Lauras Unschuld by Hugo C - HTML preview

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ELEFANTEN

Diesmal hatte sie das Lokal vorgeschlagen, nicht weil sie an seinem Geschmack zweifelte, sondern da sie abergläubisch war. Das letzte Restaurant vor einigen Wochen hatte er ausgesucht, und der Abend war katastrophal verlaufen. Um vom Umfeld her einen markanten Gegensatz zu erzielen, reservierte sie einen Tisch bei ‚Grigio‘, einem zentral gelegenen Italiener mit guter Fischauswahl, der besonders bei Geschäftsleuten populär war. Der Inhaber, der John von vielen Geschäftsessen her kannte, begrüßte sie herzlich und führte sie zu einem mitten im Raum gelegenen Tisch.

Laura hatte lange überlegt, ob sie zu ‚Grigio‘ gehen sollten. Die Wahrscheinlichkeit, von Johns und ihren Kollegen gesehen zu werden, lag bei hundert Prozent; das Grigio diente als erweiterte Firmenkantine der beiden größten Unternehmen der Stadt. Es war das publizitätswirksamste Coming Out, das sie organisieren konnte, ohne eine Annonce im Betriebsanzeiger aufzugeben. Die Gespräche mit RSS waren vorbei, und sie wollte die Heimlichtuerei beenden.

Falls Dr. Stuck sie darauf anspräche, würde sie ihm die Wahrheit erzählen. Sollte er sie entlassen, müsste sie woanders unterkommen, mit ihren Qualifikationen sollte das kein Problem sein. Rechtlich könnte er nicht gegen sie vorgehen, schließlich war sie keiner illegalen Handlung schuldig.

Nein, für sie war das ein Entscheidungsabend. Sollte John bereit sein, seinen Wunsch nach einer langjährigen Bindung öffentlich zu dokumentieren, bliebe sie hier. Wenn nicht, ginge sie in eine angelsächsische Metropole wie London, Boston oder New York. Ihrem Wesen und ihrer Berufserfahrung wäre das viel angemessener. Ohne John gab es nichts, was sie in der Stadt hielt. Fast hoffte sie, der heutige Abend würde im Fiasko enden, damit sie frei wäre.

Die beidseitige Begrüßung verlief kühl und ohne physischen Kontakt. Der Mangel an Körpernähe wurde teilweise wettgemacht durch das von ihm mitgebrachte große, blutrote Rosenbouquet auf ihrem Tisch. In den nächsten Stunden verhielt er sich charmant und aufmerksam ihr gegenüber. Er zeigte sich von seiner besten Seite, machte elegant Konversation, leichtfüßig zwischen Freundlichkeit, Flirt und sachlichem Ton wechselnd. Die Inhalte waren von schmetterlingshafter Belanglosigkeit, nette Nichtigkeiten.

"Wäre großartig, wenn alle meine Abende so charmant und unterhaltsam wären. Zu viele Geschäftsessen, ich vergesse die schönen Seiten des Lebens. Erinnerst du dich an das kleine Restaurant in Southwark? Wo wir an der Themse saßen?"

"Meinst du den kleinen Japaner, der in Wirklichkeit aus Peru eingewandert war, bei dem du deine fünf Worte Japanisch angewendet hast? Der dich nicht verstand und seinen offenen Mund nicht mehr schließen konnte?"

Sie prustete los, schlug ihm kameradschaftlich auf den Oberarm und lächelte ihn liebevoll an. Dann wurde sie ernster und nahm seine Hand. "In letzter Zeit frage ich mich zunehmend, warum wir nie zusammengezogen sind. Deine Scheidung ist durch. Wir könnten viel mehr schöne Abende gemeinsam genießen."

Er überlegte und antwortete langsam, geradezu vorsichtig.

"Du hast recht. Eigentlich gibt es keinen Grund."

Er schwieg, und sie sah die sich drehenden Rädchen in seinem Kopf. Bedächtig fuhr er fort:

"Weißt du, wie in Asien Elefanten dressiert werden? Die Elefantenbabys werden mit einer Kette lange Zeit am Fuß gefesselt. Das andere Ende wird an einem Baum befestigt. Nach einigen Wochen entfernen die Betreuer die Fesseln. Die Elefanten verhalten sich ihr ganzes weiteres Leben, als ob sie gefesselt wären."

"Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Du meinst, wir sind die Elefanten?"

"Elefanten sind nicht dumm. Im Gegenteil. Etwas hat in ihrem Kopf geklickt. Ab dem Moment akzeptieren sie den Mangel an Freiheit. Bei uns Menschen ist es ähnlich. Wir reden uns ein, dass unsere Zwänge unserem inneren Wunsch entsprechen. Das bleibt, selbst wenn die äußere Notwendigkeit verschwunden ist."

"Was ist dir über die Leber gelaufen? Du warst den ganzen Abend so fröhlich!"

Er richtete sich in seinem Sessel auf und nahm wieder die gewohnte Pose des Industriekapitäns ein.

"Deine Frage war gut, warum wir nicht alle Abende gemeinsam verbringen. Ich bekomme sie nicht aus meinem Kopf. Aber das ist nicht alles. Im Büro bin ich in einer komplizierten Situation. Indirekt berührt dich das ebenfalls. Was immer passiert, ich verspreche dir, du musst dir keine Sorgen machen."

"Was heißt das? Ich spreche über unsere Beziehung mit dir und du fängst mit dem Büro an. Auf mich hat es Auswirkungen, aber ich soll mir keine Sorgen machen. Im Detail sagst du mir natürlich nichts, könnte ja mein hübsches, leeres Köpfchen überstrapazieren. Was soll der Mist?"

Er seufzte:

"Na gut. Was erwartest du dir von unserer Beziehung? Deine Vorstellungen scheinen klarer als meine zu sein."

"Ich möchte das haben, was sich fast jede andere Frau in meinem Alter wünscht: ein Heim und eine Familie. Ich bin nicht wählerisch. Du weißt, dass ich in einer kleinen Mietwohnung aufgewachsen bin. Dazu gehören ein liebender und fürsorglicher Ehemann, vier Wände, die nicht alle paar Jahre gewechselt werden, und ein oder zwei Kinder. Ich arbeite gerne, und es freut mich, einen erfolgreichen Ehemann zu haben. Ich spreche hier nicht vom Heimchen am Herd, falls du Angst hast."

"Das verstehe ich. Was weißt du über meine Leben vor unserer Zeit?"

Sie zögerte.

"Erstaunlich wenig, wenn ich es überdenke. Ich habe lediglich von einer schwierigen Scheidung gehört."

"Heute werde ich dir die ganze hässliche Wahrheit erzählen. In der Vergangenheit habe ich dir nicht alles berichtet. Zum Teil, weil ich mich geschämt habe. In der Hauptsache, hoffe ich, um dich nicht zu gefährden."

Sie ließ seine Hand los und rückte ab: "Du hast mich angelogen? Um mich zu schützen? Was soll das heißen?"

"Ich bin in einem kleinen Kaff im Mittleren Westen aufgewachsen. Meine Eltern waren arm und froh, ein Maul weniger zu stopfen. Ich habe mich seit der High School selbst ernährt. Nebenbei habe ich es geschafft, einen Bachelor zu machen. Frag nicht nach der Uni, du kennst sie nicht. Sie war billig und ich konnte nebenbei arbeiten. Nach dem Studium war ich Verkäufer für landwirtschaftliche Maschinen, mitten in der Provinz.

Dort habe ich eine Frau kennengelernt, die genauso wie du gerne eine Familie gründen wollte. Sie war nicht die große Liebe, doch nett, gut aussehend und ein anständiger Kerl. Wir haben geheiratet und ein Haus in der Vorstadt mit einer Hypothek gekauft. Wir wollten Kinder haben. Das Haus hatten wir so ausgewählt, dass wir zwei Kinderzimmer hatten. Im Notfall hätten wir ein Drittes abtrennen können."

Laura blieb stumm, vor ihrem geistigen Auge sah sie sich selbst in der kleinen amerikanischen Vorstadt auf John wartend, der vom Büro zurückkehrte. Sie stand am Herd und kochte ihm Hamburger, oder was immer Amerikaner aßen. Wie seine Frau wohl ausgesehen haben mochte?

