Lauras Unschuld by Hugo C - HTML preview

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SCHAUSPIELER

Laura erlebte die glücklichsten Tage ihres Lebens. Am Morgen wachte sie als Erste auf und beobachtete die entspannten Züge des schlafenden Mannes in ihrem Bett. Mit einem Kuss und einer zärtlichen Umarmung weckte sie ihn und kuschelte sich behaglich an ihn, bis der Wecker läutete. Die Frühstücke verliefen harmonisch, und oft saßen die beiden vor ihrem leichten Mahl, ohne es zu berühren, sich an den Händen haltend. Tagsüber telefonierten sie oft. John nutzte jede freie Minute, sie anzurufen. Sie sprachen mit kindlicher Freude über Belanglosigkeiten, erfreut, einander zu haben. Wenn sein Terminkalender es zuließ, nahmen sie gemeinsam das Mittagessen zu sich, Händchen haltend wie verliebte Teenager.

Am Abend bemühten sich beide, früh nach Hause zu kommen, um einander zu genießen. Manchmal gingen sie weg, viel lieber ließen sie sich von den besten Restaurants der Stadt beliefern und verzehrten die Leckerbissen in den Liebespausen.

Wenn sie die Liebe und das Essen spät am Abend beendet hatten, redeten sie stundenlang miteinander bis einer von ihnen, zumeist Laura, in den Armen des Anderen einschlief. Zunehmend kreisten ihre Gespräche um die Frage, ob es nicht eine gute Idee wäre, Kinder zu bekommen. Laura jubelte innerlich, John schien an dem Gedanken Gefallen zu finden. Sie konnten auch fantastisch miteinander schweigen, wie es Laura mit niemandem anderen gelungen war.

Wie ein Schmetterling flog Laura durch ihr Leben, ihrer bleiernen Stiefel ledig, die sie bisher am lehmigen Erdboden festgehalten hatten. Eines Tages saß sie in ihrem Büro in Gedanken an ihr privates Glück versunken, als ihr Telefon läutete. Frau Semmler kündigte ihr an, dass Dr. Stuck sie gerne sehen würde, ob sie in einer Stunde zu ihm kommen könne? Laura war überrascht, sie hatte Dr. Stuck seit geraumer Zeit nicht mehr gesprochen, seine Existenz nahezu aus dem Gedächtnis gestrichen. Die Wolke der Seligkeit, auf der sie schwebte, zerstob schlagartig, sie der Panik des freien Falls in das Meer der Lügen überantwortend.

Ihr schwante Übles, wenn sie an das bevorstehende Gespräch dachte. Offiziell war das Projekt ‚Schwanensee‘ beendet. Falls Dr. Stuck sie entgegen seinen Gewohnheiten kurzfristig zu sich beorderte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Sie stand auf und ging in dem Raum auf und ab, wie Schlachtvieh vor der letzten Pforte.

Endlich war der Moment gekommen, sich der Schlacht mit Dr. Stuck zu stellen. Als sie das Zimmer der Sekretärin betrat, blickte diese sie routiniert kurz an und widmete sich wieder ihrer Arbeit am Bildschirm. Zwei Sekunden später drehte sich Frau Semmler ruckartig erneut zu ihr um. Mit erstaunten Augen musterte sie Lauras kostspieliges Outfit.

"Mir will scheinen, als ob die Zeit, die Krista Hofmann in ihrem Büro verbrachte, optische Spuren hinterlassen hat. Selbst Ihre Frisur ähnelt ihrer!"

Laura, die tatsächlich zu dem Friseur gewechselt hatte, den Krista ihr empfohlen hatte, errötete unmerklich. Frau Semmler, die über ein feines Gespür für subtile Nuancen verfügte, war ihre Emotion nicht entgangen. Es war Frau Semmler peinlich, ihre Überraschung offenkundig zur Schau gestellt zu haben. Verlegen versuchte sie, Laura zu beruhigen, indem sie "Das steht Ihnen gut" hinzufügte.

Noch etwas hatte sich geändert: Bei ihrem ersten Treffen hätte sie Laura bedenkenlos einen prall gefüllten, offenen Geldkoffer zur Aufbewahrung gegeben. Heute würde sie die Geldscheine nachzählen. Es war nicht nur die Kleidung, die ihr ins Auge stach. Während Laura vor einigen Monaten in Gestik und Mimik einen mädchenhaften Eindruck gemacht hatte, saß ihr jetzt eine erwachsene Frau gegenüber.

Dr. Stuck meldete sich, er wäre bereit, und Frau Semmler geleitete Laura Sand bis zu seiner Tür. Sie wollte sein Gesicht sehen, wenn er die neue Laura Sand zu Gesicht bekäme. Die Miene von Dr. Stuck verriet keinerlei Überraschung, als er Laura in das Zimmer kommen sah. Allerdings musste er sich bei der Begrüßung räuspern. Seine Körperhaltung hatte etwas ungewohnt Steifes an sich, und unbewusst schloss er die Knöpfe seines Sakkos, als er sich erhob, um ihr die Hand zu schütteln. Schnell erlangte er die Fassung wieder, öffnete das Oberteil erneut und setzte sich.

