Nach dem Aufwachen sah Laura ein großzügiges, leer wirkendes Schlafzimmer. Folglich war sie bei John. Immer noch empfand sie es als sein Haus, nicht ihr gemeinsames Heim. Das musste sich ändern! Es war Samstag, und John hatte keine Termine. Prompt schnappte sie ihn bei der Hand und schleppte ihn zu IKEA, sie wollte nicht auf Lieferungen warten müssen. Der Transport des Einkaufs mit seiner Vorstandslimousine scheiterte fast an der nicht umklappbaren Rückbank.
"Warum fährst du so ein teures Auto, wenn du nicht einmal ein langes Paket damit befördern kannst?"
"Vermutlich gehen die Hersteller davon aus, dass meine Dienerschaft die Transporte für mich erledigt."
Bald eruierte sie einen weiteren Grund für die Gestaltung deutscher Luxuskarossen, falls John idealtypisch wäre. Deren Nutzer schienen schlichtweg nicht in der Lage zu sein, Selbstbaumöbel zusammenzubauen. John war absolut unfähig, einen Schraubenzieher zu benutzen, was unter anderem daran lag, dass er keinen besaß. Der Zweifel an den rollenspezifischen Fähigkeiten des anderen war beidseitig. John hatte sich im Vorfeld des Zusammenlebens darauf gefreut, von Laura verköstigt zu werden. Zu seiner Überraschung stellte sich heraus, dass Laura nicht kochen konnte. Selbst das Auftauen einer Tiefkühlpizza stellte sie vor fast unlösbare Herausforderungen.
"Ich esse mittags in der Kantine, abends gibt es Brote und am Wochenende gehe ich weg. Wann soll ich kochen?"
Leichtfüßig meisterten sie die Schwierigkeiten des Alltags. Laura stellte fest, dass ihre Fähigkeiten ausreichten, Croissants im Backofen aufzuwärmen. Auf einem eigens angeschafften Silbertablett mit Damast Tuch servierte sie John täglich ein leckeres Frühstück. Bald hatte sie ein Gefühl dafür entwickelt, wann sie aufstehen musste, damit ihnen Zeit für ein anschließendes Schäferstündchen bliebe.
John zeigte sich seinerseits von der kavalierhaften Seite. Fast kein Abend verging, an dem er ihr nicht eine kleine Aufmerksamkeit mitgebracht hätte. Mal war es eine einzelne Rose, dann ein geschmackvolles Gesteck vom besten Blumengeschäft der Stadt, dann Ohrringe oder eine originelle Vase.
Sein Verhalten führte ihr anschaulich vor Augen, warum sie sich seinerzeit in ihn verliebt hatte. In den letzten Jahren hatten sich liebevollen Gesten erheblich reduziert. Laura war zur erwachsenen Frau gereift, vielleicht hatte das zu der Veränderung beigetragen. Jetzt besannen sich die beiden wieder ihrer ursprünglichen Qualitäten in der Beziehung.
"Ach, was waren wir dumm, dass wir nicht schon früher zusammengezogen sind. Das macht so viel Spaß! Mir ist, als ob wir uns erst vor einer Woche kennengelernt hätten und frisch verliebt wären."
"Zunehmend glaube ich, nicht ein alter Elefant zu sein, sondern ein alter Esel. Warum bin ich nicht früher auf die Idee gekommen, mit dir gemeinsam zu wohnen? Wir haben viel verpasst!"
Es gab Tabuthemen, die beide nicht berührten. Die vergangenen Übernahmegespräche waren eines davon. Für Laura war das nicht problematisch, ihr waren die Entwicklungen seit dem offiziellen Ende der Akquisitionsdiskussionen nicht bekannt. Das Kapitel war für sie abgeschlossen. John seinerseits hatte keine Ahnung, dass Laura jemals darüber informiert gewesen war.