"Die Kinder blieben aus, die Ärzte konnten nichts finden und sagten, wir wären jung und hätten Zeit. Montag bis Samstagmittag arbeitete ich. Am Samstagnachmittag waren wir beim Baseballspiel unseres lokalen Vereins, Sonntagfrüh in der Kirche, mittags Barbecue. In der Saison habe ich wie alle gejagt. Abgesehen von den Kindern waren wir die all-amerikanische Bilderbuchfamilie."

Laura sah ihre Vorgängerin vor ihrem geistigen Auge. Hatte sie diese Eintönigkeit gemocht, die Vorhersehbarkeit des Lebens genossen? Oder hatte sie krampfhaft versucht, die leeren Stunden auszufüllen?

"Nach einigen Jahren fing das Leben an, mich zu langweilen. Eines Abends in einer Bar, in der ich den Geburtstag eines Kollegen feierte, kam ich mit einem Mann ins Gespräch. Er war auf Durchreise und wollte bald an die Ostküste zurückfliegen. Wir plauderten miteinander, und er erzählte mir, dass er viele Unternehmen im Großraum New York besäße. Er hatte gerade geschäftliche Probleme und klagte mir sein Leid. Ich gab ihm ein paar Tipps, wie er seine Schwierigkeiten lösen könnte. Schließlich tauschten wir die Visitenkarten aus, und ich erwartete, nie wieder von ihm zu hören.

Ein paar Wochen später klingelte das Telefon, und meine Barbekanntschaft war am Apparat. Er bedankte sich herzlich für meine guten Ideen. Dann fragte er, ob ich nicht für ihn arbeiten wolle. Er könne gute Leute immer gebrauchen.

Ich sagte ihm, wenn ich mich verändern sollte, dann richtig. Dafür bräuchte ich den MBA von einer Spitzenuniversität, den ich mir zusammen mit meiner Hypothek nicht leisten könnte.

Er dachte kurz nach und bot mir an, die Kosten für den MBA auszulegen. Mein zukünftiges Gehalt bei ihm wäre doppelt so hoch wie mein jetziges. Von der Differenz könnte ich den MBA bequem zurückzahlen. Hinsichtlich der genauen Tätigkeit blieb er vage. Er meinte, wenn ich den MBA fertig hätte, würden wir schon sehen, wo in seinem Firmenimperium Platz für mich wäre.

Ich sagte spontan zu, falls meine Frau einverstanden wäre. Es schien mir ein Gottesgeschenk zu sein. Eine Chance, die sich im Leben lediglich einmal bietet. Meine Frau war alles andere als begeistert. Der berufliche Wechsel wäre für sie als Lehrerin möglich, jedoch nicht leicht gewesen. Letztlich stimmte sie mir zuliebe zu. Sie hatte, glaube ich, Angst, ich könnte ihr das sonst später übel nehmen."

Lehrerin war sie gewesen, keine einsamen Stunden am Herd. Stattdessen glückliche Kleinstadtkinder auf einer High School. Prom Night, Football und Cheerleader. Damals hatte es keine Amokläufe und Waffenkontrollen am Eingang gegeben.

"Ich hatte Glück, schnell akzeptierte mich eine Eliteuniversität. Während des Studiums lernte ich rund um die Uhr. Meine Frau behielt ihren Job und wir führten eine Wochenendbeziehung. Es war eine schwierige Zeit für uns. Schließlich konnten wir gemeinsam nach New Jersey ziehen."

Aus der Provinz im Niemandsland in die Vorstädte von New York, das musste ein großer Sprung für sie gewesen sein. Der Ehemann nervös und unsicher, die Launen an ihr auslassend. Der Job neu, Freunde und Familie weg. Klang genauso übel wie Lauras eigene Übersiedlung von London nach Deutschland.