"Es freut mich, sie zu sehen, Frau Sand. Hoffentlich waren Sie seit unserem letzten Treffen produktiv für uns tätig."

"Absolut, Herr Dr. Stuck. Zusammen mit Herrn Fahrlinger habe ich mich um die neuen Entwicklungen im Bereich Interkonnektivität gekümmert. Da sind interessante Anwendungen für uns realisierbar."

"Sehr schön, da wird sich unser Komponentenmanagement freuen. Trotz der vielen Arbeit, die Sie leisten, schauen Sie beneidenswert entspannt aus. Es freut mich, dass ihre Arbeits-Lebens-Balance besser ins Lot gekommen ist, als zu Zeiten von ‚Schwanensee‘. Damals haben wir alle viele Überstunden eingelegt, Sie besonders."

Friedrich Stuck machte eine dramaturgische Pause, vielleicht wollte er Laura eine letzte Gelegenheit geben, ein freiwilliges Geständnis abzulegen. Als er sah, dass sie die Möglichkeit ungenützt verstreichen ließ, fuhr er betont freundlich und jovial fort.

"Ich wollte Sie heute hierher bitten, um Ihnen ausdrücklich für Ihre exzellente Unterstützung zu danken. Ihre Arbeit war vorzüglich und hat uns sehr geholfen."

Er pausierte und betrachtete sie, während er weiter sprach.

"Besonders wichtig für uns war die absolute Diskretion, die, wie sie wissen, leider nicht alle Teammitglieder gewahrt haben. Anscheinend sind Informationen zur Unzeit an RSS geflossen. Da gab es einen viel zu heißen Draht von John Swansea direkt in unsere Räumlichkeiten."

Interessiert, doch neutral sah er sie an. Laura fühlte sich in hohem Maß unwohl in ihrer Haut, die Optik war nicht gut für sie. Dr. Stuck schien von ihrer Beziehung zu Swansea jedoch nicht zu wissen, und in beruflicher Hinsicht hatte sie sich keine Vorwürfe zu machen. Sie schwieg, seiner weiteren Worte harrend.

"Unsere Informationslage bezüglich Frau Hofmann ist dürr, seit unserem letzten Gespräch haben sich keine neuen Fakten gefunden. Juristen würden von ‚Mangel an Beweisen‘ sprechen und ‚Aufrechterhaltung der Unschuldsvermutung‘. Unter uns gesprochen ist es eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme, mit Frau Hofmann keinen Kontakt zu pflegen. Das habe ich Dr. Meier kommuniziert, der Sie herzlich grüßen lässt."

Laura entspannte sich, der Krug der Indiskretion schien an ihr vorüberzugehen. Dr. Stuck schaute sie unentwegt an, als handele es sich bei ihr um ein seltenes und bisher nicht beschriebenes Insekt.

"Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Sand, konnte ich mich in den letzten Monaten nicht dem ruhigen Alltagsleben widmen. Meine Tage waren vorwiegend mit Krisensitzungen gefüllt. Sie haben vielleicht gehört, dass unsere Kunden ein ungewöhnliches Maß an Nervosität gezeigt hatten. Es waren unsinnige Gerüchte im Umlauf, dass die Stiftung ihre Anteile verkaufen würde. Der Käufer sollten die Chinesen sein, zu allem Überfluss ein Autohersteller, der in den europäischen Markt eintreten möchte und unsere Abnehmer konkurrenzieren würde. Unsere Gewerkschaften stünden Gewehr bei Fuß und würden sich auf den Generalstreik vorbereiten. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass das kompletter Unsinn ist. Sie kennen unsere Branche, in der spricht sich das schnell herum und wird von allen für bare Münze genommen.

Lange Zeit hatte ich alle Hände voll zu tun, jedermann davon zu überzeugen, dass dies Humbug ist. Einige unserer Kunden wollten die Verträge mit uns auflösen, und einer hatte uns sogar die Kündigung unterschrieben zugeschickt. Mit viel gutem Zureden und einigen Zugeständnissen habe ich das Gott sei Dank rückgängig machen können.

Die Ereignisse haben mir hingegen eines bewusst gemacht: Nicht nur Lügen glaubt man, wenn sie oft genug wiederholt werden. Das trifft erfreulicherweise im gleichen Maß auf die Wahrheit zu. Mittlerweile habe ich alle beruhigt und kann wieder ein normales Leben führen. Seit zwei Wochen nehme ich am Wochenende meine Tennistermine wieder wahr und nächste Woche habe ich mir einen Kurzurlaub verdient."

