Friedrich Stuck saß am frühen Abend allein in seinem Büro. Seine Sekretärin wäre schockiert, hätte sie ihn gesehen. Er hatte die Füße auf seinen Schreibtisch gelegt, die Krawatte gelockert und ein Whiskeyglas vor sich. Er brauchte eine Pause. Seine Tage waren von Feuerwehreinsätzen geprägt, eine Krisensitzung jagte die nächste. Kunden drohten zunehmend lauter mit Auftragsentzug, die bisher vernünftigen Gewerkschaften wollten unverschämte Betriebsabkommen einführen. Alle wollten damit an die Öffentlichkeit gehen. Noch konnte er seine Probleme geheim halten. Der Tag zeichnete sich ab, an dem dies nicht mehr möglich wäre.
Das laufende Quartal war dank des bestehenden Auftragspolsters nicht beeinträchtigt, die neuen Abschlüsse fehlten hingegen vollständig. Zwei Monate würde er die Malaise vertuschen können. Dann müsste er eine Gewinnwarnung publizieren, um sich nicht wegen Verheimlichung kursrelevanter Informationen strafbar zu machen. Nach Ablauf dieser Galgenfrist würde der Aktienkurs der LS Technologies dramatisch sinken. Rufe nach einer strategischen Lösung würden laut werden. RSS könnte als weißer Ritter auftauchen und scheinbar großzügig einen niedrigen Preis offerieren. Swansea würde von allen als Retter in der Not gepriesen werden. Stucks Überzeugung, das Unternehmen sei unterbewertet, würden die Analysten milde belächeln. Seine Glaubwürdigkeit wäre durch die erwiesenen Misserfolge der letzten Monate ruiniert.
Die Zeitbombe tickte zunehmend lauter, und sein Verhalten wurde erratisch. Bei etlichen Besprechungen war er sprunghaft und unfreundlich gewesen. Wenn sein Team in Sitzungen keine Lösungen fand, zeigte er schnell seine Ungeduld. Seine Mitarbeiter vermieden es zunehmend, ihm zu widersprechen oder schlechte Nachrichten zu übermitteln. Dr. Stuck hatte zudem keine Erfahrung mit Situationen, denen er sich nicht gewachsen fühlte. Wenn ihm nicht bald etwas einfiele, würde er das Spiel gegen Swansea verlieren, das war die einzige Gewissheit.
Der Abgrund raste auf ihn zu, und ohne Kursänderung würde er zerschellen. Wie konnte er das Steuer herumreißen? Erster Schritt: Verstehe deinen Feind. Er hob den Hörer seines zweiten Telefons ab, dessen Leitung laut Markowski gesichert war. Dieser hatte etwas von VPN, VoIP und anonymen Servern gesprochen. Auf Nachfrage hatte er eingestanden, dass die Sicherung nur gegenüber Privaten funktionieren würde. Einen Geheimdienst könne er damit nicht täuschen. Daher hatte Markowski empfohlen, die sichere Leitung selten zu benützen. Die Unkenntnis über deren Existenz wäre der beste Schutz. Nach dem dritten Ton hob Martin Auer am anderen Ende ab. Er war ein Kommilitone von Friedrich Stuck und derzeit Werkleiter bei BMVV. Nach einer kurzen Begrüßung und den üblichen Fragen über Gesundheit und Familie kam Friedrich Stuck schnell zur Sache.
"Martin, kannst du gerade frei sprechen?"
"Klar, schieß los."
"Bei mir passiert etwas Eigenartiges. Ihr seid einer der letzten Kunden, der nicht bei mir auf der Matte steht und mit vorzeitiger Vertragskündigung droht. Dabei haben wir nirgends Qualitätsprobleme."
"Ich habe die Statistiken für letzte Woche nicht gesehen. Bis zur Vorwoche wart ihr so gut wie eh und je. Keiner meiner Leute hat sich beschwert. Warte einmal, lass mich die Unterlagen am Computer hervorholen."
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:
"Da habe ich euch. Vor mir sehe ich eine Zeitreihe unseres Lieferantenindexes für die letzten 18 Monate. Ihr seid konstant Kopf an Kopf mit Bosch auf der Spitzenposition. Ich sehe keine Veranlassung für Klagen, ihr seid besser als andere Lieferanten. Falls der Preis stimmt, würde ich vermuten, dass ihr beim neuen Modell einen noch größeren Anteil am Kuchen bekommt. Von uns hast du keine Probleme zu erwarten."
