Lauras Unschuld by Hugo C - HTML preview

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DIE CHINESISCHE MAUER IM SCHLAFZIMMER

Bei diesem Treffen konnte Dr. Stuck keinerlei Risiko eingehen, abgehört zu werden. Was er heute mit Markowski zu besprechen hatte, würde keiner gerichtlichen Untersuchung standhalten. Markowski war sein Mann fürs Grobe, sein vielfach erprobter Filter der Illegalität, der ihn selbst allzeit unbefleckt ließ. Der Charakter der bevorstehenden Aufgabe zwang ihn, den Körnungsgrad des Filters zu erhöhen und seine eigene Verunreinigung zu riskieren. Bereits jetzt fühlte er sich vage schuldbewusst, seine nächsten Handlungen antizipierend. Es überraschte ihn, der sich für einen zutiefst korrekten und rechtskonformen Menschen hielt, welch ein Ausmaß an krimineller Energie der Angriff durch RSS in ihm freisetzte. In den letzten Wochen hatte er zunehmend angefangen, in illegalen Denkmustern zu denken. Seine Handlungsmöglichkeiten limitierten nicht mehr die Gesetze, sondern das Risiko der Entdeckung.

Dies wissend, hatte er den Treffpunkt für den heutigen Tag nicht in seinem Büro vorgeschlagen, bei dem ein Restrisiko bestand, abgehört zu werden. Stattdessen hatte er ein belebtes Freibad gewählt. Jetzt stand er inmitten von Hunderten von Kindern und deren Eltern im Nichtschwimmerbereich. Konstant traten ihn Kinderbeine, und an die in dem Wasser abgesonderten menschlichen Substanzen wollte er nicht denken. Er nahm es in Kauf, denn seines Erachtens war es selbst mit einem Richtmikrofon nicht möglich, in Anbetracht des Störschalls ihrer Unterhaltung zu folgen. Der Zusatznutzen, dass Markowski in dem nassen Umfeld, lediglich mit einer Badehose bekleidet, das Gespräch nicht mitschneiden konnte, war ihm nicht entgangen. Als er seinen Sicherheitschef sah, winkte er ihm kurz zu und Markowski gesellte sich mit sichtlichem Widerwillen zu ihm.

"Einer der Vorteile, keine Kinder zu haben, bestand für mich bis jetzt darin, nicht in vollgepinkelte Kinderbäder steigen zu müssen."

"Sehen sie, ich habe das jahrelang aushalten müssen. Jetzt sollen auch Sie wissen, wie das ist."

Friedrich Stuck sprach mehr aus dem Moment heraus, denn aus tieferer Überlegung. In Wirklichkeit hatte er öffentliche Schwimmbäder nicht zuletzt aus dem von Markowski angesprochenen Grund immer verabscheut. Im Keller seines Hauses hatte er frühzeitig eine Schwimmhalle eingerichtet. Das Schwimmbad, in dem sie sich befanden, kannte er lediglich aus Erzählungen. Der Homosexualität seines Mitarbeiters war sich Stuck bewusst, hatte diese jedoch nie verbalisiert. Im dritten Jahrtausend hätte er Markowski unmöglich deswegen kritisieren können, innerlich billigte er sie nicht. Lediglich in Momenten wie diesem konnte er sich eine kleine Spitze nicht verkneifen.

"Laienhaft gesprochen war ich der Meinung, dass dieser Treffpunkt vom Sicherheitsstandpunkt aus optimal wäre. Hier können wir unmöglich abgehört werden."

"Unmöglich ist ein gewagter Ausdruck, aber das Risiko ist geringer."