Dr. Stuck hätte seinen eigenen Worten gerne geglaubt, doch die Lage hatte sich seit seinem Gespräch mit Nemeczek zugespitzt. Der ersten Vertragskündigung waren zwei weitere gefolgt. Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dies durch Verhandlungen zu begradigen. Auf Basis seiner bisherigen Konversationen waren die Erfolgsaussichten leider denkbar gering. Sein Termin mit Nemeczek hatte ihm wenigstens die Gewerkschaften vom Hals gehalten. Die Lage blieb bedauerlich instabil, jederzeit könnte ein weiterer Sturm hochziehen. Seine Tennisspiele waren Potemkin pur, mit Mühe erhielt er die Fassade eines normalen Lebens aufrecht. Umso wichtiger war die Erscheinung nach außen, die einzige Trumpfkarte in seinem dürftigen Blatt war die mangelnde Publizität all dieser Ereignisse.

Es musste ihm gelingen, Swansea von der Vergeblichkeit seiner Bemühungen zu überzeugen. Beendete dieser seine Verleumdungskampagne, hätte Stuck Chancen, mit kostspieligen Zugeständnissen an seine Vertragspartner den entstandenen Schaden zu begrenzen. Er war sich im Klaren, dass es ausreichen würde, wenn einer seiner Kunden die Kündigung und die vorausgehenden Gerüchte an die Presse durchsickern lassen würde. Die Kettenreaktion würde den Notverkauf der LS Technologies an RSS als Weißen Ritter innerhalb von wenigen Tagen nach Bekanntgabe erzwingen.

Schon jetzt hätte er die rechtliche Verpflichtung, eine ad hoc Meldung zu publizieren, dass die Verträge gekündigt seien. Diese Meldung würde gierig von der Wirtschaftspresse aufgenommen werden und den Weg auf die Titelseiten finden. In Anbetracht der Verhandlungen mit den Kunden hatte er sich selbst großzügig, aber gesetzeskonform, von dieser Verpflichtung befreit. Sollte das Faktum publik werden, war er sich nicht sicher, ob die Kapitalmarktaufsicht seiner Interpretation der Gesetzeslage zustimmen würde.

Sein Einsatz in diesem Pokerspiel stieg mit jeder Runde. Am Anfang war es lediglich um seine Eitelkeit und Unabhängigkeit gegangen. In der nächsten Runde war ein erheblicher Anteil seines Vermögens vom potenziellen Verfall des Aktienpreises betroffen. Diesmal setzte er seine Freiheit und Bürgerrechte aufs Spiel. Mit zumindest einem Fuß stand er auf den Stufen zur Anklagebank wegen Verletzung börsenrechtlicher Vorschriften. Die Spirale des Wahnsinns drehte sich ungebremst nach oben und mit ihr erhöhte sich seine potenzielle Fallhöhe von Woche zu Woche. Ihm graute beim Gedanken, was als Nächstes kommen könnte. Nein, er musste und er würde dieses Rad zurückdrehen, sich zum Beherrscher der Situation machen.

"Das freut mich zu hören, Herr Dr. Stuck. Tatsächlich hatte ich keine Gerüchte gehört. Das will nichts heißen, ich bin immer die Letzte, die von solchem Unsinn erfährt. Schlimm finde ich es, dass dies beinahe zur Stornierung von Verträgen und zu Schwierigkeiten mit den Gewerkschaften geführt hätte. Sie sollten unbedingt nachforschen und die Schuldigen nach Strich und Faden verklagen."

Dr. Stuck war sich nicht sicher, ob sie dies ironisch meinte. Er konnte ihr Gesicht nicht lesen.

"Ich bin froh, Herr Dr. Stuck, dass Sie alles ins Lot gebracht haben und LS Technologies so gut aufgestellt ist, wie vor unserem Projekt und diesen üblen Gerüchten."

Laura sehnte sich nach ihrer Verabschiedung, nicht nur von dieser Sitzung, sondern von ihrer Mitarbeit an dem feierlich zu Grabe getragenen Projekt ‚Schwanensee‘. Von nun an war sie nicht mehr Geheimnisträgerin und konnte unbesorgt mit John sprechen, ohne jedes Wort, das die Firma betraf, auf die Goldwaage zu legen.

"Da bin ich Ihrer Meinung, Frau Sand. Es ist wie in einem alten Western: Die Musik fängt an zu spielen, die Kamera hebt sich, und in der Bildmitte fährt der LS Technologies-Wagen in den Sonnenuntergang und neuen Erfolgen entgegen. Vielen Dank für Ihre Unterstützung!"

"Es war mir eine große Ehre, und ich danke für das Vertrauen, das mir entgegengebracht wurde. Wann immer ich Ihnen in Zukunft helfen kann, stehe ich jederzeit diskret zur Verfügung."

Mit einem gekünstelten Lächeln standen beide auf, schüttelten einander die Hände und verabschiedeten sich. Dr. Stuck war zufrieden, Markowski hatte sich in Laura Sand getäuscht. Es war nicht erforderlich gewesen, sich als Bösewicht zu präsentieren, wie das sein Sicherheitschef empfohlen hatte. Seine angestammte Rolle als wohlmeinender Onkel war besser geeignet. Laura würde die gefälschten Nachrichten über das vermeintliche Wohlergehen von LS Technologies in aller Unschuld an Swansea weitergeben. Vergnügt pfiff er vor sich hin und beschloss, heute früher das Büro zu verlassen und den Sonnenuntergang zu genießen.