"Mit meinem neuen Arbeitgeber hatte ich gelegentlich telefonisch gesprochen. Persönlich hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Es kam der große Tag, an dem ich bei ihm mit dem Master in der Tasche zu arbeiten anfing. Am Freitag hatte ich die letzte Prüfung absolviert und am Montag saß ich in seinem Büro. Es war ein eigenartiges Treffen. Vergiss nicht, ich hatte dem Mann lediglich ein einziges Mal in einer Bar die Hand geschüttelt, nachher nie mehr. Als ich ihn im Tageslicht vor mir sah, hätte ich ihn fast nicht erkannt.

Joseph fragte mich, ob ich in einer prestigeträchtigen Firma einen unbedeutenden Job haben wollte oder lieber in einer prestigelosen Firma der Chef wäre. Ich weiß bis heute nicht, ob es den prestigeträchtigen Job überhaupt gab. Natürlich wollte ich die Nummer eins sein. Allerdings hatte ich nicht erwartet, dass er von einer Mülldeponie sprach, deren Big Boss ich wurde."

Es fiel Laura schwer, nicht laut herauszulachen. Der allzeit korrekte, weltmännische John als Leiter einer Mülldeponie, das war kaum zu glauben.

"Stell dir das nicht falsch vor: eine Baracke auf einer stinkenden Müllhalde, rund um mich Alkoholiker und illegale Immigranten. Ganz im Gegenteil. Ich hatte ein Eckbüro in einem eleganten Bürohochhaus in Newark. Meine Sekretärin war eine attraktive Blondine mit tiefem Ausschnitt, die an mir offensichtlich nicht nur beruflich interessiert war. Mein Operationsleiter saß in der Baracke auf der Mülldeponie, nicht ich. Und es gab einen Vertriebschef mir gegenüber auf der anderen Seite des Ganges.

Bald erkannte ich, dass der Job in jeder Hinsicht anrüchig war. Die Kunden, Gewerbe und Industrie, zahlten uns den fünffachen Preis, der in anderen Gegenden der USA verrechnet wird. Im Gegenzug erhielt der zuständige Einkäufer 10 Prozent in einem Koffer in bar retour.

Es dauerte lange, bis ich merkte, dass dies nicht ausreicht, um die Konkurrenz fernzuhalten. Ein langjähriger Mitarbeiter nahm mich eines Abends bei einem Bier zur Seite. Manchmal bot eine ahnungslose Firma aus einem anderen Bundesstaat einen niedrigeren Preis als wir an. Dann trat unser Vertriebschef in Aktion. Er schickte einen spezialisierten Außendienstmitarbeiter zu diesem Konkurrenten. Dieser arbeitete offiziell nicht für uns, sondern für eines von Josephs Bauunternehmen. Zumeist hatte er eine gebrochene Nase und einen Revolver unter der Achsel. Falls unser Mitbewerber schnell von Begriff war, zeigte er ihm nur, was passieren könnte. Wenn nicht, schlug er ihn krankenhausreif.

In einigen Fällen soll das nicht gereicht haben. Beim nächsten Mal fuhr ein zweiter Kollege von der Baufirma mit. Sie lauerten dem Mann auf und verfrachteten ihn gewaltsam in ihren Lieferwagen. Der Körper wurde in das Fundament eines neuen Gebäudes eingegossen, das die Baufirma errichtete."

Laura saß reglos da. Sie wartete darauf, dass Johns düsteres Gesicht sich aufhellte und er ihr lachend erklärte, dies wäre ein geschmackloser Witz. Ungerührt fuhr er fort:

"Wie gesagt, lange wusste ich das nicht. Mir fiel nur auf, wie hoch die Gewinne des Unternehmens waren. Mein Vertrauensmann erklärte mir, dass Joseph ein rangniederes Mitglied der Mafia wäre. Die würde in der Gegend das Bauwesen und die Mülldeponien kontrollieren.

Ich fand heraus, warum ich die Position des Unternehmensleiters bekommen hatte. Mein Vorgänger war wenige Monate vor meinem Arbeitsbeginn spurlos verschwunden. Mit ihm seine Frau und beide Kinder. Offiziell hieß es, er wäre nach Argentinien ausgewandert. Niemand hatte jemals wieder von ihm gehört. Anscheinend hatte er sich mit Joseph zerstritten, vielleicht Skrupel bekommen. Ich vermute, dass Joseph mich ursprünglich für eine andere Position engagieren wollte und seine Pläne kurzfristig änderte."