Markowskis Respekt vor seinem Vorgesetzten, wie seine anerzogene Hierarchiegläubigkeit, hielten ihn von weiteren Kommentaren ab. Der gemeinsame Besuch eines öffentlichen Schwimmbads des Konzernleiters mit seinem bekanntermaßen schwulen Sicherheitschef würde einige Augenbrauen in die Höhe gehen lassen. Gott sei Dank war Stuck nicht auf die Idee gekommen, dass eine Sauna sicherer wäre. Bei dem Gedanken, dass Stuck, der sicherlich kein erfahrener Besucher öffentlicher Saunas war, irrtümlicherweise ein Treffen in einer schwulen Kontaktsauna mit ihm hätte ausmachen können, konnte sich Markowski ein Grinsen schwer verkneifen.

"Wir sollten nicht auf einer Stelle stehen bleiben. Gehen wir umher, das reduziert das Restrisiko."

Die beiden bahnten sich einen Weg durch die Masse der spielenden, tauchenden und prustenden Leiber. Abwechselnd auf seine Umgebung und auf Markowski schauend, fing Stuck an, zu sprechen:

"Die Lage schaut dramatisch aus. Unsere Kunden werden uns in den nächsten Wochen in Scharen verlassen. Weil eine Katastrophe allein nicht reicht, befürchte ich, dass die Gewerkschaften nächste Woche einen Aufstand organisieren. Wenn uns nicht bald etwas einfällt, kann uns Swansea in zwei Monaten pflücken wie reife Pflaumen. Wir müssen ihm dann sogar dankbar sein, uns aus dem Elend zu erlösen."

Dr. Stuck sagte dies sachlich und leidenschaftslos. Gelegentlich lächelte er, um kein Aufsehen zu erregen. Er hätte Markowski auch erzählen können, dass sein Nachbar eine neue Garage gebaut hätte. Markowski war beeindruckt, nicht schlecht für einen konspirativen Amateur. Stuck hatte Talent.

"Das klingt übel. Ich habe auch Neuigkeiten für Sie. Normalerweise würde ich sagen, setzen Sie sich hin. In Anbetracht der Umgebung würde ich davon eher abraten. Sie hatten mir explizit befohlen, mich mit dem Thema Übernahme nicht weiter zu befassen, und ich habe mich strikt daran gehalten."

Automatisch schaute Markowski sich um, ob diese für die Galerie gesprochenen Sätze Zuhörer gefunden hatten, schien niemanden zu entdecken und fuhr fort:

"Allerdings waren meine Vögelchen weniger gehorsam und haben mir einiges ins Ohr geflüstert. Zu den Kunden kann ich nichts Neues vermelden, außer zu bestätigen, dass die Gerüchte offensichtlich gezielt gestreut werden. Als Urheber ist Swansea zu vermuten. Der Beweis fehlt uns, und ich bezweifle, dass wir ihn je erbringen werden können.

Über Fräulein Krista Hofmann habe ich hingegen Rückmeldungen erhalten. Auf den ersten Blick ist die Dame vollkommen legitim. Sie arbeitet für Meir Huxley und ist derzeit im Frankfurter Büro erreichbar. Mir wurde bestätigt, dass sie in der Tat erst vor einigen Monaten bei Meir Huxley anfing. Kurz vorher hatte sie an einer exzellenten Uni in den Staaten den MBA absolviert.

Was sie uns leider nicht verraten hatte, ist die interessante Tatsache, dass sie letzten Sommer schon einmal sechs Wochen in unserem Städtchen verbrachte. In der Zeit war sie Trainee in der Konzernzentrale von RSS. Unter dem Deckmäntelchen, von einer Headhunter Firma zu kommen und einen Referenzcheck zu machen, riefen wir die Sekretärin von John Swansea an. Die bestätigte, dass Herr Swansea selbst die Dame als Trainee ausgesucht hatte. Sie hätte bei ihm höchstpersönlich gearbeitet, anscheinend zu seiner Zufriedenheit. Zum Inhalt der Tätigkeit wollte sie uns nichts sagen, da es sich um vertrauliche Projekte gehandelt hätte.

