Sofort nach der Besprechung mit John Swansea kontaktierte Dr. Stuck Frau Semmler. Er bat sie, für den nächsten Tag ein Treffen mit Frau Sand und Dr. Meier in seinem Haus zu organisieren. Kurz hatte er überlegt, einen anderen Ort zu wählen, kam aber zu dem Schluss, das Risiko des abgehört Werdens wäre nirgends auszuschließen. Dr. Meier zeigte sich wenig enthusiastisch. Am Samstag zu arbeiten war er gewohnt, das störte ihn nicht. Die Transaktion hatte er hingegen längst abgeschrieben und wollte seine Zeit lieber für lukrativere Engagements einsetzen. Frau Semmler war lange genug Vorstandssekretärin, seinen unterschwelligen Widerstand geflissentlich zu ignorieren. Laura Sand hatte einen Ausflug mit Freundinnen geplant, sagte aber ohne Zögern, ja mit Verve, zu.
Am Samstag um zehn Uhr morgens traf Laura Sand bei dem Haus von Dr. Stuck ein. Im Gegensatz zu ihren sonstigen Gewohnheiten hatte sie viel Zeit damit verbracht, ihre Kleidung auszusuchen und im Spiegel zu kontrollieren. Daraus resultierte ein eleganter dunkelblauer Rollkragenpullover, eine mittellange Zuchtperlenkette mit dazu passenden Ohrringen, eine farblich abgestimmte DKNY Hose mit Gucci-Gürtel und Flamencopumps.
Eine pummelige Matrone, es musste die Gemahlin von Dr. Stuck sein, öffnete ihr freundlich und hieß sie willkommen. Kurze Zeit später, Frau Stuck hatte Laura gerade unaufgefordert Kaffee gebracht, betrat Dr. Stuck das Arbeitszimmer. Mit Wohlgefallen betrachtete er die junge Frau ihm gegenüber, die ihn an sich in seiner Jugend erinnerte.
"Schönen guten Morgen, Frau Sand. Ich hoffe, Sie haben gut hergefunden?"
Sie fühlte sich befangen, ganz allein mit ihm. Nervös stammelte sie etwas. Die Verlegenheit übertrug sich auf ihn. Schweigen breitete sich aus bis Dr. Meiers Eintreffen sie erlöste.
"Vielen Dank, dass Sie beide an einem Wochenende kurzfristig Ihre Freizeit geopfert haben. Ich hoffe, Ihre Familien werden mir das verzeihen."
Beide lächelten höflich als Antwort auf diese rhetorische Feststellung.
"Wie Sie wissen, hatte ich gestern ein Treffen mit John Swansea."
Laura Sand gab es einen Stich, ihr war das nicht bekannt. Weder Dr. Meier noch Dr. Stuck hatten es für nötig befunden, ihr davon zu erzählen, von John Swansea ganz zu schweigen. Es beruhigte sie, dass sie zu dieser Nachbesprechung im kleinen Kreis eingeladen worden war. Dr. Stuck erzählte in knappen Worten von den Ereignissen des letzten Abends, dann resümierte er:
"Ich habe die ganze Nacht gegrübelt, was passiert ist. Wir haben keinerlei neue Informationen publiziert. Unser Aktienkurs schwächelt, bleibt jedoch im Rahmen der allgemeinen Marktentwicklung. Seitens RSS gibt es ebenfalls keine Veränderungen, die diese Absage erklären könnten. Und so eine anfängerhafte Fehlplanung, sich zu verrechnen und danach einen Rückzieher zu machen, traue ich ihnen nicht zu.
Nein, für mich gibt es nur eine Erklärung: John Swansea muss von unserem Gespräch letzte Woche gehört haben. In dem Fall macht es Sinn, das Angebot zurückzuziehen, bevor ich es ablehne. Falls er glaubt, ein Atout in der Hinterhand zu haben, kann er mir in einigen Monaten 80 pro Aktie anbieten und ich könnte ohne Gesichtsverlust annehmen. Die Strategie macht Sinn, wenn zwei Bedingungen gegeben sind: erstens, er weiß von meiner Einstellung und zweitens, er glaubt, eine Trumpfkarte zu haben. Um diese beiden Punkte zu klären, habe ich Sie heute hergerufen. Frau Sand, was meinen Sie, wie Swansea davon erfahren hat?"
