Lauras Unschuld by Hugo C - HTML preview

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ROTKÄPPCHEN

Kurz nach Johns Rückkehr von den Seychellen besuchten er und Friedrich Stuck scheinbar unabhängig voneinander einen Empfang der Bürgermeisterin. Formaler Anlass war die Eröffnung eines neuen Traktes des städtischen Pflegeheims. Sie hatten ihre Teilnahme an der eigentlich unbedeutenden Matinee zugesagt, um unverdächtig miteinander sprechen zu können. Das Bürgermeisteramt, das die beiden Honoratioren aus höflicher Gewohnheit in Erwartung einer Absage eingeladen hatte, war freudig überrascht. In der Vergangenheit hatten sowohl RSS wie auch LS Technologies wenig Interesse für lokale Belange gezeigt, da ihre städtische Präsenz auf die zentrale Verwaltung beschränkt war. In der Regel wurden sie von der Stadtverwaltung nur kontaktiert, wenn diese Sponsorengelder aufzutreiben suchte. Ein Gespräch mit der Bürgermeisterin war für die Topmanager entweder kostspielig oder lästig. Im Gegenzug hatte die Stadt wenig zu offerieren.

Daher hatte die Leiterin des Bürgermeisteramtes sofort nach Erhalt der unerwarteten Zusage der beiden ihre Chefin gebrieft. Gemeinsam waren sie den Katalog offener Finanzierungsfragen durchgegangen, für den sie die Unternehmen als Sponsoren zu gewinnen hofften. Durch die Wirtschaftskrise der letzten Jahre war das lokale Steueraufkommen erheblich gesunken. Verknüpft mit einigen äußerst peinlichen Bauskandalen, die ihren Amtsvorgänger im Bürgermeisteramt den Kopf gekostet hatten, führte das zu einer perpetuellen Ebbe in der Kasse des Stadtkämmerers. Die Bürgermeisterin war keine Anhängerin von öffentlich-privaten Kofinanzierungen, die ihres Erachtens beiden Seiten unzumutbare Kompromisse abverlangten. Die Schlagseite ihre Budgets ließ ihr hingegen keine andere Wahl, als betteln zu gehen.

Sie erwartete folglich eine gewisse Schnorrresistenz seitens der Wirtschaftskapitäne und war nicht überrascht, als die beiden mehrmals Anstalten machten, sich von ihr zu absentieren. Gnadenlos lächelte sie die Männer an und hielt sie sogar physisch fest, ein Frauen vorbehaltenes Vorrecht, das zu nutzen sie gelernt hatte. Die Bürgermeisterin hatte die Amtsleiterin angewiesen, die beiden Herren aufmerksam mit Rotkäppchensekt und Canapés zu versorgen. Die vornehme Zurückhaltung der beiden ließ sie nicht gelten. Persönlich reichte sie ihnen neue Gläser, pausenlos auf sie einredend, um sie von der Notwendigkeit der Unterstützung der städtischen Projekte zu überzeugen.

Schließlich entschuldigte sich Dr. Stuck mit dem Hinweis, dass er die Toilette frequentieren müsse. Dankbar nahm John Swansea den Wink an und meinte, dass in Zeiten der Emanzipation die Herren sich angewöhnt hätten, ebenfalls gemeinsam diesen Ort zu besuchen. Wie zwei Schuljungen, die einem Lehrer einen Streich gespielt hatten, blickten sich die beiden in den Sanitärräumlichkeiten an.

"Ich dachte, die hört gar nicht mehr auf."

"Ich befürchtete, sie wollte mit uns auf das Pissoir kommen."

"Wahrscheinlich steht sie draußen vor der Tür und wartet auf uns."

"Wir könnten uns ein bisschen Zeit lassen, weil wir unser Make-up auffrischen müssen …"

Mit einem Fingerzeig auf eine verschlossene Kabine fuhr Swansea fort: "Hier ist nicht der rechte Ort. Ich würde gerne mit dir in Ruhe ein paar Worte wechseln."

"Gerne, vielleicht lässt uns diese Quasseltante einmal alleine, damit wir in einer ungestörten Ecke abseits des Trubels plaudern können."