Wie bei Swansea ist auch Fräulein Hofmanns Leben vor ihrem MBA Studium nicht ermittelbar. Hingegen wissen wir aus sicherer Quelle, dass sie vor vier Jahren eine Ausbildung an der Militärakademie in West Point beendete. Dass die Amerikaner Deutsche an der Militärakademie studieren lassen, war mir neu, scheint jedoch möglich zu sein. Traditionell ist das den Söhnen befreundeter Diktatoren vorbehalten. Wie Fräulein Hofmann in diesen illustren Kreis gekommen ist, entzieht sich meinem Wissen. Vielleicht hat sie auch die amerikanische Staatsbürgerschaft und stammt aus einer armen Familie. West Point ist der der beste Universitätsabschluss, der in den USA ohne Geld zu haben ist.

Nach dem Bachelor of Science Abschluss im vierten Jahr gehen die Amerikaner üblicherweise zur Army, und die Ausländer treten in die Armee ihrer jeweiligen Vaterländer ein. Bei Krista Hofmann fehlen mir diesbezügliche Informationen. Wir können nur spekulieren, was sie in den zwei Jahren zwischen West Point und dem MBA Studium in Stanford gemacht hat."

Die beiden wurden rüde unterbrochen. Zwei Jungen stießen im vollen Lauf von hinten auf Dr. Stuck und dieser, konzentriert den Ausführungen von Markowski lauschend, verlor das Gleichgewicht und stürzte in das Wasser. Er richtete sich schnell wieder auf, während die Flüssigkeit ihm aus den Haaren strömte. Dr. Stuck drehte sich suchend um, die Kinder waren weitergelaufen, ohne ihn bewusst registriert zu haben.

"Verdammt noch mal, vielleicht hätten wir einen einsameren Platz wie eine Sauna wählen sollen."

Markowski, Schlimmes für ihr nächstes Gespräch befürchtend, warf hastig ein: "In einer Sauna besteht ein hohes Risiko, dass andere Personen in der Kammer sind. In dem Fall könnten wir uns nicht unterhalten."

"Da haben Sie recht." Die nassen Haare mit der Hand in Facon bringend, deutete er ihm, fortzufahren.

"Fräulein Hofmann bleibt uns ein Rätsel. Reiche Töchter robben nicht im Schlamm von West Point, und arme Offiziere besuchen nicht nach zwei Dienstjahren Stanford, so generös ist die Army nicht. Offensichtlich fehlen uns große Stücke im Puzzle."

"Das war im wahrsten Sinn des Wortes ein Schlag ins Wasser. Ich selbst bin durchnässt und die erhaltenen Auskünfte bringen uns nicht weiter."

Dr. Stuck war insgeheim beunruhigt. Die eigentümliche Vergangenheit von Frau Hofmann ließ sein nächtliches Abenteuer mit ihr, zuerst der Unfall und dann die Verführung, in einem gänzlich neuen Licht erscheinen. Besonders die Verbindung von Frau Hofmann und John Swansea veranlasste ihn zum Grübeln. Die beiden kannten sich und hatten in der Vergangenheit beruflich mit dem US-Militär zu tun gehabt. Prostituierte für Geschäftspartner zu engagieren, das war ihm geläufig. Ehemalige Trainees einzusetzen, um Verhandlungsgegner sexuell zu umgarnen, das konnte er sich nicht vorstellen. Allein der Vorschlag könnte Swansea im Handumdrehen vor das Arbeitsgericht befördern, Erfolgsaussichten seiner Verteidigung: Null.

Was, wenn John ein Verhältnis mit Krista gehabt hätte? Junge, ungebundene Damen, die als Trainees kurzfristig in den Unternehmen arbeiteten, waren eine gern gesehene Quelle willigen Fleisches. Im Gegensatz zu einem Verhältnis mit der eigenen Sekretärin hatten diese Beziehungen den entscheidenden Vorteil eines klar definierten Ablaufdatums. Keine der jungen, aufwärts mobilen Damen wollte sofort geheiratet werden. Zumeist war es für sie ein Zeitvertreib in einer ihnen fremden Stadt, in der sie keinen Liebhaber hatten. Sollte sich dies in der Zukunft als Karriere fördernd herausstellen, umso besser, Bedingung war es keine.