"Wir tauschen mit fast allen Kunden regelmäßig die Qualitätsdaten aus. Überall sind wir top."
"Warum beschweren sich deine Kunden dann?"
"Lauter schwammige Probleme, schwer zu entkräften, keine Key Performance Indicators. Der Eine zweifelt an der UV-Beständigkeit der Farben, die seines Erachtens anders ausschauen als früher. Der Nächste beklagt sich, dass einer unserer Lkw-Fahrer, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann, eine Alkoholfahne gehabt hätte. Der Andere findet die Komponenten der Konkurrenz, die seit Jahren unverändert hergestellt werden, technisch innovativer als unsere. Wieder der Nächste hat Sorgen, dass unsere Fabrik in einem Erdbebengebiet stünde. Einer hat Gerüchte gehört, dass unsere Arbeiter einen Generalstreik planten.
Jedes einzelne Argument lässt sich entkräften. Die UV-Beständigkeit jeder Charge wird vom TÜV verifiziert. Wir führen regelmäßig unangekündigte Alkohol- und Drogenkontrollen bei unseren Fahrern durch. In der Gegend, in der die Fabrik steht, wurde seit Beginn der Geschichtsschreibung kein Erdbeben vermeldet. Sobald ich das erzähle, finden sie die nächste potenzielle Verschlechterung. Nach der Eliminierung kleiner und großer Pseudoprobleme bleibt ein Nachgeschmack haften."
"Jetzt ist die Stelle gekommen, an der wir den offiziellen Teil unserer Unterhaltung beenden sollten. Was ich dir nun erzähle, hast du nie von mir gehört."
"Das hatte ich gehofft, dass es einen inoffiziellen Part gibt, der Licht in die Sache bringen kann ..."
"In der Branche gibt es eine schwarze Liste der Lieferanten, wie du dir vorstellen kannst. Die Liste existiert nicht in gedruckter Form, das wäre juristisch verfänglich. Wir sind harte Konkurrenten, und im Normalfall bekämpfen wir uns bis aufs Messer. Es gibt jedoch private Treffen, bei denen wettbewerbsneutrale Trends besprochen werden. Diese Treffen werden von Beratungsfirmen organisiert, die ein monatliches Mittagessen veranstalten und Branchenvertreter einladen. Bei den Gesprächsthemen achten wir darauf, nichts zu besprechen, was von der EU als Absprache im weitesten Sinne verstanden werden könnte. Da stehen Strafen in dreistelliger Millionenhöhe darauf. Es gibt Gesprächsbereiche, die uns interessieren und kartellrechtlich unbedenklich sind.
Wir tauschen Einschätzungen bezüglich der allgemeinen Nachfrageentwicklung, technologischen Trends, Managementrochaden und Lieferantenthemen aus. Bei den Lieferanten steht der Tratsch im Vordergrund. Wo wird die Führung ausgetauscht, welche Gewerkschaften wollen streiken, und bei wem besteht ein Insolvenzrisiko.
In der Vergangenheit war LS Technologies selten ein Gesprächsthema. Jeder kennt euch als zuverlässig und vertrauenswürdig. Seit einem Monat zirkulieren hingegen Gerüchte über euch. Das meiste davon ist vermutlich Unsinn. Es heißt, die Ludwig Steiner Stiftung wolle ihren 30 Prozent Anteil am Unternehmen verkaufen und hätte deswegen die Investmentbank JP Greenfall engagiert. Als Ursache für den Verkaufswunsch der Ludwig Steiner Stiftung wird angegeben, dass sich diese in der Finanzkrise 2008/09 verspekuliert hätte und einer der größten Investoren bei Bernie Madoff gewesen wäre. Die Verluste aus dieser Zeit wären durch hart am Rand der Legalität stehende Bilanztricks verschleiert worden. JP Greenfall hätte Spezialinstrumente aufgelegt, die dazu dienen sollten, Zeit zu gewinnen. Die Beteiligung an LS Technologies würde zu einem historisch bedingt niedrigen Wert in den Büchern der Stiftung stehen. Im Fall eines Verkaufes von LS Technologies würden sich der Gewinn aus dem Verkauf der Aktien und der Verlust aus den Fehlspekulationen ungefähr aufheben. Der Stiftungsrat könnte sich dadurch peinliche Fragen ersparen.