Die Bürgermeisterin stürzte sofort wieder auf sie zu, nachdem sie in den Festsaal zurückgekehrt waren. Sie erduldeten pflichtbewusst nickend weitere zwanzig Minuten Monolog, ohne finanzielle Zusagen zu machen. Endlich gab sie auf, entschuldigte sich und wandte sich anderen Gästen zu.

Beide seufzten, nahmen ihr Glas in die eine und ein Canapé in die andere Hand und begaben sich in einen ruhigeren Teil des Festsaals.

"Friedrich, was macht deine Firma? Wie läuft das Geschäft?"

"Oh, ich kann nicht klagen, es brummt."

"Cool. Seit unserem letzten Meeting habe ich kaum an euch gedacht."

Friedrich lächelte verständnisvoll, und John fuhr fort:

"Das freut mich wirklich. Vor einigen Tagen hatte ich mit einem Kollegen gesprochen … Boy, wer war das bloß? Ich kann mich nicht an den Namen erinnern. Alzheimer I guess … Dieser Kollege hat mir von Gerüchten erzählt, dass einige eurer größten Kunden - wie sagt ihr? Abspringen wollen. Wenn die Hälfte von dem stimmt, was er gesagt hat, dann habt ihr echte Probleme."

"Da kann ich dich beruhigen, unsere Kunden sind zufrieden wie eh und je. Du hast nicht zufällig mit einem direkten Wettbewerber gesprochen, der bösartige Gerüchte streuen wollte?"

"Nein, nein. Ich habe mit eurer Industrie nicht viel zu tun."

"Weil du es ansprichst, mit unseren Kunden haben wir keine Probleme. Doch es gibt jemanden, der über uns Verleumdungen verbreitet. Es würde mich interessieren, wer dir das erzählt hat."

"Ich werde in meinem Kalender nachsehen, bei welchem Meeting ich das gehört habe. Vielleicht fällt mir dann ein, wer es war. Bei euch ist also alles okay? Keine Schwierigkeiten mit den Kunden oder den Gewerkschaften?"

"Nur das Übliche. Die Gewerkschaften wollen mehr Geld, die Kunden weniger zahlen. Das ist der Lauf der Welt."

Dr. Stuck hielt sich für einen durch und durch ehrlichen Menschen. Im Bedarfsfall konnte er jedoch perfekt lügen, wie eben jetzt. In Wirklichkeit war die Lage dramatisch. Noch hatte es keine Vertragskündigungen gegeben, keiner seiner Kunden wollte der Erste sein. Sobald der Damm gebrochen wäre, erwartete er einen Massenexodus. Für nächste Woche hatte der Gewerkschaftsboss einen Termin mit ihm vereinbart. Er hatte nicht verlautbaren wollen, welche Agendapunkte er besprechen wollte. Dr. Stuck rechnete mit dem Schlimmsten. Insgeheim verdächtigte er John Swansea, der Urheber der rufschädigenden Gerüchte zu sein. Niemals würde er diesem die Genugtuung verschaffen, sich an dem Erfolg seiner Bemühungen zu weiden.

John Swansea seinerseits war überrascht. Die ihm zugetragenen Informationen deckten sich nicht mit den Aussagen von Stuck. Seines Wissens waren die Kunden in Aufruhr begriffen und suchten intensiv nach alternativen Lieferanten. Vermutlich log ihn Friedrich Stuck an, anders konnte er sich das nicht erklären. Seinem Gegenüber das direkt auf den Kopf zuzusagen, verbot sich in Anbetracht seiner geheuchelten Unkenntnis. John blieb nolens volens nichts anderes übrig, als das Thema fallen zu lassen.

Dr. Stuck seinerseits hatte seine Ziele erreicht. Er war sich mittlerweile sicher, dass John Swansea hinter den Gerüchten steckte. Die Antwort auf die klassische Frage cui bono war sehr einfach: Swansea hatte am meisten zu gewinnen. In ihrem Gespräch war zudem sein Interesse zu angelegentlich gewesen, das schnelle Fallenlassen des Themas wirkte unnatürlich und heuchlerisch. Zugleich hoffte er, John Swansea über das wahre Ausmaß seiner Probleme getäuscht zu haben und sah sich als Punktesieger dieser Runde, eine Einschätzung, die Swansea insgeheim teilte.