Es fiel Laura schwer, Johns Ausführungen zu folgen. Ihn sich als Mitarbeiter eines Mafioso vorzustellen - unmöglich.

"Die Frau umzubringen verstößt bei der Mafia gegen die guten Sitten. Kleine Kinder ermorden nur die Südamerikaner. Daher waren sich die meisten nicht sicher. Ich habe es ihm zugetraut. Für mich war Joseph sehr binär. Freunde liebte und unterstützte er, Feinde wollte er am liebsten ausrotten.

Versetz dich in meine Lage. Du ziehst mit deiner Familie weit weg und schuldest deinem Arbeitgeber einen Haufen Geld. Plötzlich realisierst du, dass dein Sponsor ein Monstrum und Mörder ist!"

Wie ein Automat saß sie da, unfähig, sich selbst oder ihre Handlungen zu steuern. Ihr Mund fragte tonlos:

"Wie viele Männer hast du umbringen lassen?"

"Niemanden, dafür war der Vertriebschef zuständig. Das macht es nicht besser, aber lange Zeit hatte ich keine Ahnung."

Ihr Körper verweigerte sich jeder Bewegung, lediglich ihr Mund hatte nicht das notwendige Taktgefühl, zu schweigen oder besser noch, in Heulen und Wehklagen auszubrechen.

"Und was sagte deine Frau?"

"Der erzählte ich nichts. Sie hätte darauf bestanden, dass ich sofort meine Tätigkeit beendete. Mir stand das Schicksal der Familie meines Vorgängers vor Augen. Eine Kündigung hätte Joseph als Kriegserklärung empfunden. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn. Ich dachte lange darüber nach, was ich am besten machen sollte. Schließlich sah ich mich vor die Wahl gestellt, entweder unsere Ehe oder unser Leben zu retten. Im Nachhinein war das wahrscheinlich eine Fehleinschätzung. Damals fiel mir nichts Besseres ein."

Was hätte sie gemacht? Was hätte er machen können und müssen? John war kein Verbrecher, dafür kannte sie ihn zu gut. In Anbetracht der Vorgeschichte konnte sie hingegen nicht verstehen, dass John sich über seinen mysteriösen Arbeitgeber nicht informierte, bevor er zusagte. Wie verzweifelt musste er in seinem Provinzleben gewesen sein, um seine Augen dermaßen zu verschließen! Und eines Tages wachte er auf und die Scheuklappen hatten ihren Dienst versagt.

"In den nächsten Wochen fing ich an, mich meiner Frau gegenüber wie ein Schurke zu benehmen. Mit meiner Sekretärin ging ich so auffällig ins Bett wie möglich. Es kam, wie es kommen musste und sollte. Eine Eheszene reihte sich an die andere. Nach etlichen Wochen zog meine Frau unter Tränen zu ihrer Mutter.

Ich ließ etliche Monate vergehen. Lautstark beklagte ich mich bei Joseph über das Unverständnis der Frauen. Zugleich achtete ich darauf, nicht zu übertreiben. Meine ursprüngliche Absicht war es, nach einiger Zeit in Europa unterzutauchen. Doch es kam anders.

Eines Abends während einer Geschäftsreise in einer Bar wurde ich von einem Mann angesprochen. Er hatte einen Anzug aus dem Kaufhaus und schreckliche Schuhe. Er bat mich, mitzukommen. Wir setzten uns zu einem anderen Mann an einen abseits gelegenen Tisch. Mein Gesprächspartner wies sich als Mitarbeiter des FBI aus. Ziel seiner Untersuchung wäre es, mich wegen der mehrfachen Beihilfe zum Mord und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung anzuklagen. Zu erwartendes Strafausmaß: 100 - 250 Jahre.

Nach dieser Eröffnung bot er mir den offensichtlichen Ausweg an. Er erklärte, ich sei ein unbescholtener Bürger und wäre in schlechte Gesellschaft geraten. Ob ich Interesse hätte, als Kronzeuge zu fungieren?"