JP Greenfall wäre mittlerweile nervös geworden und hätte die Stiftung gezwungen, ihre Anteile an LS Technologies in diesem Kalenderjahr zu verkaufen. Es heißt, JP Greenfall wäre dabei, mit Interessenten zu sprechen. Es zeichne sich ab, dass die Käufer nicht nur 30 Prozent übernehmen wollten, sondern ein Angebot für die Aktienmehrheit beabsichtigten. Favorit solle RALC sein, der wie du weißt, einer der größten chinesischen Autohersteller ist. Du wärest vehement gegen diesen Verkauf und würdest zurücktreten, sollte er stattfinden.
Die Gewerkschaften hätten unter der Hand von der beabsichtigten Transaktion gehört und stünden ihm negativ gegenüber. Im Fall des Verkaufs beabsichtigten sie einen Generalstreik, da sie nicht in chinesische Hände gelangen wollten.
Für uns Autohersteller ist die Situation fatal. LS Technologies ist für die meisten von uns ein strategischer Lieferant. Sollten die kolportierten Gerüchte sich bewahrheiten, wären wir alle betroffen. Kurzfristig brächte uns ein Lieferstopp wegen des Generalstreiks in die Bredouille. Mittelfristig würde der Abgang des allseits hoch geschätzten Topmanagements, damit spreche ich von dir, mein Lieber, die Innovationskraft schwächen. Für keinen von uns wäre es akzeptabel, von einem unserer Konkurrenten mit Kernkomponenten beliefert zu werden. RALC ist in China dabei, ihre Nobel-Tochter Mova direkt gegen uns zu positionieren.
Das dürfte der Grund für die mysteriösen Reaktionen sein, denen du dich ausgesetzt siehst. Bei BMVV nehmen wir das gelassener wahr und wollen sehen, ob sich hinter dem Rauch ein Feuer verbirgt. Von etlichen unserer Konkurrenten weiß ich, dass sie nervös sind, und für den Fall des Falles gerüstet sein wollen. Konkret heißt das, dass sie für alle Komponenten einen zweiten Lieferanten suchen, der im Falle eines Generalstreiks einspringen kann. Für neue Ausschreibungen besteht das Interesse, europäischen und amerikanischen Lieferanten den Vorzug zu geben."
"Die Geschichte klingt plausibel. Einziger Nachteil: Alles ist vom Anfang bis zum Ende erstunken und erlogen. Ich bin nicht-stimmberechtigtes Mitglied im Vorstand der Ludwig Steiner Stiftung und kann dir versichern, dass die finanzielle Lage der Stiftung hochsolide ist. Weder hat sie je bei Madoff investiert, noch existiert eine Geschäftsbeziehung mit JP Greenfall, seien es halblegale Anlageinstrumente oder Investmentbank-Dienstleistungen.
Folglich hat die Stiftung keine Absichten, die Anteile an LS Technologies zu verkaufen. Da sie dies nicht beabsichtigt, hat weder RALC noch ein anderer Autohersteller Interesse bekundet, das gesamte Unternehmen zu kaufen. Ergo habe ich keine Intentionen, meinen Vorstandsvertrag vorzeitig zu beenden. Last, but certainly not least, sind unsere Beziehungen zur Belegschaft herzlich wie immer. Niemand beabsichtigt einen Generalstreik."
"Es freut mich, das zu hören. Ganz ehrlich: Würdest du es wirklich wissen, wenn die Stiftung klammheimlich mit den Chinesen verhandeln würde?"
"Bei einem Unternehmen wie LS Technologies ist ein Gesamtverkauf ohne Einbindung des Chefs technisch nicht möglich. Da das nicht der Fall ist, ist die pragmatische Antwort: Er findet nicht statt."
Martin Auer war hörbar wenig überzeugt von den Beteuerungen Friedrich Stucks, blieb jedoch höflich.
"Es freut mich, dass die Gerüchte unsinnig sind. Du solltest diese Information an die Werkleiter und Chefeinkäufer aller Kunden persönlich kommunizieren. Letztlich basiert sie auf deiner Glaubwürdigkeit und deinem hohen Prestige in der Branche."
Es war eine nette Art, zu sagen, dass Friedrich Stuck in der Branche erledigt wäre, würde er ihn anlügen.