Was würde Krista Hofmann machen, wenn sie zufällig in der gleichen Stadt einen Auftrag hätte, in der sie vorher bereits als Trainee gewesen war? Es läge nahe, John Swansea anzurufen, um mit ihm ein Wiedersehen zu arrangieren. Wenn Dr. Stuck die Ereignisse jener Nacht vor und in seinem Haus bedachte, fand er nur eine Interpretation: Hofmann hatte Swansea trotz Interessenkonflikt getroffen. Der Chef von RSS hatte sie überzeugt, ihm zu helfen. Über ihre Motivation konnte er lediglich spekulieren. Entscheidend war, dass Swansea sie umgedreht und auf seine Seite gezogen hatte.

Vermutlich hatte sie in der Nacht seines Unfalls eine Videokamera dabei gehabt und in der Hoffnung laufen lassen, dass er sich in ihr Zimmer begeben würde, um sie zu verführen. In dem Fall hätte sie wohl beabsichtigt, gerade so viel Widerstand zu leisten, dass ein Gericht nicht eindeutig entscheiden hätte können, ob der Akt ihrerseits freiwillig gewesen wäre. Was hatte sie gesagt? "Papa darf mich ruhig bestrafen." Diese Unsicherheit hätte ausgereicht, ihn erpressbar zu machen. Er hätte die Wahl gehabt, die Übernahme zu tolerieren oder von seinem Aufsichtsrat zum Rücktritt gezwungen zu werden. Die Videoaufnahme, die blauen Flecken von Krista und ihre zu erwartende Aussage hätten ausgereicht, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Der Ausgang des Prozesses lange nach erfolgter Übernahme war irrelevant.

"Es gibt einen zweiten Themenkomplex, zu dem ich unerwartete Neuigkeiten berichten kann."

Dr. Stuck schaute Markowski mit hochgezogenen Augenbrauen an: "Und das wäre?"

"Vor ein paar Wochen war ich geschäftlich in einem übel beleumundeten Lokal und hatte eine interessante Begegnung."

Hier log Markowski ungeniert, da sein Besuch absolut nicht beruflich bedingt gewesen war. Sein Privatleben ging Dr. Stuck nichts an.

"Zu meiner Überraschung sah ich in dieser Spelunke Frau Sand in männlicher Begleitung."

Dr. Stuck runzelte verärgert sein Gesicht: "Ja und, warum sollte sie nicht mit einem Mann in ein Lokal gehen, selbst wenn es Ihnen nicht fein genug war? Vermutlich hat ihr Rendezvous einen schlechten Geschmack bewiesen. Ich habe nicht vor, ihr dafür Vorhaltungen zu machen."

"Ich hatte den Eindruck, dass sie die treibende Kraft war. Der Mann fühlte sich in dem Rahmen äußerst unwohl. Die Körpersprache der beiden war eindeutig. Es war der erste Abend, und sie wollte daraus die erste Nacht machen. Sie haben recht, dass diese Beobachtung für sich alleine gesehen nicht bemerkenswert ist. Schließlich geht uns das Liebesleben unserer Mitarbeiter im Prinzip nichts an. Es gibt jedoch eine Fortsetzung.

Unlängst sah ich Frau Sand wieder, in anderer männlicher Gesellschaft. Gestik und Mimik ließen darauf schließen, dass sie schon lange zeit ein Paar waren. Viel länger jedenfalls, als meine erste Begegnung mit ihr in der Kaschemme her war."

Dr. Stucks Gesicht und Stimme verrieten zunehmende Ungeduld, als er scharf entgegnete:

"Gut, wir wissen jetzt, dass sie einen Freund oder Lebensgefährten hat, dem sie nicht immer treu ist. Wenn das ein Problem wäre, müsste ich meine Topmanager fast vollständig austauschen."

