Lauras Unschuld by Hugo C - HTML preview

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KATASTROPHEN

Richard Nemeczek war der stolze Inhaber des größten Büros von LS Technologies, das mit seiner luxuriösen Ausstattung die Vorstandsräumlichkeiten in den Schatten stellte. Der Erfolg war ihm nicht in die Wiege gelegt worden, er hatte sich hart nach oben kämpfen müssen. Seinen Vater hatte er selten gesehen, und das war gut so. Wenn dieser nicht im Gefängnis war, hatte er ihn im Rausch oft verprügelt. Seine Mutter hatte eine blasse Existenz geführt, bis der Krebs ihr einen frühen Tod und ihm die Freiheit schenkte. Das Gericht sprach das Sorgerecht dem Großvater zwei Fahrstunden entfernt zu. Die Distanz schützte ihn vor dem Zugriff des nunmehr obdachlosen Vaters, und der Großvater wurde für die Kinder Mutter und Vater zugleich.

Der Abschluss der Lehre als Zerspanungsmechaniker erfolgte im gleichen Monat wie die vergessene Pille, die ihn zum Heiraten zwang. Der junge Vater wechselte zu Ludwig Steiner Technologien und trat auf Rat des Großvaters dem Betriebsrat bei. Während der Kurs des Unternehmens in den Achtzigern durch mehr Tiefen als Höhen führte, war es für Richard ein erfreuliches Jahrzehnt. Sein Vater starb an multiplem Organversagen, seine Frau brachte nach der erstgeborenen Tochter einen Stammhalter zur Welt. Der einzige Wermutstropfen war das Dahinscheiden seines Großvaters.

Richard kandidierte als Betriebsrat und bewies hervorragende Fähigkeiten als Organisator. Sein taktisches Geschick führte dazu, dass er Stellvertreter des Betriebsratsvorsitzenden und somit dienstfrei gestellt wurde. Bei dessen Eintritt in den Ruhestand war er als Nachfolger gesetzt.

Unmittelbar nach seiner Ernennung besuchte Dr. Stuck ihn, wohlgemerkt ‚besuchte’ und nicht ‚bestellte zu sich’. Um einen ersten positiven Schritt zu setzen, bot er Richard neue, wesentlich großzügigere Räumlichkeiten für den Betriebsrat an. Er meinte, als Leiter des Betriebsrates sei Herr Nemeczek für ihn genauso wichtig wie die anderen Mitglieder der zweiten Führungsebene. Dies sollte sich in der Bezahlung ausdrücken, weshalb er ihm die neu geschaffene Position des Experten für innerbetriebliche Kooperation übertrage. Sein Gehalt würde dem des Personalchefs entsprechen. Selbstverständlich wäre er weiterhin freigestellt, um sich voll und ganz seiner Tätigkeit als Vorsitzender des Betriebsrates zu widmen. Richard zögerte anfänglich, dies klang nach Korrumpierung. Dr. Stuck bemerkte sein Zaudern und erklärte, dieses Arrangement sei immer Usus bei LS Technologies gewesen.

Die weitere Zusammenarbeit mit Dr. Stuck klappte hervorragend. Wenn es zu Spannungen kam, setzten sich die beiden zusammen und kamen zumeist schnell zu einer Einigung. Die meisten dieser Treffen fanden in Richards Büro statt. Nicht nur, weil es größer und schöner als das von Dr. Stuck war, sondern auch, weil dieser gerne Zeichen setzte. Als Richards Wiederwahl nach vier Jahren anstand, gestand Dr. Stuck der Belegschaft in der Vorwahlzeit einige lange umkämpfte Zusatzrechte zu, die seine Wiederwahl absicherten.

In den letzten Monaten erschienen erste Wolken am Horizont der innerbetrieblichen Zusammenarbeit. Richard wurde ein Dokument zugespielt, das anscheinend vom Vorstand der LS Technologies erstellt worden war. In dem Papier wurden potenzielle Maßnahmen dargelegt, die Auswirkungen des drohenden Verlusts großer Kundenaufträge zu minimieren.

Richard Nemeczek war mehrfach erbost. Die Eliminierung von Arbeitsplätzen im Heimatland des Unternehmens war selbst in der großen Wirtschaftskrise Tabu gewesen. Zeitgleich die Kapazitäten in Asien auszubauen, verstieß explizit gegen die internen Vereinbarungen. Nicht durch Dr. Stuck, sondern einen Anonymus informiert zu werden, belastete die Beziehung zudem schwer. Ein Jahr vor seiner eigenen Wiederwahl konnte er das nicht gebrauchen.

