Geschäftsplan, das übliche Prozedere.

Am Anfang waren alle voller Begeisterung. Jeder hat sich gefreut, euch bald in unserer Firma begrüßen zu können. Im Lauf der Zeit wurden die Gesichter der Teamleiter immer länger. Die Kunden sind begeistert über die Qualität, die LS liefert, doch die Verträge laufen schneller aus als erwartet. Ich brauche dir das nicht zu erklären: In der Autobranche ist eine Vertragsverlängerung gleichbedeutend mit einer Preisreduktion."

Swansea winkte Dr. Stuck ab, der etwas entgegnen wollte.

"Ich weiß, dass du mir genau erklären kannst, warum unsere Teams nicht im Recht sind. Lass mich erzählen, dann gehört die Bühne dir. Die Produktionsanlagen sind tadellos in Ordnung, erste Sahne. Jedoch die capacities, komplett ausgelastet! Um in Asien weiter wachsen zu können, brauchst du viel Capex. Und das Wachstum des Marktes in Europa ist Mist. Im Team, das den Synergienbereich bearbeitet, war die Stimmung besonders übel. Welche synergies wir betrachteten, auf den zweiten Blick schmolzen sie weg wie Eis in der Sonne. Fast nichts blieb übrig.

Am Ende sagte mir meine Mannschaft, dass meine erste Einschätzung viel zu optimistisch war. Die Finanzleute haben einen neuen Wert berechnet. Ich weigere mich, ihn zu glauben, it is too frigging low. Ich möchte ihn dir deswegen gar nicht erzählen.

Das bedeutet, dass ich unmöglich eine für dich akzeptable Prämie offerieren kann. Deswegen schlage ich vor, dass wir die Merger Talks als gute Freunde beenden. Stattdessen können wir eine kleine Kooperation implementieren. Wir nehmen jeder ein paar Bereichsleiter und machen eine Arbeitsgruppe. Sie können den gemeinsamen Einkauf des Büromaterials und ähnliche Themen analysieren."

Dr. Stuck fand sich in der wenig dankenswerten Rolle der verschmähten Braut wieder. Dies ärgerte ihn umso mehr, als er selbst die Absicht gehabt hatte, Swansea einen Korb zu erteilen. Das Angebot, den gemeinsamen Einkauf des Büromaterials zu prüfen, war fast eine Beleidigung. Die Position machte weniger als 0,1 Prozent seiner Kosten aus, das war bestenfalls als Begräbnis erster Klasse zu verstehen. Am meisten ärgerte er sich über sich selbst. Er hatte sich von Swansea überrumpeln lassen und alle strategischen Vorteile verspielt.

John Swansea versuchte im Nachgang, mit seiner erzwungen fröhlichen Art die Begräbnisstimmung zu vertreiben. Nach wenigen Minuten sah er die Vergeblichkeit ein und verabschiedete sich. Um nicht gemeinsam gesehen zu werden, wartete Dr. Stuck einige Minuten, dann verließ er wutschnaubend ebenfalls das Gebäude.