Markowski, dem das Liebesleben der zweiten Führungsebene im Detail vertraut war, nickte verbindlich lächelnd.

"Da hätten Sie natürlich recht, wenn ihr Lebensgefährte, denn das ist er mittlerweile, nicht John Swansea wäre. Aus bestimmten Quellen weiß ich, dass die Beziehung seit mindestens zwei Jahren besteht."

Markowski hätte vielleicht etwas mehr Takt aufbringen oder den nicht mehr jungen Dr. Stuck schonender auf die Nachricht vorbereiten sollen. So traf sie ihn gänzlich unvorbereitet. Er blieb stocksteif stehen und blickte Markowski stumm an. Als er sich sicher war, dass dieser jedes Wort ernst gemeint hatte, atmete er tief ein, und griff sich betroffen an den Mund. Sein zuerst aschfahl gewordenes Gesicht wechselte zu einem tiefroten Ton. Ohne auf Markowski oder die Umstehenden zu achten, fing Dr. Stuck an, weit ausgreifend in dem Schwimmbecken auf und ab zu gehen, dabei stumm den Kopf schüttelnd.

Markowski wartete stillschweigend ab, und wich etlichen Kindern aus, die auf ihn zu rannten. Eines dieser Kinder spritzte Dr. Stuck unabsichtlich an, was dieser nicht bemerkte. Schließlich ließ er sich vernehmen:

"Ich bin von Verrätern umgeben. John Swansea scheint mit jedem meiner Teammitglieder ins Bett zu gehen. Fehlt, dass ich mich auf Sie nicht mehr verlassen kann. Ist das so?" Fragend blickte er Markowski an. Dieser erwiderte den Blick fest und schüttelte den Kopf:

"Sie wissen, dass ich durch und durch loyal bin."

Dr. Stuck nickte nachdenklich und murmelte: "Jetzt werde ich tatsächlich einige Runden schwimmen. Das brauche ich, um meinen Kopf freizubekommen. Bitte warten Sie hier. Falls Sie nicht die ganze Zeit im Kinderbecken stehen wollen, kommen Sie in zehn Minuten wieder." Er entfernte sich in Richtung des Sportbeckens, begab sich mit einem eleganten Kopfsprung hinein und fing ruhig und ausdauernd an, seine Längen zu ziehen. Markowski schaute sich um und stellte fest, dass er der einzige Erwachsene in einem Umkreis von fünf Metern war. Zudem war er der einzige Mann im ganzen Becken, der sich nicht um ein Kind bemühte. Er befürchtete, ohne kindliche Begleitung Aufsehen zu erregen. Die Badaufsicht könnte ihn als potenziellen Kinderschänder festhalten und verhören. Seufzend verließ er das Becken und fing in sicherer Entfernung an, auf und ab zu gehen und dabei die Rückkehr seines Chefs zu erwarten. Die Sonne hatte sich mittlerweile hinter den Wolken versteckt, und nass, wie er war, wurde ihm bald empfindlich kalt. Mit den Armen auf seinen Oberkörper einschlagend, fing er an, auf und ab zu hüpfen, um sich zu erwärmen. Er war sich nur zu bewusst, welch lächerliche Figur er abgeben musste. Gelegentlich warf er einen sehnsüchtigen Blick auf Dr. Stuck. Dieser schien Gefallen am Schwimmen gefunden zu haben und machte keine Anstalten, zurückzukehren. Mit Gänsehaut und blauen Lippen kam Markowski auf die rettende Idee, zu joggen. Endlich verließ Dr. Stuck das Sportbecken und schritt in seine Richtung. Als er bei dem schlotternden Markowski ankam, musterte er ihn nachdenklich und offensichtlich befriedigt.