"Herr Nemeczek, womit kann ich Ihnen heute dienen?" Ganz jovial war Dr. Stuck eingetreten und hatte Platz genommen, wie bei einem Untergebenen. In der Vergangenheit hatte er ihm jedes Mal die Hand geschüttelt, einige Anstandssekunden gewartet und sich dann erst gesetzt, wie bei einem Gleichgestellten. Richard fand das veränderte Verhalten beunruhigend. Er führte es auf Stress zurück, was seinen Verdacht erhärtete. Gegenüber seinem Gesprächspartner äußerte er in leichtem Plauderton:

"Herr Dr. Stuck, Sie wissen, ich belästige Sie normalerweise nicht mit Gerüchten. Deshalb habe ich mich bisher zurückgehalten, obwohl ich seit Wochen von allen Seiten bombardiert werde. Jedem habe ich gesagt:‚ Dr. Stuck ist ein Ehrenmann und ein aufrichtiger Gesprächspartner. Wenn es etwas zu besprechen gibt, wird Herr Dr. Stuck keinen Moment zögern, den Betriebsrat zu kontaktieren.’

Nun, Sie haben sich nicht gemeldet und somit ging ich davon aus, dass diese Geschichten nicht stimmten. Es hieß, dass eine große Zahl von Kunden kurz davor stünde, die bestehenden Aufträge zu stornieren. Außerdem würden wir sämtliche Neuausschreibungen verlieren. Ich weiß am besten, wie bescheiden unsere Lohnforderungen sind. Das Kostenniveau ist nicht das Problem. Bisher wies ich alle diese vermeintlich verleumderischen Behauptungen entschieden zurück. Letzte Woche erhielt ich dieses Papier, welches das Thema in neuem Licht erscheinen lässt."

Mit einer theatralischen Geste holte er ein Dokument aus einer Aktenmappe hervor und zeigte es Dr. Stuck, ohne die Unterlage aus der Hand zu geben.

"Ich möchte keine dramatischen Reden halten. Unter uns gesagt: Ich war und bin schockiert. Die hier beschriebenen Absichten des Vorstands stehen in krassem Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten. Die Auswirkungen sind erschreckend. Ich bin mir nicht sicher, was mich mehr empört: die geplante Massenvernichtung von deutschen Arbeitsplätzen oder die Heimlichtuerei, mit der dies vorbereitet wird."

Friedrich Stuck kam von einem Anruf mit dem ersten Kunden, der nicht nur seine Unzufriedenheit mit LS Technologies bekundet hatte, sondern tatsächlich den Liefervertrag kündigte. Sein Kopf war gefüllt von den Konsequenzen dieses Lieferstopps, der nicht publik war. Nemeczeks donnernde Stimme signalisierte ihm, dass er sich auf die nächste über ihn hereinbrechende Katastrophe konzentrieren musste. Mit matter Stimme entgegnete er:

"Auf der Titelseite steht, dass dies eine Unterlage für unsere letzte Vorstandssitzung gewesen sei. Das kann ich klar dementieren. Dieser Tagesordnungspunkt stand nicht auf der Agenda, und dementsprechend wurde diese Unterlage nicht verteilt."

Richard Nemeczeks musste sich beherrschen, sitzen zu bleiben und nicht schwer zu atmen. Bei jedem anderen als Dr. Stuck wäre er, doch wollte er sieben Jahre Kooperation nicht in einer Sekunde vernichten.

"Herr Dr. Stuck, im Lauf der Jahre habe ich sehr viele Personalunterlagen des Vorstands gesehen. Dieses Dokument ist echt! Das abzustreiten, ist absurd!"

Dr. Stuck war zunehmend beunruhigt. Er kannte das Papier wirklich nicht, es wirkte aber authentisch. Hatte sein Stab einen Entwurf gemacht, und die Unterlage auf dem Drucker liegen gelassen? Nemeczek setzte nach:

"Laut Titel handelt es sich um eine Entscheidungsvorlage für die Vorstandssitzung letzten Dienstag. Sie wissen genau, dass an diesem Tag eine außerordentliche Geheimsitzung des Vorstands stattfand!"

Dr. Stuck hob beschwichtigend seine Hände:

"Die Sitzung war in der Tat außerhalb des normalen Turnus anberaumt worden, um einige aktuelle Aufträge zu besprechen. Das passiert immer wieder und von einer Geheimsitzung zu sprechen, ist lächerlich. Mindestens dreißig Leute wussten im Vorfeld Bescheid: die Vorstände, die Referenten für die einzelnen Tagesordnungspunkte und deren Sekretariate. In Summe wahrscheinlich näher bei 50 als 30 Menschen."