Laura konnte sich gut vorstellen, wie begeistert John bei diesem Angebot gewesen sein musste. Er hatte sich in eine Sackgasse manövriert, alle seine Träume von Karriere und Familie zerstoben. Vor ihm stand ein Lebensweg, der durch den wechselnden Aufenthalt in Hinterzimmern von Pizzerias und Gefängniszellen gekennzeichnet sein würde.

"Um es dem FBI nicht zu leicht zu machen, zögerte ich. Am Ende des Abends waren die nächsten Schritte verabredet. Etliche Monate machte ich den Spitzel. Das war der nächste moralische Tiefpunkt meines Lebens. Gott sei Dank war das irgendwann vorbei, und ich konnte endlich im Zeugenschutzprogramm untertauchen.

Wie sich bald herausstellte, reichten meine Informationen nicht aus. Sie hätten Einkaufszentren abreißen müssen, um die Überreste der Leichen im Fundament zu finden. Aus Kostengründen ging das nicht. Der Staatsanwalt klagte Joseph und den Vertriebschef nicht an. Einige der für Joseph tätigen Killer wurden wegen illegalen Waffenbesitzes und anderer kleiner Vergehen zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Durch Amnestien und wegen der notorischen Überfüllung der Gefängnisse musste keiner von ihnen länger als zwei Jahre sitzen.

Solltest du glauben, dass ich über diesen unspektakulären Verlauf der Ermittlungen traurig war, muss ich dich enttäuschen. Während der Verhandlungen lebte ich in einem schäbigen Motel Zimmer. Viele Monate verbrachte ich in einem einzelnen Raum mit 16 Quadratmetern und zwei Polizisten. Ich konnte nicht auf die Straße gehen, und zum Essen gab es entweder Pizza oder chinesische Lieferdienste, tagein, tagaus. Wenn die Verhandlung spektakulär gewesen wäre, wäre sie in die nächste Instanz gegangen. Berufung wäre auf Berufung gefolgt. Zu dem Hauptprozess wären Folgeprozesse gekommen. Mit etwas Pech kann das zehn Jahre dauern. In meinem Fall war der Spuk nach sechs Monaten vorbei. Joseph und die Leibwächter schworen mir ewige Rache. Mein Tod sollte der qualvolle Höhepunkt ihrer Laufbahn werden. Ich blieb still, um ihren Zorn nicht auf meine Frau zu lenken und freute mich, mein eigener Herr zu sein."

"Und was hat deine Frau dazu gesagt, dass du plötzlich Kronzeuge in einem Mafiaprozess warst?"

John schwieg, aber nicht, als ob er nachdächte. Vielmehr war er in sich versunken, seine Empfindungen des letzten Treffens mit seiner Ehefrau wiederholend.

"Es war der liebevollste Moment, den wir in unserer Beziehung hatten. Meine Frau stand unangekündigt an einem Wochenende während einer Verhandlungspause vor meiner Motel Tür. Die FBI-Beamten hielten das für eine Falle und wollten sie auf den Boden werfen und nach Waffen durchsuchen. Einer von ihnen hatte ihr Foto in meinen Akten gesehen und erkannte sie. Nach Rücksprache öffnete er und ließ uns alleine.

Meine Frau berührte mich nicht und setzte sich auf den Sessel mir gegenüber. Lange Zeit blickte sie mich an, sehr lange, es mögen zehn Minuten vergangen sein. Sie sagte lediglich einen Satz: ‚Du bist mit der Schlampe ins Bett gegangen, um mich zu beschützen, nicht wahr?’

Ich antwortete nicht, schaute sie nur an. Sie brach in Tränen aus, sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Der FBI-Beamte wollte sie aufhalten. Er dachte, sie hätte mir etwas angetan, so aufgelöst war sie. Als er mich unverletzt und unbewegt am Tisch sitzen sah, ließ er sie los. Ich sah sie nie wieder."

Beide schwiegen eine Zeit und vermieden es, sich anzublicken. Liebte John seine erste Frau noch? New Jersey hatte ihn verändert. Dem neuen John Swansea fehlte eine Komponente, die andere Menschen besaßen, wie ein Drucker, dem eine Farbe ausging.