Laura Sand war schwer in Verlegenheit zu bringen, und noch seltener wurde sie rot. Das Läuten ihres Telefons in dieser Sekunde bewirkte beides. Der Klang ‚ihres Liedes‘ war peinlich genug. Viel schlimmer war die Anzeige des Geräts, auf der ‚John‘ stand. Denn Swansea war es, der sie im unpassendsten aller Momente anrief. Genau zu dem Zeitpunkt, in dem sie darlegen musste, dass er die Insiderinformation nicht durch sie bezogen haben konnte.
Hektisch stellte sie das Telefon ab, ohne es aus der Handtasche heraus zu holen, damit niemand den Namen auf der Anzeige erkennen konnte. Die Röte in ihrem Gesicht spürend, stammelte sie "Entschuldigung, das ist mir sehr peinlich, ich hatte das Telefon vergessen. So was Blödes."
Dann sammelte sie sich:
"Ich habe keine Ahnung, wie John Swansea davon erfahren haben kann."
Dr. Stuck nickte kurz und fuhr fort:
"Bei uns in der Firma wussten nur die Mitglieder der Arbeitsgruppe von den Gesprächen. Herr Gömmler ist ein Ehrenmann und mit seiner Position zufrieden. Teure Hobbys hat er nicht. Für ihn lege ich die Hand ins Feuer.
Zu Ihnen, verehrte Frau Sand. Mein Herz sagt mir, dass Sie eine grundehrliche Person sind. Außerdem haben Sie immer den Weg Ihres Herzens und Ihrer Familienpflichten gewählt. Mit Ihrer Ausbildung und Ihrem Hintergrund könnten Sie mit dem fünffachen Gehalt für eine angelsächsische Private Equity Firma arbeiten. Dafür bräuchten Sie keinen Judaslohn, ein Anruf bei ein paar Headhuntern würde reichen. Das ist Ihnen bewusst. Also sprechen bei Ihnen Herz und Verstand gegen eine Beteiligung an dem Verrat.
Als letztes Mitglied von LS bin ich an der Reihe. In der letzten Sitzung unterstützten alle außer mir das Angebot von 105 pro Aktie. Um den Deal durchzuführen, hätte ich lediglich Ja und Amen sagen müssen. Dafür braucht es keine Betrügereien und Tricks.
Nachdem die Mitarbeiter der LS Technologies nicht infrage kommen, bleiben die anderen Teilnehmer der Sitzung übrig."
Mit diesen Worten wandte er seinen Blick Dr. Meier zu. Dieser war wegen der indirekten Anschuldigung ungehalten, konnte sich der Argumentation jedoch nicht verschließen und rutschte in seinem Sessel herum.
"Sollte ich jemals einen Klienten so eklatant betrügen und verraten, wie sie dies andeuten, wäre mir eine fristlose Entlassung sicher. In der Branche wäre ich erledigt. Das gilt natürlich im gleichen Maß für die Firma Meir Huxley. Das heißt, wir werden alles, wirklich alles, machen, um ein solches Gerücht im Keim zu ersticken."
Die in scharfem Ton ausgesprochene Drohung war von einem prüfenden Blick begleitet.
"Unsere Mitarbeiter könnten niemals wieder den Fuß in eine Investmentbank setzen, sobald sie auf der schwarzen Liste sind. Alle haben zu viel zu verlieren. Sie kennen unsere Boni."
"Alle?"
Dr. Meier stutzte kurz und wurde nachdenklich.