"Formal entspricht die Präsentation genau den anderen Vorstandspräsentationen: Template, Schriftart und selbst die Beschlussfassung sind korrekt. Sie schaut aus wie andere Vorlagen, liest sich wie andere Vorlagen. Kurz – sie ist echt!"

Dr. Stuck, der das Dokument sorgfältig begutachtete und den Inhalt überflog, stieß hervor:

"Betrachten Sie die Tagesordnung und das Protokoll der Sitzung. Sie werden feststellen, dass das Thema kein Tagesordnungspunkt war und nicht protokolliert wurde."

Nemeczeks Miene wurde höhnisch:

"Wen wollen Sie hinter das Licht führen? Schauen Sie sich die Seite mit der Beschlussfassung an! Da steht ‚Aus Vertraulichkeitsgründen wird empfohlen, den Beschluss nicht schriftlich zu protokollieren‘."

"Ich kann Ihnen garantieren, seitdem ich Vorstand bei LS Technologies bin, hat es nie einen Beschluss gegeben, der nicht protokolliert werden durfte. Wollen Sie mich der Illegalität bezichtigen?"

Unwillkürlich war Dr. Stuck aufgestanden und auch Nemeczek erhob sich. Mit geballten Fäusten standen die beiden einander gegenüber. Dr. Stuck dachte fieberhaft nach, wie er die Wogen glätten konnte. Nemeczek hatte natürlich recht. Das Papier war eine hundertprozentige LS-Vorstandsunterlage. Gleichzeitig kannte er sie nicht, hatte sie auch nicht beauftragt. Es gab nur eine plausible Erklärung: Das Dokument war eine böswillige Fälschung, um Unfrieden mit den Gewerkschaften zu säen. Wer konnte das bloß gemacht haben?

Dr. Stuck fiel siedend heiß der Name "Laura Sand" ein. Sie hatte Zugang zu den Präsentationsvorlagen, kannte die dargestellte Krisensituation und war mit dem Chef des feindlichen Käufers liiert. Kurzum: Sie war das beste Trojanische Pferd, dass Swansea sich wünschen konnte. Ein Streik wäre der Todesstoß: Kundenverluste, Schlagzeilen und der Aktienkurs im Keller. Swansea könnte Almosen an die LS-Aktionäre verteilen und sie würden es mit Handkuss annehmen und ihm auf Knien danken. Es war Zeit, dem Faktum ins Auge zu sehen, dass er sich in ihr getäuscht hatte. Laura Sand war nach John Swansea seine schlimmste Feindin, wobei dieser wenigstens Manns genug war, seine Gegnerschaft offen zu zeigen. Dr. Stuck war im Innersten getroffen von ihrem Verrat.

Was sollte er mit Nemeczek machen? Der stand ihm gegenüber mit breiten Armen, bereit für eine Wirtshausschlägerei. Prolet blieb Prolet, ein Luxusbüro änderte nichts am Menschen, dachte Dr. Stuck. Er gab seinem Gesicht einen betont versöhnlichen Ausdruck und ging um den Tisch zu Nemeczek. Dieser war überrascht. Wollte Dr. Stuck ihn physisch attackieren? Instinktiv ging er einen Schritt zurück. Dr. Stuck ignorierte die ausweichende Bewegung und erhob seinen Arm. Wie ein verschrecktes Kind, das Angst vor dem väterlichen Schlag hat, zog Nemeczek den Ellbogen an und bog den Kopf zurück. Der Generaldirektor tätschelte Nemeczek auf der Schulter und der Betriebsratschef entspannte sich sichtbar.

"Ich verspreche Ihnen, das war eine Fälschung, die mir unbekannt ist. Während wir gesprochen haben, ist mir eine Idee gekommen. Ich glaube, ich weiß, wer sie produziert hat. Derzeit kann ich keine Namen nennen, aber Sie sollen es als Erster erfahren. Zusätzlich vermute ich, dass es nicht die letzte Verleumdung sein wird. LS hat Feinde, die alles versuchen, um Unfrieden bei uns zu erzeugen. Wenn Sie eine weitere Unterlage erhalten, informieren Sie mich bitte sofort. Wir müssen den Übeltätern das Handwerk legen."

Nemeczek war kein vertrauensseliger Mensch. Gesundes Misstrauen war ihm angeboren. Er meinte hingegen, ein guter Menschenkenner zu sein. Dr. Stuck sprach die Wahrheit, dessen war er sich sicher. Zögernd, dann immer begeisterter nickte er und schüttelte Dr. Stuck zum Abschied emphatisch die Hand.