Für Laura viel wichtiger war das andere sensitive Thema: Kinder. Sie war fest entschlossen, eine Familie zu gründen. John hatte sich in der Vergangenheit reserviert gezeigt, verständlich in Anbetracht seines Alters. Zu Beginn wollte sie ihr Glück nicht mit polarisierenden Diskussionen trüben. Stetig schob sich das Thema weiter in den Vordergrund. Etliche Male hatte sie erst in letzter Sekunde gezögert, es zur Sprache zu bringen. Zunehmend stärker spürte sie den Druck, ihn anzusprechen.
Beide hielten ihre Beziehung zudem nicht mehr geheim, sondern trafen sich öffentlich. Sie hatten jedoch keinen gemeinsamen Freundeskreis. Dies lag nicht zuletzt daran, dass beide wenige persönliche Freunde hatten. Claudia Passner, Johns Sekretärin, war sich Lauras Existenz sehr bewusst. Zwar rief Laura nie über die Amtsleitung an, sondern nur über sein Mobiltelefon, doch war sie intensiv mit dem Erwerb von Geschenken für Laura beschäftigt. Die Ideen kamen zumeist von John Swansea, die Realisierung überließ er ihr. In ihrem Arbeitszimmer hatte sie einen Ablagebereich in einem Schrank abgetrennt, der für seine Geschenke reserviert war. Fertig verpackt lag eine Zahl von Paketen unterschiedlicher Größe auf den Regalen. Jedes einzelne von ihnen war säuberlich mit einem Post-It beschriftet, um den Inhalt zu dokumentieren. Bei Terminvereinbarungen achtete sie darauf, John zur Abendessenszeit nach Hause zu schicken. Allerdings besuchte John Swansea berufliche Veranstaltungen "mit Begleitung" weiterhin alleine.
Lauras Kollegen fiel vor allem der Wechsel in ihren Kleidungsgewohnheiten auf. Aus dem ehemaligen grauen Entchen war ein Schwan geworden. Swansea liebte es, sie in schöner Kleidung zu sehen, wie sie erstaunt und mit vielen Jahren Verspätung feststellte. Sie verbrachten viele Wochenenden in den teuren Boutiquen nicht nur ihrer Stadt, sondern vor allem der nächsten Metropole. Dort deckte John sie mit den feinsten Tüchern und Schuhen ein. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie sich zu einer guten Modekennerin entwickelt und bekam eine zunehmend sichere Hand in der Auswahl ihrer Accessoires.
In Johns Haus okkupierten ihre Kostüme von Chanel, Taschen von Vuitton und Prada, Tücher von Hermês und Schuhe von Louboutin einen wachsenden Anteil des Schrankvolumens. Es war absehbar, dass eines der leeren Zimmer zur begehbaren Garderobe für sie umfunktioniert werden müsste. Diesmal verzichteten beide auf den Versuch, selbst tätig zu werden. Stattdessen organisierte Frau Passner einen standesgemäßen Innenarchitekten.
Während John Swansea sich desinteressiert im Hintergrund aufhielt, hatten sich mit dem Innenarchitekten und Laura zwei verwandte Seelen gefunden. Als erstes Projekt nahmen sie sich des mangelnden Stauraumes an. Während der Tischler noch auf die Lieferung des Wengefurniers wartete, schmiedeten die beiden bereits Pläne zur Umstrukturierung großer Teile des Hauses. Der Architekt versuchte erfolglos, die Dollarzeichen in seinen Augen nicht zutage treten zu lassen. John schien sich mit dem finanziellen Aderlass abgefunden zu haben und beschwerte sich selten. Das Paar nutzte die Zeit des Umbaus für einen spontanen Urlaub auf den Seychellen, der harmonisch und erholsam verlief.
Von Dr. Stuck hatte Laura seit ihrer letzten Besprechung vor einigen Monaten nichts mehr gehört. Sie schloss daraus, dass es keinen weiteren Handlungsbedarf gäbe und das Kapitel Übernahme abgeschlossen sei. Ihr war es recht, das reduzierte die Komplexität ihrer Privatsphäre ungemein. Angestrengt vermied sie alle Gedanken an das Thema.