Steif umklammerten Laura Sands Hände die Espressotasse, die ihre vor Nervosität kalten Hände wärmen sollte. Während sie wartete, blickte sie sich im Vorzimmer Dr. Stucks um. Es war ein kleiner Raum, nüchtern und funktional eingerichtet, ohne schäbig zu wirken. Er vermittelte den Eindruck eines Unternehmens, in dem jeder Cent umgedreht wird und Funktionalität vor Eleganz kam; passend für einen Autozulieferer. Auf den Melamin beschichteten Möbeln standen geschäftliche Trophäen. Frau Semmler passte gut in das Bild: kaum Make-up, mittleren Alters, die Kleidung mehr praktisch als elegant. Nutzwert vor Attraktivität.
"Herr Dr. Stuck kann Sie jetzt empfangen."
Freundlich lächelnd, die Arme ausgebreitet, trat er auf sie zu und schüttelte ihre Hand.
"Schönen guten Tag, Frau Sand. Es freut mich, Sie zu sehen. Bitte nehmen Sie Platz."
Während Stuck sich setzte, musterte er die junge Frau. Er schätzte sie auf 32, intelligente Augen, dunkelblondes nach hinten gebundenes Haar, graues Kostüm von der Stange, kein Make-up, kein Ehering, unauffällige Kurven. Die Kleidung verbannte alle femininen Aspekte aus ihrem Auftreten. In der Personalakte war der Beruf der Mutter als Gemischtwarenhändlerin angegeben, der Vater verstorben. Laura Sand schien eine ärmliche Kinderstube gehabt zu haben, aus der sie sich hochgearbeitet hatte. Vermutlich hatte sie als Erste in ihrer Familie einen Universitätsabschluss erreicht. Er mochte das, arme Kinder hatten mehr Biss in ihrem späteren Leben.
Bei Durchsicht ihrer Personalakte hatte er nicht verstanden, warum sie in ihren Karriereschritten immer unter ihren Möglichkeiten geblieben war. Nach dem MBA auf der London School of Economics, einer internationalen Eliteuniversität, wären ihr die Türen der großen Investmentbanken und Unternehmensberater offen gestanden. Sie landete bei einer ihm vollkommen unbekannten M&A Boutique in der englischen Provinz. Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland hätte sie bei einem der großen DAX-Unternehmen exzellente Chancen gehabt. Wieder hatte sie sich nicht für die erste Wahl entschieden.
"Was hat Sie zu LS gebracht?"
Die Wahrheit konnte sie ihm unmöglich erzählen. Stattdessen tischte sie ihm die gleichen Märchen auf, die sie dem Personalchef bei ihrem Einstellungsgespräch erzählt hatte.
"Ich war in England Analystin. Aus familiären Gründen wollte ich nach Deutschland zurückkehren. Meine Mutter war krank und ich wollte in ihrer Nähe sein. Das hat sich, Gott sei Dank, mittlerweile erübrigt. Sie ist wieder gesund und aus beruflichen Gründen weggezogen. Mir hat die Arbeit Spaß gemacht und ich bin geblieben."
Lügen, nichts als Lügen, aber keiner konnte ihr das Gegenteil beweisen. Dr. Stuck blickte ihr in die Augen. Sie verheimlichte ihm etwas, dessen war er sich sicher. Ob das für die Aufgabe, die er ihr übertragen wollte, bedeutsam war? Er entschied sich, sie direkt anzusprechen und setzte sein freundliches Onkel-Lächeln auf. Betont harmlos und beiläufig äußerte er: "Ich glaube, Sie enthalten mir etwas vor!"
Sie war entgeistert. Er konnte nichts wissen, und warum hätte es ihn interessieren sollen? Mit professioneller Miene heuchelte sie Überraschung.
"Wie kommen Sie darauf?" Ihr Gesicht hellte sich auf und sie lächelte ein wenig. "Sie haben recht. In den letzten Jahren musste ich etliche Male übersiedeln. Das würde ich mir gerne ersparen."
Er lächelte sie ostentativ an, seine Zweifel verbergend. Ob ein Mann dahinter steckte?
"Mein heutiges Anliegen betrifft nicht Ihre momentane Tätigkeit im Lizenzierungsbereich. Ich benötige Ihre frühere Expertise als Investment Bankerin. Zuerst müssen Sie mir garantieren, dass alles, was hier besprochen wird, unter uns bleibt.”
"Versprochen"
"Vor einigen Wochen ließ mich John Swansea, der Vorstandsvorsitzende von RSS, kontaktieren und bat mich um ein informelles Gespräch. RSS kennen Sie ja, schließlich die größte Firma in unserer Stadt."