"Jetzt verstehe ich, was Sie vorhin mit Loyalität gemeint haben. Ich vergesse die Zeit und lasse Sie hier eine halbe Stunde nass in der Kälte stehen und sich den Tod holen. Sie harren tapfer und wacker aus, statt sich umzuziehen. Mittlerweile ist das aus der Mode gekommen, wie unsere jungen Damen bewiesen haben. Das nenne ich Nibelungentreue."

Geradezu gerührt klopfte Dr. Stuck ihm auf die Schulter und schüttelte seine Hand. Markowski wurde verlegen und war verwirrt, denn diese Emotionen deutete er richtig als Zeichen der Schwäche bei Dr. Stuck. Dieser war von seiner engsten Umgebung, besonders von seiner im Tochteralter befindlichen engen Vertrauten, verraten worden. Der Schock machte ihm schwer zu schaffen. Markowski war sich nicht sicher, ob Stucks Erschütterung auf Lauras Fehlverhalten oder auf die Erkenntnis seiner fehlerhaften Menschenkenntnis zurückzuführen war. Zu Markowskis Erleichterung machte sich Dr. Stuck auf den Weg zu den Umkleidekabinen und erlaubte ihm, seine Kleidung gegen trockene auszutauschen. Danach begaben sich die beiden wortlos und brütend zu einem Café und setzten sich an einen freien, etwas abgelegenen Tisch.

"Bei Krista Hofmann bin ich mir sicher, dass sie ein schmutziges Spiel gespielt hat. Ich bin froh, dass ich frühzeitig darauf bestanden habe, sie aus dem Projektteam zu entfernen."

Markowski wollte Dr. Stuck nicht daran erinnern, dass er Frau Hofmann erst aus der Arbeitsgruppe eliminiert hatte, als diese ihre Arbeit beendet hatte, und der Schaden bereits angerichtet war.

"Was Frau Sand betrifft, bin ich mir im Unklaren. Einerseits sind die Fakten klar: Sie hatte bereits eine Beziehung mit John Swansea, als ich sie das erste Mal angesprochen habe. Es wäre das einzig Richtige gewesen, mir dies damals klipp und klar auf die Nase zuzusagen, dass sie einen privaten Interessenkonflikt hätte und nicht an dem Projekt mitarbeiten könne. Andererseits will es in meinen Kopf nicht hinein, dass sie eine Verräterin ist. Das passt nicht zu ihr, sie wirkt auf mich zutiefst geradlinig und ehrlich. Wie ich mich so in ihr täuschen konnte!"

"Herr Dr. Stuck, jetzt muss ich Frau Sand verteidigen. Es stimmt, dass Frau Sand ihre Beziehung zu John Swansea damals geheim hielt. Drehen wir das Rad der Zeit zurück. Wenn ich Ihnen vor dem ersten Gespräch mit Swansea erzählt hätte, dass Frau Sand ein Verhältnis mit Swansea hätte, wäre uns das beiden egal gewesen. Es ist ihr Privatleben, und sie ist niemandem Rechenschaft schuldig. Das Ganze wurde erst problematisch, als sie Mitglied im Projektteam wurde."

Markowski vermied mit Mühe den Hinweis, dass die Selektion von Frau Sand als Projektleiterin die Entscheidung von Dr. Stuck gewesen war. "Bei diesem ersten Gespräch mit Ihnen hätte sie Farbe bekennen müssen. Das hat sie nicht getan, und das war eindeutig ein Urteilsfehler. Das heißt aber nicht, dass sie eine Verräterin ist. Sie ist ehrgeizig, und der Auftrag war ein exzellentes Karrieresprungbrett. Sie konnte Ihnen die Information vorenthalten, im Projekt mitarbeiten und gleichzeitig ehrlich bleiben. Alles, was sie dafür brauchte, war eine chinesische Mauer mitten in ihrem Schlafzimmer. Keine witzige Situation in einer ohnehin schwierigen Beziehung.