"Ich bekam meinen jetzigen Namen ‚John Swansea‘ verpasst und dazu einen unbemerkenswerten Lebenslauf. Das amerikanische Militär hat nicht viele MBAs von Spitzenuniversitäten in seinen Reihen, dafür zahlt es zu schlecht. Bei mir waren sie der Meinung, ich wäre in die Geschichte naiv hineingeraten und im Grunde unschuldig. Für sie war ich ein guter Fang, ein leicht beschädigtes Spitzenprodukt zum Diskontpreis.

Joseph hatte auf meinen Kopf eine bemerkenswerte Prämie ausgesetzt. Der Diskretion des Schutzprogramms und der mir neu verliehenen Identität vertraute ich begrenzt. Deswegen war ich froh, einige Zeit in einem militärisch abgesicherten Komplex mit streng limitiertem Zutritt mitten in der Wüste zu leben. Im Gegenzug nahm ich eine langweilige und unterbezahlte Tätigkeit gerne in Kauf.

Schritt für Schritt konnte ich die meisten meiner Fesseln abwerfen. Die Angst vor Joseph reduzierte sich mit der Zeit. Seit seinem Tod durch einen Herzanfall kann ich theoretisch unbeschwert leben. Den militärischen Sektor verließ ich danach und wurde ungeschützt im zivilen Bereich tätig. Nur die Beziehungsangst, die steckt weiter in mir drinnen. Nie wieder will ich einen geliebten Menschen meinetwegen einer Gefahr aussetzen."

"Ganz verstehe ich dich nicht. Die Gefahr ist vorüber, das hast du selbst gesagt. Wodurch sollte ich gefährdet werden?"

"Ich weigere mich bis heute, New York zu betreten. Joseph ist tot, seine Gangster leben teilweise noch."

"Es gibt die Minimalchance, dass du einen der Killer von damals triffst und der dich aus dem Rollstuhl erschießt. Die Taxifahrt vom Flughafen ist statistisch viel gefährlicher. Deiner Logik folgend, müsstest du mir strikt verbieten, jemals mit dem Taxi zu fahren."

"Du glaubst, dass ich übervorsichtig bin?"

Langsam antwortete sie:

"Ich weiß nicht, ob das die richtige Interpretation ist."

Prüfend blickte er sie an, wandte die Augen ab und murmelte:

"Gib mir Zeit. Immerhin bin ich mit dir in dieses Lokal gekommen, wo uns jeder kennt. Ein erstes Mal, wie du anerkennen musst."

"Ich möchte dich nicht unter Druck setzen. Aber ich möchte auch nicht, dass wir beide uns wegen eines eingebildeten Schattens ducken."

Jetzt sah er in ihre Augen:

"Das verstehe ich. Ein alter Elefant wie ich muss langsam die Fesseln abwerfen, die er zwanzig Jahre lang zu spüren geglaubt hat. Ich fühle, wie sie rutschen."

Innerlich jubilierte sie. So schockiert sie vor wenigen Minuten gewesen war, jetzt platzte sie fast vor Freude. Sie wollte es nicht übertreiben und wechselte das Thema, zufrieden mit ihrem Erfolg.

"Etwas anderes. Vorhin erwähntest du, deine momentanen beruflichen Aktivitäten würden mich indirekt berühren, doch ich sollte mir keine Sorgen machen."

"Schatz, ich kann und darf dir nicht alles erzählen, was wir bei RSS diskutieren. Ich verspreche dir, dass du dir keine Sorgen machen musst."

"Du traust mir nicht zu, ein Geheimnis für mich zu behalten?"

"Natürlich traue ich dir das zu. Nur habe ich gerne eine klare Trennung zwischen Beruf und Privatleben. Mit der Arbeit beschäftige ich mich zwölf Stunden pro Tag und oft genug am Wochenende. In den limitierten Stunden meiner Freizeit will ich mich ausschließlich mit Nicht-Berufsfragen beschäftigen."

Sie wechselte das Thema, denn er würde störrisch bleiben und sie hatte selbst kein reines Gewissen. Der Rest des Abends gehörte angenehmen Nichtigkeiten und erstmalig seit Langem verbrachten sie die Nacht miteinander.