Sie nickte betont gelassen. Wäre Dr. Stuck nicht in die Erinnerung an sein Gespräch mit Swansea vertieft gewesen, hätte er realisiert, dass ihre Hautfarbe zum Roten changierte.
"So klein unsere Stadt ist, Swansea hatte ich vorher nie getroffen. Hat mir gut gefallen, Ende 40, absolut No-Nonsense, ziemlich tougher Kerl, sehr geradlinig. Überraschte mich, wie gut sein Deutsch ist.
John vermied es, mich direkt zu fragen, ob wir verkaufen wollen. Vermutlich der Rat seines Anwalts, um eine ad hoc Meldung zu vermeiden. Stattdessen malte er mir eine Welt aus, in der LS von den größeren Kapitalressourcen und Kundenkontakten der RSS profitieren könnte. Ganz zu schweigen vom gemeinsamen Einkauf. Ich halte das für Unsinn. RSS ist ein Stahl-Gemischtwarenladen, was für Synergien sollen wir bündeln?"
Lauras Unruhe steigerte sich mit jeder Sekunde. Dr. Stuck hatte ihre Betroffenheit nicht registriert und fuhr ungerührt fort:
"In Wirklichkeit wird der Kaufpreis entscheiden, aus den Synergien kommt nicht viel. Und genau das sagte ich John Swansea. Unseren Aktionären schulde ich natürliche eine genaue Evaluierung. Schließlich bekommen wir nicht jeden Tag ein Übernahmeangebot. Hier kommen Sie in das Bild, waren ja früher Investmentbankerin. Sie werden das Projekt leiten, Meir Huxley, die unseren Börsengang begleitet haben, werden Sie unterstützen. Ich erwarte in zwei Wochen eine offizielle Stellungnahme”.
Seinem Blick war alles Onkelhafte abhandengekommen. Das Gespräch war laut Körpersprache von Herrn Stuck beendet. Laura nahm dies bewusst nicht zur Kenntnis, die wichtigste Frage hatte sie nicht gestellt.
"Welchen Preis hat Herr Swansea genannt?"
Er lächelte wissend.
"Das möchte ich Ihnen heute nicht sagen, beeinflusst Sie."
In ihrem Büro angekommen, schloss Laura schnell die Türe, setzte sich hin und dachte nach. Sie hatte sich hoffentlich nicht verraten. Falls Dr. Stuck ihre Anspannung bemerkte, hatte er sie hoffentlich auf die Bedeutung der Aufgabe zurückgeführt. Sie brannte darauf, einen bestimmten Anruf zu tätigen. Genau das konnte und durfte sie nicht machen! Wahrscheinlich wäre es das Beste gewesen, Dr. Stuck alles zu erzählen. Jetzt war es zu spät, ein Verdacht würde an ihr hängen bleiben. Ihr Mobiltelefon läutete. Beim vierten Läuten nahm sie das Gespräch widerwillig an:
"Du bist es, ich kann gerade nicht. Können wir heute Abend sprechen? Geht nicht? Schade … OK bis morgen."
Hatte er bemerkt, wie unangenehm ihr sein Anruf gewesen war? Sie konnte es nicht ändern. Hastig wählte sie die Nummer von Dr. Karl Meier, dem Geschäftsführer von Meir Huxley Deutschland.
"Hallo Frau Sand. Dr Stuck sagte mir, dass ich Ihren Anruf zu erwarten hätte. Interessante Geschichte, was?"
"Für Sie ist das wahrscheinlich alltäglich, Dr. Meier. Für mich ist es das erste Mal, dass ich übernommen werden soll."
"Ich verspreche Ihnen, man gewöhnt sich schnell daran. Ehrgeizigen, jungen Mitarbeiterinnen bietet ein großer Konzern viele Chancen."
"Sind Sie dieser Tage für ein persönliches Gespräch verfügbar?"
"Sie erwischen mich auf dem Weg zum Flughafen. Die nächste Woche bin ich bei meinen Kollegen über dem großen Teich. Sie sollten unbedingt meinen Kollegen treffen, Jai Khosla, der leitet die Automotive-Gruppe in Deutschland."
Scheinbar war der Deal zu klein für den großen Meister. Verärgert verabschiedete sie sich. Per E-Mail verabredete sie sich mit Jai für den nächsten Morgen. An diesem Abend blieb Laura viel länger als erforderlich im Büro. Es war niemand da, mit dem sie sprechen oder den ihre lange Arbeitszeit beeindrucken hätte können. Ihr schlechtes Gewissen hielt sie am Arbeitsplatz fest. Sie hatte einen großen Fehler begangen und wusste nicht, wie sie dem Dilemma entkommen sollte. Mit knallender Türe verließ sie als Letzte das Büro.