"Alle vielleicht nicht. Frau Krista Hofmann steht erst am Anfang ihrer Karriere. Wenn jemand ihr eine Million anböte, würde sie erst überlegen, bevor sie verneinte. Nur ein Bruchteil unserer Mitarbeiter überlebt die ersten drei Jahre. Erst danach beginnt der siebenstellige Bonusbereich. Frau Hofmann ist begabt, doch es ist viel zu früh, zu sagen, ob sie zu den wenigen Gewinnern oder den vielen Verlierern zählen wird. Ihre Konkurrenten zählen zur Elite ihres Jahrgangs und sind ebenso hochbegabt.
Das heißt nicht, dass ich eine Sekunde glaube, sie wäre einer solchen Illoyalität fähig, im Gegenteil. Um Sie zu beruhigen, Herr Stuck, werde ich sie jedoch mit sofortiger Wirkung einem anderen Projekt zuweisen."
Dr. Stuck war zufrieden. Er wollte den Sukkubus aus seinem Umfeld verbannt wissen, um nicht erneut der Versuchung zu erliegen. Zudem hatte er im Nachhinein Zweifel, ob der Unfall nicht von Krista bewusst herbeigeführt worden war. Für ihn war diese Nacht das wesentlichste Verdachtsmoment gegen sie, aber das konnte er Meier nicht erzählen.
Dr. Meier war seinerseits froh, John Swansea nicht angerufen zu haben, wie er dies im ersten Impuls vorgehabt hatte. Der Grund seines Zögerns war nicht ethischer Natur gewesen, Kuppler sind keine Moralapostel. Seine Aufgabe bestand darin, die beiden Turteltäubchen zusammenzubringen und atmosphärische Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Vielmehr hatte er Zweifel an den Schauspielfähigkeiten von John Swansea gehegt. Zu Recht, wie sich jetzt zeigte.
"Das bringt uns zu unserem zweiten Tagesordnungspunkt: Welches Atout könnte John Swansea im Ärmel haben. Frau Sand?"
Laura fühlte sich in ihrem Element, nachdem die verfängliche Frage hinsichtlich der Kontakte zu John Swansea ad acta gelegt worden war.
"Was würde uns zu einer Kehrtwende veranlassen? Wenn ein feindlicher Übernahmeinteressent uns schlucken möchte, könnten wir RSS als White Knight anrufen, der uns von dem bösen Drachen befreit. Allerdings möchte RSS sicherlich nicht in eine Bieterschlacht einsteigen, die den Preis in die Höhe treiben würde.
Der nächste Ansatzpunkt wäre eine große Investition, für die uns die finanziellen Mittel fehlten und wir RSS als Finanzier bräuchten. Aus dem Tagesgeschäft fällt mir nichts ein, wir sind solide finanziert und können unseren Geschäftsplan entspannt implementieren. Bleibt anorganisches Wachstum, der Kauf eines anderen Unternehmens. RSS könnte unter Umständen davon Kenntnis haben, dass ein Unternehmen zum Verkauf ansteht, dass wir unbedingt kaufen müssten und uns nicht leisten könnten."
Dr. Stuck warf ein: "Es gibt keinen Konkurrenten, der uns bedroht und den ich von einer Akquisition abhalten müsste. Wir sind der Hecht in unserem Teich."
"Bleibt die Möglichkeit, uns geschäftlich zu schädigen und den Aktienkurs zu senken. RSS könnte Gerüchte ausstreuen, dass unsere Kunden mit der Qualität unzufrieden wären. Ohne Beweise wären die Auswirkungen auf unseren Aktienkurs nur kurzfristig zu spüren."
"Das haben Sie schön zusammengefasst, dem ist von meiner Seite aus nichts hinzuzufügen. Herr Dr. Meier, fällt Ihnen etwas ein?"
Dieser verneinte. Dr. Stuck sinnierte kurz und schloss mit den Worten die Sitzung: "Wir werden in zweiwöchigem Abstand kurze Telefonkonferenzen abhalten, um uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Sobald etwas passiert, treten wir voll in Aktion. Ich habe den Verdacht, das wird eher früher als später sein."