Vergessen Sie nicht, dass sie sich mittlerweile offiziell mit Swansea in der Öffentlichkeit sehen lässt. Eine Verräterin würde nicht so handeln. Mir scheint das darauf hinzudeuten, dass sie ihren damaligen Fehler korrigieren möchte. Ich würde die Behauptung wagen, dass sie privat nichts über ihre beruflichen Aufgaben ausgeplaudert hat. Für diese Annahme spricht zudem ihr Seitensprung, der auf eine Beziehungskrise hinweist.

Wäre sie eine Spionin in Swanseas Diensten, hätte sie ihr Verhältnis bis zum Ende der Übernahmebemühungen geheim gehalten. Wenn ich Swansea wäre, würde ich den Teufel machen und mir meine beste Agentin verbrennen. Niemals würde ich mich mit ihr im populärsten Businessrestaurant der Stadt vor den Mitarbeitern beider Unternehmen sehen lassen. Viel öffentlichkeitswirksamer kann ich eine Liaison nicht publizieren. Aus sicherheitstechnischen Gesichtspunkten wäre das kompletter Wahnsinn."

Dr. Stuck, der zu Beginn geistesabwesend seinen eigenen Gedanken nachgehangen war, verfolgte die Aussagen Markowskis mit zunehmendem Interesse.

"Vielleicht haben Sie recht und meine Menschenkenntnis ist doch nicht komplett verschwunden. Hatte Frau Sand einen Grund für die Vermutung, dass Sie ihr bereits auf der Spur sind? Dass ihre Enttarnung lediglich eine Frage der Zeit sei?"

Markowski dachte sorgfältig nach und wartete zwei Minuten mit der Antwort, während derer ihn Dr. Stuck wortlos musterte.

"Schwer zu sagen, wie sie den Erfolg meiner Ermittlungen einschätzte. John Swansea hatte ich bereits durchleuchtet. Sie wissen, dass sein Verhältnis mit Frau Sand nicht auf dem Radarschirm auftauchte. Aber konnten die beiden das wissen? Frau Sand hatte für mich niedrige Priorität. Das einzig Auffällige an ihr war ihre absolute Unauffälligkeit. Sie bei einem One-Night-Stand zu ertappen, hat mich überrascht und meine Risikoeinschätzung weiter reduziert. Es verlieh ihr mehr Menschlichkeit. Deswegen hätte ich meine Observationsbemühungen nicht intensiviert, im Gegenteil. Meines Erachtens wäre ich Frau Sand ohne ihr freiwilliges Coming-out nicht auf die Schliche gekommen. "

"Swansea ist ein Profi. Wir sollten davon ausgehen, dass er einen kühlen Kopf bewahrt. Falls Frau Sand seine Spionin wäre, hätte er die Beziehung weiterhin geheim gehalten. Das unterstützt das Argument, dass Frau Sand nicht in böser Absicht gehandelt hat. Gleichzeitig ist sie kompromittiert und als aktives Mitglied unseres Steuerungsgremiums nicht mehr tragbar. Was empfehlen Sie, wie ich mit ihr verfahren soll?"

"Nach Beendigung des Projektes wäre meines Erachtens eine limitierte Disziplinierung wegen Verhehlens bedeutender Fakten empfehlenswert. Dabei sollten Sie nicht vergessen, dass sie in dem Projekt selbst wertvolle Dienste geleistet hat. Viel interessanter ist für mich die Frage, was wir in den nächsten Wochen mit ihr machen sollen. Wir haben den Vorteil, dass wir von ihrem Verhältnis zu Swansea wissen, sie aber von unserer Kenntnis keine Ahnung hat. Bei meinem früheren Arbeitgeber hätte ich sie für Desinformationszwecke genutzt und das sollten wir hier auch versuchen."

"Ich ahne, worauf Sie hinaus wollen. Wie genau stellen Sie sich das vor?"

"Wir müssen den Eindruck vermitteln, dass wir von Lauras Amoure nichts wüssten. Dann füttern wir sie mit Informationen, von denen wir wollen, dass sie diese an Swansea weitergibt. Die gefälschten Daten sollen Swansea zu einer Fehleinschätzung der Situation verleiten."

"Spielen wir das einmal durch. Ich verhalte mich ihr gegenüber, als ob nichts gewesen wäre, richtig?"

"Ganz genau. Am besten laden Sie sie zu einem Treffen ein und besprechen mit ihr die Lage wie früher."

"Eine Herausforderung an meine schauspielerischen Fähigkeiten, ich könnte das hinbekommen. Und was sage ich ihr?"

"Das wird schwieriger. Ihr Hauptproblem besteht in der Ehrlichkeit von Laura Sand. Wenn sie die Dame in Geheimnisse einweihen, die sie Swansea übermitteln soll, steht zu befürchten, dass sie die chinesische Mauer in ihrem Schlafzimmer nicht einreißt. Sie wird sich in großen Gewissenskonflikten wähnen und das als persönliche Belastung wahrnehmen, ohne Swansea davon zu erzählen."

"Wir müssen also in die chinesische Mauer ein Loch sprengen, damit sie zu John Swansea hin durchlässig wird und sie ihm vermeintliche Geheimnisse verrät."

"Genau, wir müssen sie zur Verräterin an unserer Sache machen."

"Das ist kein netter Gedanke, dass wir sie korrumpieren sollen." Dr. Stuck schwieg kurz und fuhr fort: "Hier heiligt der Zweck die Mittel. Schade! Welchen Sprengstoff würden sie empfehlen?"

"Gute Frage, bezüglich der Motivation von Frauen in Beziehungsfragen bin ich Laie. Als neutraler Beobachter würde ich empfehlen, über die emotionale Ebene zu kommen. Die Loyalität, die sie zu Ihnen und zu unserem Unternehmen empfindet, ist der wichtigste Kitt in dieser Mauer, den müssen Sie zersetzen. An LS Technologies können Sie nichts ändern, an Ihrer Beziehung zu Laura Sand schon. Heute schaut Frau Sand zu Ihnen auf und empfindet den größten Respekt, wie wir alle. Diese Wertschätzung sollten Sie vernichten. Wenn Frau Sand Sie als die Verkörperung des Bösen empfindet, wird es für sie psychologisch viel leichter, den Verrat an Ihnen zu rationalisieren."

Friedrich Stuck, der zunehmend der Meinung war, dass sich Markowski von machiavellistischen Fantasien davon tragen ließ, legte seine Stirn in immer tiefere Falten.

"Soll ich Sie zum Abendessen einladen und ihr gebratene Kinder als Dessert servieren, oder reicht es, wenn ich sie nur zu vergewaltigen versuche?"

"So meine ich das nicht. Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie in der Firma eine bedeutende Autoritätsperson sind. Um diesen Respekt zu eliminieren, bedarf es radikaler Maßnahmen. Selbstverständlich darf die Handlung nicht im geringsten kriminell sein, nicht einmal ansatzweise. Nein, ich dachte an etwas, dass Frau Sand emotional verstören würde, für jeden anderen harmlos wäre. Maximale Wirkung mit minimalem persönlichen Risiko für Sie, sozusagen."

"Sie wollen mir weismachen, dass ich mich in einer absolut inakzeptablen und grässlichen Weise verhalten sollte, um meine sonstige Nettigkeit auszugleichen. Ich sehe schon, das ist nichts für mich, trotzdem vielen Dank für den ungewöhnlichen Vorschlag."

Als sie zahlten und gingen, war sich Markowski nicht sicher, ob die entrüstete Zurückweisung seines Vorschlages durch Dr. Stuck Fassade oder Realität war. Er hatte in der Vergangenheit erlebt, dass Dr. Stuck vollmundig unmoralische Verhaltensweisen von sich gewiesen hatte, diese aber im stillen Kämmerlein praktizierte. Schon damals heiligte der Zweck viele Mittel, wenn für Dr. Stuck kein großes Risiko der Entdeckung bestand.